Die Begeisterung hält sich in Grenzen. Nicht nur beim Pädagogen Pedro, der in der Millionenstadt Recife im Armenviertel Santa Luzia mit sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen arbeitet. Auch Júlia, Valquíria, Everton und die anderen acht Neun- bis Elfjährigen in seiner Gruppe haben keine allzu grossen persönlichen Erwartungen an die Fussball-Weltmeisterschaft – ausser natürlich, dass ihre Seleção im eigenen Land die heiss begehrte Copa zum sechsten Mal gewinnen wird.
Viel versprochen, wenig gehalten
„Am Anfang habe ich mich auf die WM gefreut“, sagt Pedro. „Doch je näher sie rückt, umso deutlicher zeigen sich ihre negativen Auswirkungen.“ Wie die meisten seiner Landsleute hatte der junge Mann gehofft, dass mit den Milliarden, die die nationale Regierung sowie einzelne Bundesstaaten und Städte für das Mega-Ereignis aus der Staatskasse zur Verfügung stellten, nicht bloss prächtige Stadien gebaut, sondern auch längst überfällige Infrastrukturprojekte zum Nutzen der gesamten Bevölkerung in Angriff genommen würden.
Doch viele der angekündigten Vorhaben wurden nur teilweise oder überhaupt nicht umgesetzt. So sollte beispielsweise in Recife, einem der zwölf WM-Austragungsorte, im Zuge der Vorbereitungen das völlig ungenügende öffentliche Transportsystem ausgebaut werden. Jetzt, vier Wochen vor WM-Beginn, ist nicht einmal die Hälfte der Arbeiten fertig. „Das ist nur ein Beispiel dafür, dass die Einheimischen wegen der Copa viele Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen müssen, aber überhaupt nicht davon profitieren“, schimpft Vanessa, die 31-jährige Medienverantwortliche einer hauptsächlich mit Geldern aus Deutschland finanzierten NGO aus dem Bildungsbereich. „Einige Wenige bereichern sich an der WM auf Kosten der grossen Massen. Wen wundert es da noch, dass immer mehr Brasilianerinnen und Brasilianer ihr wenig oder gar nichts abgewinnen können?“
Nur noch die Hälfte will die WM
Die Stimmung hat sich in den letzten Jahren und Monaten tatsächlich verdüstert. Als der Weltfussballverband (Fifa) 2008 das Land des Götterfussballs als Austragungsort der WM 2014 erkor, freuten sich 79 Prozent der Brasilianer darüber. Heute, einen Monat vor dem Eröffnungsspiel in der Wirtschaftsmetropole São Paulo, ist laut den jüngsten Meinungsumfragen nur noch knapp die Hälfte positiv eingestellt, während 38 Prozent sich gegen den sportlichen Grossanlass äusserten.
Massive Kostenüberschreitungen, Korruptionsskandale, Verzögerungen beim Bau der Fussballarenen, teilweise menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, beinahe ein Dutzend tödlicher Unfälle, die für einen Brasilianer mit einem Durchschnittseinkommen praktisch unerschwinglichen Tickets für ein WM-Spiel und das selbstherrliche Gebaren der Fifa haben zu diesem Stimmungsumschwung beigetragen. Bei der WM-Hauptprobe, dem Konföderationen-Cup, kam es im vergangenen Jahr im ganzen Land zu Protesten gegen die WM, und fast immer arteten die Kundgebungen in gewaltsame Zusammenstösse zwischen Demonstranten und Ordnungskräften aus.
Die WM geht vorbei, die Probleme bleiben
Die Riesensumme an öffentlichen Geldern, so lautete der Tenor auf der Strasse, hätte in die dringend erforderliche Sanierung des Gesundheitswesens, ein besseres Bildungssystem und die Bekämpfung der Kriminalität investiert werden sollen, anstatt sie für überteuerte Stadion-Paläste zu verschwenden.
„Die Menschen beklagen sich, dass ihre täglichen Probleme nicht gelöst werden, weil die Regierenden das Geld für die prestigeträchtige WM verwenden“, sagte die Politologin und Soziologin Sonia Fleury von der Fundação Getúlio Vargas in Rio de Janeiro in einem Gespräch mit BBC Mundo Brasil. „Die Spiele sind den Politikern eben wichtiger als eine gute öffentliche Schule oder funktionierende Spitäler“, stellte Vanessa, die Medienfrau, mit resigniertem Unterton fest.
Mehrere nicht näher definierte Gruppierungen haben für die Copa neue Störaktionen angekündigt. Obwohl die Regierung immer wieder betont, dass sie ein umfassendes Sicherheitskonzept entwickelt habe und somit Ruhe und Ordnung gewährleistet seien, rechnen viele Brasilianer mit weiteren Ausschreitungen. „Es werden bestimmt neue grosse Kundgebungen stattfinden, und es käme einem Wunder gleich, wenn es keine Toten gäbe“, sagt Alceu, ein 48-jähriger Ingenieur aus Curitiba, wo vier WM-Spiele ausgetragen werden – sofern der stark verzögerte Stadionbau doch noch rechtzeitig abgeschlossen werden kann.
Angst vor Gewalt
Das Thema Gewalt beschäftigt auch die Kinder und Jugendlichen im Bildungsprojekt in Santa Luzia. Viele von ihnen leben in notdürftig aus Abfallholz und Blech zusammengezimmerten Hütten, die teilweise direkt an den Fluss gebaut wurden. Wenn es regnet – in Recife regnet es oft und jeweils stark – kommen sie kaum zu ihren Wohnstätten, die Ratten hingegen umso leichter. Verbale und körperliche Aggressionen gehören genauso zu ihrem Alltag wie sexuelle Ausbeutung. Für ihre Erzieher ist es deshalb wichtig, dass sie sich mit diesen Thema vertieft auseinandersetzen, gerade auch vor der WM. „Wir wissen, dass nicht alle Touristen nur des Fussballs wegen hierherkommen, sondern auch Sex-Abenteuer suchen“, warnt die Erzieherin Aline (19). „Deshalb ist es nötig, dass wir die Kinder und Jugendlichen über die Risiken aufklären.“
Die zehnjährige Júlia findet es, „toll, dass die WM in Brasilien stattfindet“. „Aber“, fügt sie hinzu, „ich habe auch Angst, dass Fussballfans aufeinander losgehen, Sachen zerstört und dunkelhäutige Spieler von Rassisten beschimpft werden“.
„Die grösste Party der Welt“
Der neunjährige Tiago teilt diese Bedenken nicht. Er ist überzeugt, dass die WM ein grosses Fest wird und demonstriert damit schon beinahe so viel Optimismus wie die Fifa, die ungeachtet aller Proteste noch immer an die „grösste Party der Welt“ glaubt. Auch wenn die Seleção nicht in seiner Heimatstadt spielt, ginge für den kleinen Tiago mit einem Besuch in der Arena Pernambuco ein Traum in Erfüllung. Doch woher sollten seine Eltern das Geld für eine Eintrittskarte nehmen?
Aber selbst die wenigen Glücklichen, die ein Ticket ergattern konnten, müssen einige Mühsal auf sich nehmen, bis sie endlich im etwas ausserhalb der Stadt gelegenen Stadion sind. Auch wenn der Unterricht an den öffentlichen Schulen ab dem 11. Juni eingestellt wird und die Firmen aufgefordert wurden, ihrer Belegschaft an den Spieltagen frei zu geben, um das Verkehrsaufkommen zu reduzieren, ist auf den Zufahrtstrassen zur Arena mit chaotischen Verhältnissen und dementsprechend langen Anfahrtszeiten zu rechnen.
Mit der grossen Kelle angerichtet
Im Stadion drinnen sollte dann aber alles gut funktionieren. Die Arena Pernambuco, eines der schönsten WM-Stadien in Brasilien, wurde fristgerecht fertig. Bei einem Rundgang durch die Anlage lässt schon die grosszügig konzipierte Eingangshalle erahnen, dass – wie auch bei anderen WM-Stadien – mit der grossen Kelle angerichtet wurde. Rund 260 Millionen Franken kostete das imposante Bauwerk, das 44’000 Zuschauern Platz bietet und in dem fünf WM-Partien ausgetragen werden. Alison, ein junger Tourismusstudent im Solde der Stadionverwaltung, führt die Besucher in die VIP-Lounge direkt unter dem Dach. Stolz weist er darauf hin, dass „sich hier auch US-Präsident Obama aufhalten wird, wenn er zum Spiel seiner Nationalmannschaft gegen Deutschland kommt“.
Zum Abschluss steht eine Stippvisite an den Spielfeldrand auf dem Programm. Und selbst der, der bei den Fussballspielen in der Schule jeweils als letzter in eine Mannschaft gewählt wurde, spürt in diesem Augenblick einen Hauch jenes Glücksschauers, den jeden Fussballer übermannen muss, wenn er unter tosendem Beifall Zehntausender in die Arena einmarschiert.
Und wenn Brasilien den Titel gewinnt?
Wer würde das nicht dem kleinen Tiago gönnen? Doch der scheint schon damit zufrieden zu sein, dass ihm die Eltern ein (wahrscheinlich gefälschtes) Trikot der Seleção versprochen haben. Und sollte Brasilien tatsächlich Weltmeister werden, wird er vor lauter Nationalstolz zumindest vorübergehend vergessen, in welch schwierigen Verhältnissen er aufwachsen muss.
Aber auch unter den Millionen Brasilianern, die dem Mammutanlass mit guten Gründen skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstehen, dürfte dann mancher in den allgemeinen Jubel einstimmen. Und in der Stunde des Triumphs gnädig darüber hinwegsehen, dass sowohl die inländischen als auch die ausländischen WM-Spielmacher sich allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz viel weniger vom Sportsgeist und dem Allgemeinwohl als von knallhartem Profitstreben und politischem Kalkül haben leiten lassen.