Finanzanalysten und Medien überbieten sich wieder einmal mit Erklärungsversuchen, wieso es weltweit an den Börsen kräftig rumpelt. Ausgerechnet, nachdem doch der Krisengipfel in Brüssel die Europrobleme und der Kompromiss in Washington die Zahlungsprobleme gelöst haben sollten. In Wirklichkeit wurden da natürlich überhaupt keine Probleme gelöst, aber die Frage steht im Raum, wieso bis am Donnerstag relative Ruhe im Wertpapiermarkt herrschte und dann urplötzlich Panik ausbrach. Hat Angst die Gier besiegt, brüllten Trader an den Börsen verzweifelt «verkaufen», zeigten menschliche Emotionen mal wieder ihr hässliches Gesicht? Oder sind gar «die Märkte», offensichtlich Wesen mit eigenem Bewusstsein und empfindlicher Seele, «verunsichert»?
HFT schlägt zu
Natürlich nicht, das sind alles unsinnige und untaugliche Erklärungsversuche von mal wieder auf dem falschen Fuss erwischten Analysten und Journalisten. Eine Wurzel des Übels findet man in Computern. Genauer in Supercomputern, mit denen sogenanntes «High Frequency Trading» (HFT) betrieben wird. Noch nie davon gehört? Sollten Sie aber, denn weltweit finden mehr als 50 Prozent aller Börsengeschäfte so statt. HFT bedeutet, dass superschnelle Computer mit komplizierten Algorithmen gefüttert werden, die dafür sorgen, dass selbst winzige Kursveränderungen im Mikrosekundenbereich zu Minigewinnen führen, die sich aber, dank riesiger Volumina, ganz hübsch aufaddieren. Eines der vielen Produkte aus der Hexenküche der modernen «Finanzingenieure». Deren Ansatz ist bekanntlich, dass angeblich wissenschaftlich-mathematische Formeln das Risiko aus Finanztransaktionen weitgehend herausnehmen und Märkte beherrschbar und kontrollierbar machen. Offensichtlich ist das Gegenteil der Fall.
Reissleinen ...
Während es in den guten alten Zeiten des letzten Jahrhunderts für einen Schwarzen Freitag tatsächlich in Panik geratende Anleger und Händler brauchte, erledigen das heute Bits und Bytes. Natürlich geraten Computerprogramme nicht in Panik, aber in den von ihnen verwendeten Formeln sind beispielsweise sogenannte «stop loss orders» eingebaut. Das bedeutet, dass beim Unterschreiten einer gewissen Schwelle sofort Verkäufe ausgelöst werden, was zu fallenden Preisen führt, was weitere Computer dazu bewegt, die Reissleine zu ziehen, was zu fallenden Preisen führt, was die nächsten, und so weiter. Das alles spielt sich natürlich so schnell ab, dass problemlos ein paar hundert Milliarden Börsenkapital in Rauch aufgegangen sind, bevor auch nur ein Finanzingenieur den Zeigefinger auf die Stopptaste kriegt. Bis am Freitag addierte sich das zeitweise auf einen Verlust von 2,5 Billionen Dollar.
... und Volumen ...
Erschwerend kommt hinzu, dass mit Derivaten, also virtuellen Wettscheinen, und von den Nationalbanken gratis zur Verfügung gestelltem Spielgeld gezockt und gehebelt werden kann, dass es einem beim Zuschauen schwindlig wird. Ich zocke zum Beispiel mit 4 eigenen Millionen und 200 fast umsonst geliehenen, das ist ein handelsüblicher Hebel von 50, in einem ungedeckten Leerverkauf darauf, dass die Bankaktie XY bis morgen 1 Prozent an Wert verloren haben wird, ohne sie, deshalb ungedeckt, vorher kaufen zu müssen. Morgen, so die Wettbedingung eines Leerverkaufs, muss ich sie zum heutigen Preis liefern und kaufe sie dann zuerst um 1 Prozent billiger. Geht meine Spekulation auf, kassiere ich einen Gewinn von rund 2 Millionen. Das sind 50 Prozent Eigenkapitalrendite, in 24 Stunden.
... und fehlende Kontrolle
Bislang haben wir nur vom gewissen Regeln unterliegenden Zockercasino Börse gesprochen. Da es vielen Spekulanten wie beispielsweise Hedgefonds dort aber noch zu gesittet zugeht, gibt es daneben noch sogenannte OTC-Geschäfte, also «over the counter» oder ohne Spielregeln, sowie sogenannte «Dark Pools», Dunkelkammern für Big Players, die ebenfalls keiner staatlichen Überwachung unterliegen. All das verwandelt die heutigen Börsen in ein russisches Roulette, bei dem auch gerne mal mit sechs Kugeln in sechs Kammern gespielt wird. Denn der mit all diesen Hilfsmitteln zockende Bangster weiss, dass der unbedarfte Kleinanleger oder der genauso unbedarfte Verwalter einer mittelgrossen Pensionskasse in der Schweiz, um im Bild zu bleiben, sich als Erster die Pistole an die Schläfe halten muss.
Reiner Dadaismus
Da also weder ein verunsicherter Markt noch in Panik geratende Anleger die aktuelle Stampede an den Börsen ausgelöst haben, sondern in erster Linie Algorithmen in Supercomputern, kann man den modernen Finanzingenieuren zu einem Stück reinen Dadaismus gratulieren. Mit genau den Instrumenten, mit denen sie angeblich Finanzgeschäfte sicherer, kontrollierbarer und rationaler machen wollen, indem Risiko und menschliches Fehlverhalten eliminiert werden, sorgen sie für Chaos, Wahnsinn, Stampede und für den Triumph der Irrationalität. Kräftig geholfen wird ihnen dabei von einem staatlichen Kontrollversagen in geradezu gemeingefährlichen Dimensionen. Und, in erster Linie, durch eine anhaltende verbrecherische Niedrigzinspolitik aller wichtigen Notenbanken der Welt. Denn umso billiger Spielgeld erhältlich ist, umso ungehemmter wird gespielt, gezockt und spekuliert. Dabei schadet auch nicht, dass durch lächerlich niedrige Eigenkapitalvorschriften die Haftung des Zockers äusserst beschränkt, das volumenabhängige Bonusabkassieren aber gigantisch ist.