Der autoritäre Führungsstil in vielen Ländern der Welt wirft die Frage auf, warum viele scheinbar so aufgeklärte Zeitgenossen den Despoten verfallen. Die Frage betrifft eine Relation, muss also zwei Psychologien berücksichtigen, jene des Führers und jene des Anhängers. Was gibt einer Person derart Auftrieb, sich über die anderen aufzuschwingen? Und: Was ist der Antrieb des Anhängers, der sich derart dem verführerischen Einfluss einer anderen Person unterwirft? Welche unheimlichen Kräfte spuken da im Kellergeschoss unserer Psyche?
Max Weber: Die charismatische Figur
Auf die erste Frage gibt es die klassische Antwort eines Soziologen. Max Weber prägte in seinem Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1921/22) den Begriff der charismatischen Figur oder Herrschaft. „‚Charisma’ soll eine als ausseralltäglich (...) geltende Qualität einer Persönlichkeit heissen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch ausseralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer’ gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus ‚objektiv’ richtig zu bewerten sein würde, ist (...) völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den ‚Anhängern’ (orig. kursiv) bewertet wird, kommt es an.“
Damit hat Weber auch gleich den Finger auf die neuralgische Stelle gelegt. Liest man „objektive“ Bewertung nämlich als in der alltäglichen politischen Routine einer Demokratie erprobte Mittel der Bewertung, dann erkennt man, warum der Charismatiker sich meist dadurch zu profilieren sucht, dass er diese politische Alltagspraxis als ineffizient, als „Schlamassel“ diffamiert, nur um sich „ausseralltäglich“ daraus zu erheben und seinen Tross nachzuziehen. Charismatische Figuren sind Symptome unsicherer, unübersichtlicher, unvorhersehbarer politischer Zustände, in denen ein „objektiver“ Bewertungsstandpunkt fehlt. Man sollte deshalb seine Aufmerksamkeit weniger solchen Figuren schenken als vielmehr den Zuständen, denen sie ihr allein durch Macht und Masse „begründetes“ Charisma verdanken. Damit wäre schon viel zu ihrer Entzauberung beigetragen.
Sigmund Freud: Das Ich-Ideal
Auf die zweite Frage gibt es ebenfalls eine klassische Antwort, aus der Psychologie. Sigmund Freud beschreibt in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921), wie eine Person in der Masse eine andere wird. Freud spricht vom „Ich-Ideal“ im Zusammenhang mit dem Verliebtsein. Und er sieht in der Liebe zum charismatischen Führer einen versteckten, umgeleiteten Narzissmus. „Bei manchen Formen der Liebeswahl wird es selbst augenfällig, dass das Objekt dazu dient, ein eigenes, nicht erreichtes Ich-Ideal zu ersetzen. Man liebt es wegen der Vollkommenheiten, die man fürs eigene Ich angestrebt hat und die man sich nun auf dem Umweg zur Befriedigung seines Narzissmus verschaffen möchte.“
Manche halten solche Theorien für typisch Freudsche Verstiegenheit, und ich will hier auch gar nicht erst auf den explikativen Wert der Psychoanalyse eingehen. Das ist ein anderes Thema. Nichtsdestoweniger veranschaulicht das Ich-Ideal ein verbreitetes Phänomen: Die eigenen Vorstellungen, was richtig und was falsch, was erlaubt und was unerlaubt ist, werden sofort plastischer und realer, wenn wir sie an konkreten Personen festmachen können. Der charismatische oder autoritäre Herrscher wird zum personifizierten Ich-Ideal seiner Anhänger. Diese richten den Kompass ihres Verhaltens auf den Pol des Führers aus, oft ausschliesslich. Nicht zuletzt deshalb wirken solche Führer denn auch buchstäblich polarisierend.
Unterwerfung und Grössenwahn
Weniger theoretisierend als Freud ging der britische Psychiater Roger Money Kyrle vor. Er besuchte in den 1930er-Jahren Versammlungen der Nazis und beobachtete die Psychodynamik bei Reden von Hitler und Goebbels. Er stellte dabei einen einfachen Steigerungs-Dreischritt fest: Selbstmitleid, Verfolgungswahn, Grössenwahn. Der erste Schritt besteht darin, im Gefolge ein Gefühl der Erniedrigung, des Ausgenutztseins, der Ohnmacht zu erwecken. In einem zweiten Schritt werden die Verursacher und Missetäter identifiziert und benannt: der „Feind von aussen“, den man für die Übel verantwortlich macht.
Drittens dann preist man eine magische Kur gegen dieses Übel an, die meist darin besteht, dem Gefolge ein Gefühl der Allmacht zu verleihen, wenn es sich nur dem Führer anschliesst. „Jeder Zuhörer fühlte einen Teil der Allmacht in sich selbst. Er wurde in eine neue Psychose befördert. Das herbeigeführte Selbstmitleid ging über in Paranoia und die Paranoia ging über in Grössenwahn“, beschreibt Money Kyrle das Crescendo dieses manischen Aufputschens.
Uneingestandener Machtwille
Wer jetzt Anklänge an aktuelle Politik zu hören meint, halluziniert nicht. Die Jornalistin Gwynne Guilford folgte den Fusstapfen von Money Kyrle in Wahlveranstaltungen der Republikaner 2016. Sie fand den Dreischritt triumphal bestätigt. Trump spielt meisterlich mit den Wünschen seines Gefolges, sich als Teil eines Ganzen zu fühlen, das grösser ist als es selbst. Zuerst weist er hin auf die Erniedrigung, die „Demütigung“ seiner Anhänger: „Wir haben es satt, als Einfaltspinsel behandelt zu werden.“ Dann zeigt er auf die „Schuldigen“, die Linken und Liberalen, und stilisiert sich zum kämpferischen Tribun der „Erniedrigten“: „Zumindest habe ich ein Mikrophon, mit dem ich zurückschlagen kann. Ihr habt keines!“
Schliesslich erfolgt der Zusammenschluss: „Ihr wisst gar nicht, wie gross ihr seid. Ihr wisst nicht, welche Macht ihr habt.“ Volk und Tribun verschmelzen zum Amalgan aus Minderwertigkeitsgefühl, Paranoia und Grössenwahn. In der Gestalt des charismatischen Führers träumt der Ohnmächtige von seiner eigenen Machtposition. Nietzsche hat das – wie so vieles – bereits im 19. Jahrhundert als Menschlich-Allzumenschliches auf den Punkt gebracht: „Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden.“ Der Wille zur Unterwerfung als uneingestandener Wille zur Macht?
Das Gnadentum des Übermenschlichen, das der charismatische Führer oft reklamiert, offenbart seine ganze Doppeldeutigkeit. Es hebt ihn in schwindelnde Höhen, reisst ihn aber auch in tiefste Abgründe. Wenn seine Prophetien und Versprechen sich nicht erfüllen, kann er keine Gnade von Menschen erhoffen. Das Gefolge verzeiht ihm nicht, dass es den Preis der Unterwerfung für ein unerfülltes Erlösungsversprechen bezahlt hat. Es stürzt ihn und wartet auf den nächsten Verführer. Das wirklich Unheimliche an diesem Phänomen ist, dass wir nichts daraus lernen. Das dämonische „Da capo!“ wird also nicht verhallen.
Die Anregung zu diesem Text verdanke ich einem Essay des Philosophen David Livingston Smith: Why We Love Tyrants.