Der Landsteifen von 70 bis 90 Kilometer Breite, der Aleppo mit der türkischen Grenze verbindet, ist für alle Parteien im syrischen Bürgerkrieg von strategischer Bedeutung:
Für die Aufständischen, weil durch ihn die wichtigste Verbindungsstrasse von Aleppo nach Norden an die türkische Grenze verläuft. Für die Asad-Regierung, weil sie Aleppo mit ihren Truppen einzukreisen versucht. Für den IS weil der Grenzübergang von Jarablus, am Euphrat, den letzten Grenzübergang darstellt, den der IS an der türkischen Grenze beherrscht. Für die kurdischen Kämpfer der YPG (Volksverteidigungskräfte), weil dieser Korridor zwischen den von ihnen beherrschten Gebieten von Kobane im Osten und Afrin im Westen hindurchzieht. Sie wollen ihn schliessen und so ihr Eigengebiet, das sie Rodschawa nennen, vervollständigen. Doch die Türken haben gelobt, dass sie so etwas nie dulden werden.
Vormarsch der Regierungstruppen
Die Regierungstruppen haben anfangs Februar mit russischer Luftwaffenhilfe versucht, den Korridor an seinem südlchen Ausgang abzuriegeln, indem sie ihn vom Marea im Osten nach Azaz im Westen des Streifen durchstiessen. Sie scheinen jedoch nicht in der Lage zu sein, diesen Riegel dauerhaft dicht zu halten. Wie so oft, fehlen der Asad-Regierung die nötigen Truppen.
Vorstoss des IS und Gegenvorstoss der Kurden
Dann hat der IS weiter nördlich eine Offensive ausgelöst, die von Osten nach Westen zielte. Azaz gab ebenfalls ihre Stossrichtung ab. Nun begann am vergangenen Mittwoch eine dritte Offensive von Seiten der kurdisch-arabischen Kampfgruppe, die sich SDF (Syische Demokratische Kräfte) nennt. Sie geht noch weiter im Norden des Korridors von drei Ausgangspositionen am Euphrat aus und zielt auf Menbidsch, eine seit 2014 vom IS gehaltene Stadt sieben Kilometer von der Grenze entfernt und 30 Kilometer westlich des Euphrats.
Der Namen der Stadt wird auf den meisten Karten Menbij oder Manbij geschrieben. Wenn diese neueste Offensive ihr Ziel erreicht, wird Jarablus, der letzte Grenzübergang des IS, von seinem südlichen Hinterland abgeschnitten und die dortigen IS Kräfte wären umzingelt. Die Einwohner von Menbidsch sind zu 70 bis 80 Prozent arabische Sunniten. Die Kurden bilden dort nur eine Minderheit.
Unterstützung durch US-Luftangriffe
Die kurdische Offensive soll nach kurdischen Aussagen bis jetzt neun Dörfer des Distriktes Menbidsch eingenommen haben. Sie wird von der amerikanischen Luftwaffe unterstützt. Diese habe bis jetzt 20 Schläge gegen IS-Ziele durchgeführt. Ein Stadtrat für Menbidsch unter dem Vorsitz eines arabischen Scheichs wurde von den Feinden des IS gebildet und wartet auf Seiten der kurdischen Offensive darauf, in die Stadt einzuziehen.
Nach den Hilferufen, die aus der vom IS gehaltenen Stadt an die Aussenwelt dringen, würden dort beinahe jeden Tag Hinrichtungen durchgeführt. In erster Linie würden Personen verfolgt, die den IS Besetzern als kurdenfreundlich oder als heimliche Anhänger der FSA (Freie Syrische Armee) und der SDF gelten. Solche Personen, so lauten die Hilferufe, würden gefangen genommen, gefoltert, bis sie ihre Zugehörigkeit oder Sympathie zugäben, dann hingerichtet.
Gemischt kurdische und arabische Kämpfer
Es sind die Truppen der SDF, welche diese Offensive ausgelöst haben. Ihnen stehen amerikanische Sondertruppen in kleiner Zahl beratend bei. Die SDF bestehen aus arabischen und aus kurdischen Kämpfern. Sie wurden von den Kurden ins Leben gerufen mit dem Ziel auch arabische Kämpfer an den Aktionen zu beteiligen, die sich in arabisch-kurdisch gemischten oder überwiegend arabischen Gebieten abspielen.
Die Kurden erklären, die Truppen, welche an der Offensive beteiligt seien, bestünden in erster Linie aus Arabern. Doch die syrischen Beobachter der in London beheimateten Gruppe, die sich Observatorium für Menschenrechte in Syrien nennt und über Quellen in Syrien verfügt, sind der Ansicht, die Mehrzahl der Kämpfer seien Kurden. Jedenfalls kann man annehmen, dass die strategische Leitung eher bei den Kurden als bei den Arabern liegt. Doch die kurdischen Offiziere erklären, es stehe bereits fest, dass die Kurden Menbidsch und seinen Distrikt nicht permanent zu halten gedächten. Dies werde Aufgabe der lokalen Araber sein.
Die US und die Türken auf verschiedenen Seiten
Die Sache ist überaus heikel, weil einerseits Amerikaner im Hintergrund an der Offensive beteiligt sind, andrerseits der türkische Staat, ein Nato-Mitglied, unbedingt zu vermeiden gedenkt, dass die kurdischen Kräfte die von ihnen beherrschte Provinz Kobane und die von Kurden bewohnte und verteidigte Enklave von Afar miteinander verbinden und dadurch beinahe die ganze syrisch-türkische Grenze beherrschen.
Kürzlich wurden Videoaufnahmen bekannt, auf denen amerikanische Sondertruppen und Berater der Kurden zu sehen waren, die Abzeichen der YPG (Volksverteidigungskräfte) auf ihren Uniformhemden trugen. Präsident Erdogan äusserte sich darüber erbost und sprach öffentlich von der "Doppelgesichtigkeit" der Amerikaner. Er nahm den Zwischenfall auch zum Anlass, um den Amerikanern zu erklären, Amerika und die türkische Armee sollten gegen den IS zusamenarbeiten "ohne die Kurden". Wenn dies geschähe, so Erdogan, werde der IS in wenigen Tagen besiegt werden.
Ängste der lokalen Araber
Neben den Befürchtungen Ankaras gibt es auch solche der lokalen Araber. Manche von ihnen glauben, die Kurden würden sie dafür "bestrafen", dass sie zwei Jahre lang unter der Herrschaft des IS gelebt hätten. Eine solche Bestrafung würde aus ethnischer Reinigung zugunsten der Kurden bestehen. Solche Befürchtungen, die ohne Zweifel auch von der Propaganda des IS gefördert werden, sind am ehesten zu beruhigen, wenn die arabische Komponente der Offensivtruppen unterstrichen wird.