Auslösender Anstoss war der Wunsch nach einem grossen Ausstellungsvorhaben, der von der Schweizer Botschaft in Santiago de Chile aus Anlass des 200 Jahr-Jubiläums Chiles an die chilenisch-schweizerische Künstlerin Ingrid Wildi Merino herangetragen wurde. Wildi Merino entwickelte, zusammen mit 14 Künstlerinnen und Künstlern aus Chile und Europa, mit Geduld und Engagement ein anspruchsvolles Projekt zum Thema Dislocación. Das Projekt erlebte 2010 seinen Start an verschiedenen Örtlichkeiten der chilenischen Hauptstadt und wird nun mit der Berner Ausstellung zum ersten Mal in Europa gezeigt.
Dislocación heisst mehr als Migration
Das Wort Dislocación bedeutet im Spanischen weit mehr als das deutsche „Dislozierung“. Nicht nur eine örtliche Verschiebung ist damit gemeint, sondern auch, im medizinischen Sinne, Verrenkung, ja, Ausreissen von Gliedmassen – im gesellschaftlichen Sinne also verschobene oder verrenkte Gemeinschaften und Abläufe, die aus dem Lot geraten sind. Als Hauptfaktor wurde im Projekt der Einfluss der neoliberalen Wirtschaftspolitik benannt, der gigantische Verschiebungen von Menschenmassen und deren Lebensumstände bewirkt. Die hier am Beispiel Chiles aufgezeigten Entwicklungen lassen sich weltweit beobachten. Hinter dem leider schon zum Allerweltswort gewordenen Begriff „Migration“, bei dem wir ja schon fast geneigt sind, wegzuhören, da er zu oft gebraucht wird, verbirgt sich inzwischen millionenfaches und andauerndes Leid bis zum Identitätsverlust
Künstler, welche gewohnt sind, entpersönlichte statistische Zahlen zu hinterfragen, erforschen aber hinter den anonymen Fakten vor allem die einzelnen Menschenschicksale innerhalb der sie umtreibenden Kräfte, die wiederum zum Synonym für den Bewusstheitsstand einer Region oder eines ganzen Staates werden. Allen beteiligten Künstlern und Künstlerinnen ist gemeinsam, dass sie seit Jahren eine geschärfte Wahrnehmung für die gesellschaftspolitischen Veränderungen und deren Auswirkungen entwickelt haben. Kunst ist schon lange nicht mehr nur zwei- oder dreidimensionales Abbild realer oder geistiger Imagination. Immer mehr Künstler haben vor allem innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte die ihnen zugewiesene Aufgabe erkannt, unsere sogenannte Wirklichkeit zu erforschen, sie auf eine den Beschauern zugängliche Art und Weise zu benennen und damit die Menschen aufzurütteln, um einen etwas altmodischen Ausdruck zu gebrauchen.
Ein filmischer Essay über Chiles Norden
"Dislocación" ist eine Gruppenausstellung. Zuerst genannt werden muss natürlich das Projekt der Ausstellungskuratorin Ingrid Wildi Merino: Der filmische Essay „Arica und Chiles Norden – Nicht-Ort und Ort für alle“ erforscht das aufgezwungene multikulturelle Zusammenleben von Menschen, die in dieser nördlichsten Region Chiles, zum Teil in einer wüstenähnlichen Umgebung, durch staatliche Regulierung und territoriale Ausweitung eine neue regionale Identität entwickeln müssen. Die Künstlerin widerspricht damit der oft vertretenen Ansicht, dass Identität nichts oder kaum etwas mit dem Territorium des Menschen zu tun habe.
Linke Sprache/Rechte Sprache
Auf eine besondere und sublime Art und Weise nähert sich dem Thema Identität der Chilene Bernardo Oyarzún Ruiz mit der Video-Installation „Lengua izquierda / Linke Sprache“. Mündlicher Ausdruck ist mehr als nur definierter Sprachgebrauch. Deshalb können auch viele Begriffe schlichtweg nicht übersetzt werden. Auf der einen Seite benennt Oyarzún die Sprachen der Kolonialherren (spanisch, französisch, deutsch, englisch) als die „Rechte Sprache“. Die „Linken Sprachen“ sind die indigenen Idiome Amerikas, alles bereits verlorene oder vom Aussterben bedrohte Sprachen. Die mentalen Unübersetzbarkeiten gehen zum Beispiel so weit, dass im August 2005 Vertreter des Volkes der Mapuche einen Brief an Bill Gates schickten, in dem sie gegen das Vorhaben von Microsoft protestierten, ein Windows-Betriebssystem in ihrer Sprache Mapudungun zu entwickeln.
Nationalstadion und Konzentrationslager
Wer heute Chile sagt, denkt unweigerlich auch an den Militärputsch von Augusto Pinochet gegen die demokratische Regierung von Salvador Allende am 11. September (sic!) 1973. Die unvorstellbar grausamen Ereignisse mit ihren Tausenden von gefolterten und verschwundenen Menschen haben sich im chilenischen Bewusstsein tief eingegraben. Erinnerung wird immer auch heraufbeschworen durch die architektonischen Überreste solcher Zeiten. Camilo Yáñez Pavez’ Video-Doppelprojektion „Nationalstadion, 11.9.09“ zeigt, am 36. Jahrestag des Pinochet-Putsches, das riesige, halb verlotterte Nationalstadion einen Tag, bevor die Bagger für die Renovierung aus Anlass der 200-Jahr-Feier auffuhren. Dieses 1938 erbaute, 48'000 Plätze fassenden Stadion diente nach dem Militärputsch als riesiges Konzentrationslager, in dem sich Szenen von unvorstellbarer Grausamkeit abgespielt hatten und in dem, nur allein innerhalb der ersten Wochen nach dem Putsch, 3'000 Menschen ihren Tod fanden. Das Stadion bedeutet heute aber auch eine Erinnerungsstätte von politischen Demonstrationen und demokratischen Wahlen – eine wahre „Baustelle der chilenischen Geschichte“.
Profit aus der Katastrophe
Unter den schweizerischen Positionen sticht vor allem das Projekt von RELAX (chiarenza & hauser & co) „invest & drawwipe“ hervor, das sich den chilenischen Ereignissen von 1973 von der europäischen Seite her annähert. Im Zentrum der Installation steht ein Zeitungsinserat der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. September 1973, in dem „zur Neuankurbelung aller Wirtschaftszweige“ geworben wird: „Chile: Jetzt investieren!“ Der Zynismus der kurz darauf aufkeimenden europäischen Neoliberalisierung wird durch ein Plakat von Margreth Thatcher manifest, die – in hollywoodhafter Aufmachung – siegesgewiss „The Conservative manifeste 1979“ hochhält.
Weitere europäische Künstler mit durchwegs spannenden Beiträgen sind: Thomas Hirschhorn (Bern), Ursula Biemann (Zürich), Sylvie Boisseau & Frank Westermeyer (Paris und Essen), Marie-Antoinette Chiarenza (Tunis/Zürich), Daniel Hauser (Bern).
Weitere chilenische Künstler, auf die dasselbe zutrifft, sind: Juan Castillo (Antofagasta), Javier Rioseco Arcos, Carlos Rioseco Coronado, Carlos Rioseco Coronado = 000 Estudio, (alle Santiago de Chile), Alfredo Jaar (Santiago), Voluspa Jarpa (Santiago), Mario Navarro (Santiago), Lotty Rosenfeld (Santiago).
„ Dislocación – Kulturelle Verortung in Zeiten der Globalisierung“, Kunstmuseum Bern, 18. März – 19. Juni 2011. Ausführlicher Katalog in deutscher und englischer Sprache (231 Seiten, CHF 58.-) Rahmenprogramm siehe www.kunstmuseumbern.ch