Der Grossprozess über die vermutete Verschwörung von «Ergenekon» hat zu lange gedauert, und er hat sich allzu weit ausgedehnt. Dies hat dazu geführt, dass er viel von seiner ursprünglichen Glaubwürdigkeit verlor. Ein erstinstanzliches Urteil ist nun endlich gefällt worden nach fünf Jahren der Verhandlungen mit 576 Sitzungen und der Produktion von 39’000 Seiten Prozesspapieren. Die Urteilsbegründungen des Sondergerichtes stehen noch aus. Ein Rekurs beim höchsten Gericht der Türkei ist mit Sicherheit zu erwarten.
«Teilnahme an einer Verschwörung»
Das Gericht, das im Hochsicherheitsgefängnis von Silivri, westlich von Istanbul tagte, hat neun ehemalige Generäle der türkischen Streitkräfte zu mehr als lebenslänglichen Gefängnisstrafen verurteilt. Der bekannteste von ihnen ist General Ilker Basbug (ausgesprochen Baschbu'), der als Generalstabschef aller Waffengattungen die türkischen Streitkräfte von 2008 bis 2010 kommandierte. Total standen 276 Personen vor Gericht, neben Offizieren auch Politiker, Intellektuelle, Journalisten. 21 der Angeklagten wurden freigesprochen. Alle anderen erhielten Gefängnisstrafen, davon zahlreiche lebenslänglich.
Die Anklage dreht sich um eine Verschwörung, die unter dem Decknamen «Ergenekon» durchgeführt worden sei. Ergenekon ist ein Begriff der alt-türkischen Mythologie. Es war der Name eines mythischen Paradieses auf Erden. Hohe Offiziere hätten die Verschwörung gesteuert mit dem Ziel, zuerst innere Unruhen in der Türkei zu provozieren und diese dann dazu auszunutzen, um die regierende AK-Partei zu stürzen. Beweismittel sind in erster Linie Dokumente, die von den Offizieren selbst verfasst worden sein sollen. Darunter sind auch Dokumente auf elektronischen Datenträgern. Die Verteidigung vertrat die Ansicht, diese Dokumente seien gefälscht oder manipuliert worden – was im Falle der elektronischen Datenträger besonders leicht zu bewerkstelligen ist. Bei anderen Dokumenten, sagte die Verteidigung, habe es sich um Übungspläne und Planszenarios der Offiziere gehandelt, die nie als Umsturzpläne gemeint waren.
Gläubige und Skeptiker
Über die Glaubwürdigkeit der Anklagen haben sich längst zwei unverrückbare Meinungen gebildet. Die Anhänger der Regierung akzeptieren sie weitgehend; jene der Oppositionsparteien weisen sie voller Empörung zurück. Den Prozess hat ein Sondergericht mit Antiterror-Auftrag geführt, das neben dieser Verhandlung auch noch einen Parallel-Prozess geführt hat. Letzterer wurde «Vorschlaghammer» genannt, nach einer Verschwörung, die es parallel zu «Ergenekon» gegeben habe.
Das «Vorschlaghammer»-Verfahren wurde bereits im September 2012 abgeschlossen, ebenfalls mit schweren Gefängnisstrafen für die angeklagten Offiziere und Zivilisten. Die Antiterror-Sondergerichte wurden vom türkischen Parlament im vergangenen Jahr geschlossen. Doch für die beiden Grossprozesse wurde eine Ausnahme gemacht; sie wurden weiterhin vor den Sondergerichten verhandelt.
Zu den Besonderheiten dieser Gerichte gehört, dass sie geheime Zeugen vernehmen können, deren Identitäten und Aussagen nicht bekanntgegeben werden. Die Kritiker der Verfahren sagen zudem, die Sonderrichter seien ohnehin durch Regierungsmanipulationen eingesetzt worden.
Politische Prozesse
Obwohl es um den kriminellen Sachverhalt der Verschwörung gegen die legale Regierung ging, waren die beiden Prozesse politischer Natur. Es ging bei ihnen darum, die türkischen Streitkräfte unter die Kontrolle und Aufsicht der gewählten Regierung zu bringen. Zuvor war es rund sechzig Jahre lang umgekehrt gewesen. Seit Atatürks Tod (1938) bis zum Regierungsantritt von Erdogan (2003) hatten die gewählten Regierungen unter Kontrolle der Streitkräfte gestanden. Solange die gewählten Regierungen die gleichen Ziele verfolgten wie die Armee war dies eher eine Zusammenarbeit gewesen. Doch wenn es Divergenzen gab, pflegte die Armee sich durchzusetzen, wenn nötig, dreimal, durch Staatsstreiche sowie zweimal durch Machtworte, die zur Absetzung der Regierungen führten.
Dieses System war mit den Jahrzehnten degeneriert, weil die Geheimdienste der Armee sich immer mehr damit befassten, die zivile Politik zu manipulieren. Zu diesem Zweck bedienten sich die Offiziere auch gelegentlicher Mordanschläge an Personen, die sie als dem Staat schädlich erachteten. Es kam erwiesenermassen auch vor, dass sie in derartigen Mordaktionen mit Berufsmördern der Drogenmafia zusammenarbeiteten.
Der «tiefe Staat»
Dieser ganze Untergrundkomplex wurde von den Türken als der «tiefe Staat» bezeichnet. Es besteht kein Zweifel, dass es ihn gab und dass er als Werkzeug in den Händen der Offiziere diente. Ein Zielobjekt dieses «tiefen Staates» waren die Kurden, deren Autonomiebestreben er abzuwürgen suchte. Dies geschah im Rahmen eines Guerrillakriegs gegen die kurdische PKK, der von 1984 an tobte. Andere Opfer des «tiefen Staates» waren die Linksaktivisten und die islamischen Aktivisten, denen es um mehr Sichtbarkeit des Islams in der offiziell und konstitutionell «laizistischen» Türkei ging oder sogar um eine politische Rolle der Religion.
Die Offiziere sahen sich selbst als die von Atatürk eingesetzten Erben und Wächter des Staates, dessen laizistische Grundlage sie zu verteidigen hatten. Dies wurde zum Zentralpunkt ihres Streites mit der pro-islamischen Partei Erbakans, der Vorgängerpartei der heute regierenden Partei Erdogans, und später – nach deren Wahlsiegen – mit der AKP Erdogans selbst. Es gab Augenblicke beim Aufstieg Erdogans, in denen die Armee nahe daran war, ihn abzusetzen.
Verschwörung oder nur Opposition?
Vor diesem Hintergrund ist es nicht unwahrscheinlich, dass es tatsächlich Verschwörungen unter den Offizieren gab, besonders unter jenen mit starker politischer Überzeugung im Sinne des Kemalismus (der Ideologie Atatürks). Doch trotz den nun erfolgten scharfen Verurteilungen ist vorläufig unklar, wie diese Verschwörungen genau aussahen, wer inwieweit beteiligt war und wo die Grenzlinien zwischen Gesinnungsgenossen der Angeklagten und krimineller Beteiligung an Verschwörungen wirklich lagen. Die Gesinnung war immerhin die, welche vom Staatsgründer Atatürk stammte und während mehreren Generationen als die hoch gepriesene ideologische Basis der modernen Türkei diente.
Man kann hoffen, dass die Urteilsbegründungen vielleicht noch etwas mehr Klarheit bringen. Doch sollte man nicht allzu optimistisch sein. Der Prozess ist dermassen verzweigt, verwickelt, zerdehnt und umstritten, dass ein klarer Durchblick wohl kaum zu erreichen sein wird. Wozu noch kommt, dass Teile der Beweisführung auf «Geheimaussagen» beruhen.
Generell Regierungsgegner im Visier?
Vermutete Einzelheiten und angebliche Enthüllungen lagen in den ersten Jahren, als die Prozesse noch jung und politisch brisant waren, massenweise vor. Doch die türkischen Zeitungsleser sind ihrer müde geworden. Die politisch Interessierten haben Stellung bezogen. Sie sind entweder Parteigänger der Regierung oder solche der angeklagten Offiziere geworden. Die Regierung selbst stellt sich offiziell auf den Standpunkt, sie habe nichts zu den gerichtlichen Entscheiden zu befinden. Die Gerichte seien unabhängig. Doch dies wird allgemein als ein Vorwand gesehen. Jedermann weiss, die Regierung Erdogans hat den Offizieren durch die Prozesse den Meister gezeigt. Sie hat gleich auch noch einige ihrer schärfsten Kritiker in den Medien mit verurteilen lassen.
Die Regierungsanhänger billigen dies. Ihre Kritiker sind empört über den Schaden, den die Armee und auch das Ansehen der türkischen Gerichte erlitten haben. Sogar bei Vertretern der Regierungspartei ist eine gewisse Verlegenheit zu bemerken. Manche betonen, das Urteil unterliege ja jedenfalls noch einer Revision durch das Höchste Gericht.
«Unrechtmässig», erklärt die Opposition
Kemal Kiliçdaroglu, der Chef der wichtigsten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei, wie die Armee eine Erbin des Ideengutes Atatürks, erklärte: «Die Urteile der Sondergerichte sind nicht legitim, weder aus dem legalen, aus dem moralischen noch aus dem politischen Gesichtspunkt. Die Urteile dieser Gerichte sind ungesetzlich.» Er fügte hinzu: «In Demokratien werden die Personen, die mit der politischen Autorität verbunden sind, nicht von Sondergerichten abgeurteilt, sondern von regulären, unabhängigen Gerichten, die die Herrschaft des Gesetzes hochhalten.»
Auch der Chef der zweitgrössten Oppositionspartei, der Türkischen Nationalen Partei, Bahçeli, hat die Urteile als «politisierte Justiz» verworfen. Er klagte auch, durch die Prozesse würden die türkischen Streitkräfte «gefährlich geschwächt, angeschlagen und erniedrigt».
Von der Politik überholt
Die allzu lange Dauer und die Ausdehnung des Prozesses ins beinahe Unbegrenzte haben bewirkt, dass das Urteil nun in eine Epoche fällt, die sich von jener der ersten Prozessjahre stark unterscheidet. Damals stand Erdogan in der Defensive gegen die Kritik der Nationalisten und den Druck der Armee. Heute jedoch sind es neue Kräfte, die sich gegen den türkischen Regierungschef zu Wort melden: die Jugendlichen des Mittelstandes, die den autoritären Regierungsstil des Starken Mannes der Türkei kritisieren und versuchen, durch Demonstrationen ihre Kritik auszubreiten.
Die Kritik an den Urteilen, Ausdruck der staatlichen Macht mindestens ebenso sehr wie des Rechtes, fliesst nun ein in die neue kritische Strömung, bei der es nicht mehr um die Stellung des Islams in der Staatsgemeinschaft geht, sondern vielmehr um ein liberaleres Verständnis von Demokratie. Die neue Forderung der türkischen Jugend lautet heute: nicht einfach «alle Macht für den Gewählten», sondern «Mitspracherechte für alle Gruppierungen und Schichten der vielfältigen türkischen Gesellschaft!»