Als wäre der Präsidentschaftswahlkampf nicht verrückt genug, geht in Amerika eine neue Krankheit namens „Trump-Angst“ um. Psychologen berichten, sie sähen in ihren Praxen Patienten, die unter Angst vor Donald Trump litten. Der Kandidat, berichtet ein Psychologe in Washington DC, verstöre Leute, die ein Leben lang gelernt hätten, anständig zu reden, niemanden zu drangsalieren und sich nicht über Leute anderer Hautfarbe lustig zu machen: „Wir haben diese sozialen Standards und er bricht sie alle und hat erst noch Erfolg. Und die Leute fragen sich, wieso er ungestraft davonkommt.“
Laut einer jüngsten Umfrage von „Washington Post“ und „ABC News“ sagen 69 Prozent aller Amerikanerinnen und Amerikaner, die Vorstellung, Donald Trump könnte Präsident werden, ängstige sie. Als der Kandidat am 1. März („Super Tuesday“) Sieg an Sieg reihte, mehrten sich auf Google Anfragen „Wie kann ich nach Kanada auswandern?“ um 350 Prozent – zur Freude eines Disc Jockeys in Cape Breton (Nova Scotia). Dessen Website, die Amerikaner zum Umzug über die Grenze einlädt, verzeichnete innert weniger Wochen 100‘000 mehr Hits als im ganzen Jahr zuvor. Noch ist es allerdings zu früh, um die Koffer zu packen.
Rennen bei Republikanern offen
Nach Vorwahlen in 24 US-Staaten und Territorien führt bei den Republikanern Donald Trump mit 446 Delegiertenstimmen vor Senator Ted Cruz mit 347. Um im Sommer in Cleveland (Ohio) als Präsidentschaftsbewerber der Partei gekürt zu werden, braucht ein Kandidat 1‘237 Stimmen. Hinter Trump und Cruz folgen abgeschlagen Senator Marco Rubio mit 151 und Gouverneur John Kasich mit 54 Delegiertenvoten.
Gleichzeitig liegt bei den Demokraten nach 22 Urnengängen Hillary Clinton mit 1‘120 Stimmen (inklusive jener von sogenannten Superdelegierten, die sich in den einzelnen Staaten frei für einen Kandidaten entscheiden können) vor Bernie Sanders mit 571. Um im Juli am Parteikongress in Philadelphia (Pennsylvania) gewählt zu werden, sind 2‘383 Delegiertenstimmen erforderlich.
Wichtig ist nun der Ausgang der Vorwahlen vom 15. März, wenn in fünf grösseren Bundesstaaten – unter ihnen Florida, Illinois und Ohio – sowie in einem Territorium (Marianen-Inseln) gewählt wird. Wer dann kräftig absahnt, dürfte im verbleibenden Wahlkampf kaum mehr einzuholen sein.
Wie Trump verhindern?
Auch nach dem jüngsten Urnengang vom 8. März dominiert Donald Trump in den USA die Berichterstattung. Gefragt wird in erster Linie, ob und wie allenfalls der New Yorker Unternehmer noch zu stoppen sei. Die Hoffnung des republikanischen Parteiestablishments richtet sich inzwischen auch auf den Parteikongress in Cleveland.
Die Strategie zielt dabei darauf ab, Trump in den restlichen Vorwahlen so zu schwächen, dass er bis zum Juli nicht die nötigen Delegiertenstimmen hinter sich scharen kann. Würde das eintreten, wären seine Delegierten in Cleveland nur im ersten Wahlgang an ihn gebunden. Danach wären sie frei, irgendeinem Kandidaten die Stimme zu geben, und das unschöne Feilschen um ihre Gunst würde beginnen. Zum letzten Mal hat es bei den Republikanern 1976 eine „brokered convention“ gegeben. Damals siegte am Ende Gerald Ford gegen Ronald Reagan.
Um Donald Trump nachhaltig zu schaden, haben sich auf republikanischer Seite diverse politische Aktionskomitees (PAC) gebildet. Das führende Komitee, von der Milliarden schweren Familie Ricketts finanziert, nennt sich „Our Principles“ und will in Florida mit einer Strategie „surround sound“ (Ton von allen Seiten) mehr als drei Millionen Dollar ausgeben – für Werbung im Fernsehen und im Internet, für Emails, Telefonanrufe und Wahlprospekte. Gleichzeitig plant ein Aktionskomitee namens „American Future Fund“ Ausgaben in der Höhe von 2,75 Millionen Dollar, um den führenden Republikaner zu sabotieren.
Alle diese Massnahmen sollen helfen, Trump in Florida, wo seine Unterstützung laut Umfragen nachlässt, als nicht wählbar darzustellen. Ähnlich will „Our Principles“ bis Mitte März in Ohio vorgehen. Dort soll der Gouverneur des Staates, John Kasich, auf Kosten Donald Trumps gestärkt und zum Sieg gepuscht werden.
„Backpfeifengesicht“ Cruz
Indes dürfte in Florida diese Strategie Ted Cruz nützen, weil sie ihn davon befreit, selbst mit hohen Kosten Trump attackieren zu müssen. Sie erlaubt ihm, seine Angriffe auf Marco Rubio zu konzentrieren, dessen Wahlkampf wohl zu Ende ist, falls er in seinem Heimatstaat nicht siegt.
Dagegen dürfte Cruz kaum schaden, dass ihm in der Zeitschrift „Psychology Today“ ein Neurologe, der das Gesicht des Kandidaten analysiert hat, ein „Backpfeifengesicht“ bescheinigt – Ausdruck des Umstands, dass der aalglatte Cruz, den kein einziger seiner republikanischen Kollegen im US-Senat unterstützt, ausser für Evangelikale nicht gerade ein Sympathieträger ist. Ted Cruz, scherzt Vizepräsident Joe Biden, sei eine Inspiration für alle Kinder in Amerika, die sich sorgten, sie würden sich nie als Präsident bewerben können, weil sie so unbeliebt sind.“
Gründe für Trumps Erfolg
Eine interessante Erklärung für den Erfolg Donald Trumps liefert der Politologe Thomas Frank, der 2004 das vielbeachtete Buch „What’s the Matter with Kansas?“ publiziert hat – eine Untersuchung, weshalb Amerikanerinnen und Amerikaner bei Präsidentenwahlen häufig gegen ihre ureigenen Interessen stimmen. Frank bezweifelt die Einschätzung vieler Kommentatoren, wonach die meist weissen und wenig gebildeten Anhänger Trumps schlicht Rassisten und Heuchler seien.
Der Politologe ist nach dem Studium etlicher Trump-Reden zum Schluss gekommen, dass der Kandidat zwar durchaus rassistische Töne anschlägt, aber eben nicht nur. Wichtig für Trump und seine Wähler sei auch das Thema Handel, etwa ein Freihandelsabkommen wie Nafta, das es US-Unternehmen erlaubt, Arbeitsplätze profitabel ins Ausland zu verlagern – ein Umstand, den auch Amerikas Linke kritisiert. Weitere „linke“ Themen, die Trump aufgreift, sind seine Kritik an der einheimischen Pharma- und der Rüstungsindustrie, die dank starker Lobbys beinahe ungehindert geschäften könnten.
„Freihandel ist ein Thema, das Amerikaner je nach ihrem sozio-ökonomischen Status polarisiert“, schreibt Thomas Frank: „Für Akademiker, d.h. für die grosse Mehrheit unserer Journalisten, Ökonomen, Bundesbeamten und demokratischen Strippenzieher, ist, was sie ‚Freihandel‘ nennen, etwas so offensichtlich Gutes und Nobles, dass es keiner weiteren Erklärung oder Untersuchung bedarf.(…) Für die übrigen 80 bis 90 Prozent der Amerikaner aber bedeutet Freihandel etwas ganz anderes.“
Zusammenhang mit De-Industrialisierung
Zwar zweifelt Frank nicht daran, dass Trump ein Rassist ist. Er erklärt sich das Phänomen seines Aufstiegs aber anders: „Eine Karte, die zeigt, woher seine Unterstützung kommt, mag sehr wohl mit rassistischen Google-Anfragen übereinstimmen, aber sie deckt sich noch genauer mit De-Industrialisierung und Hoffnungslosigkeit, mit jenen Gebieten wirtschaftlichen Elends, das 30 Jahre des Konsens in Washington in Sachen Freihandel dem übrigen Amerika beschert haben.“
Wer mit weissen Anhängern Trumps aus der Arbeiterklasse spreche, so Frank, finde heraus, dass die Lage der Wirtschaft und die Zukunft des Arbeitsplatzes ihre grösste Sorge sei. Das bestätigen Ergebnisse einer Umfrage, die ein Aktionskomitee des amerikanischen Gewerkschafsdachverbandes (AFL-CIO) zur Jahreswende durchgeführt hat. „Die Leute sind eher ängstlich als heuchlerisch“, folgert Karin Nussbaum, die Leiterin von „Working America“. Die Befragung bestätige, was sie oft höre: „Die Leute haben es satt, es geht ihnen schlecht, sie sorgen sich, dass ihre Kinder keine Zukunft haben.“
Realitätsverweigerung der Liberalen
Thomas Frank hält fest, dass viele Zeitgenossen es nicht schafften, der Realität ins Auge zu sehen. „Wir können nicht zugeben, dass wir Liberalen Mitverantwortung tragen dafür, dass es so weit gekommen ist, für den Frust von Millionen amerikanischer Arbeiter, für ihre ausgebluteten Städte und ihre abwärts taumelnden Existenzen. Umso einfacher ist es, sie für ihre verqueren rassistischen Überzeugungen zu tadeln und unseren Blick vor jener klaren Realität zu verschliessen, für die Trumpismus nur ein primitiver und hässlicher Ausdruck ist: dass der Neoliberalismus gründlich und wahrhaftig versagt hat.“
Auch Matt Taibbi, der scharfzüngige Kommentator des „Rolling Stone“, hat festgestellt, dass sich unter den Anhängern Donald Trumps etliche Gewerkschafter befinden, die aufgrund der Tradition eigentlich demokratisch wählen müssten. Sie wüssten von Bernie Sanders lediglich, dass er ein Sozialist sei. Von Trump aber hätten sie schon viel gehört: „Ein riesiger Teil jener versteckten Geschichte, die Donald Trump betrifft, ist der Umstand, dass er die selben Dinge kritisiert wie Bernie Sanders. Die beiden Männer sind zwar das pure Gegenteil von einander – Sanders sorgt sich um die Armen, während Trump im Rettungsboot ein Kind aufessen würde –, aber sie fokussieren beide wie ein Laser auf die korrupte Rolle, die das Geld in der Politik spielt.“
Etablierte Kräfte faul geworden
Kommt es im Herbst zum Kampf zwischen Hillary Clinton und Donald Trump um den Einzug ins Weise Haus, so wird der republikanische Kandidat laut Taibbi die Clintons aufgrund der vagen Verschwörungstheorie attackieren, die er im Wahlkampf kolportiert hat: Hillary und Bill würden eine Arbeiterpartei vertreten, welche die Arbeiter im Stich lässt, und die Präsidentschaft erneut in ein grosses Unternehmen verwandeln, das gegen Geld Zugang zur Macht verkauft. Und die Clintons würden keine Kritik aufkommen lassen, indem sie Washington zu East Hollywood und aus Arbeiterführen und Journalisten blauäugige Höflinge machten.
„Das Dreigespann aus grossen Medien, grossen Spendern und grossen politischen Parteien hat bisher jegliche Herausforderung seiner Autorität gemeistert“, schreibt Matt Taibbi: „Wie jede Aristokratie aber ist das Trio über die Jahre faul und verschwenderisch geworden, zu sicher in der Annahme, das Volk liebe es. Jetzt ist es schockiert, dass Wähler in heruntergekommenen früheren Industriestädten nicht mehr für ‚konservative Werte‘ stimmen oder dass Gewerkschaftsmitglieder, die mehrmals unter den Folgen von Freihandelsabkommen zu leiden hatten, nicht mehr wie auf Befehl demokratisch wählen.“
Quellen: „The New York Times“; „The Washington Post“; „The New Yorker“, „New York Magazine”; „Rolling Stone“; „The Guardian”; „Financial Times”.