Wie viele der weltweit in Demokratien abgehaltenen Volksbefragungen auf die Schweiz entfallen, ist offensichtlich nicht so einfach zu zählen. Von einem Drittel bis zum Doppelten reichten die Schätzungen, welche den Teilnehmern an der diesjährigen Frühjahrstagung des Europa-Forums Luzern unterbreitet wurden. Fast einhellig fiel dagegen das Lob der rund zwanzig Vortragenden aus. Sie priesen die direkte Demokratie in der Schweiz als einzigartig. Es blieb wenigen, dafür gewichtigen Stimmen vorbehalten, dem zuckersüssen Eigenlob Kritisches entgegenzustellen.
Tagungsleiter Bruno Kaufmann, SRG-Korrespondent für Nordeuropa – und als schweizerisch-schwedischer Doppelbürger berechtigt, auf insgesamt sieben Ebenen seine Stimme abzugeben –, wies darauf hin, dass in zahlreichen demokratischen Ländern die Verfassung zwar das Instrument Volksbefragung kennt, dessen Anwendung aber weniger oft und nicht zwingend vorsieht.
Konflikte mit grundlegendem Recht
Differenziert stellte auch der Stargast im Rahmen des öffentlichen Teils der Veranstaltung, Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, unsere direktdemokratische Praxis dar. Obschon feurige Befürworterin des Prinzips, sieht sie auch problematische Aspekte. Dies nicht sosehr wegen der steigenden Anzahl von Volksbegehren, sondern weil immer mehr eingereichte Initiativen Verletzungen grundlegender Verfassungsnormen und/oder von verpflichtendem Völkerrecht unausweichlich machten. Aus diesem Grund votieren Fachleute für eine strengere Vorprüfung von Volksbegehren. Der ehemalige Politiker und Rechtsprofessor René Rhinow präzisierte am Forum, dass eine solche Überprüfung möglichst früh, am besten gleich nach Formulierung des Initiativtextes und noch vor der Unterschriftensammlung geschehen sollte.
Es blieb dem zweiten Ehrengast an der öffentlichen Veranstaltung, dem Ministerpräsidenten von Baden-Württenberg Winfrid Kretschmann, vorbehalten, auf einen weiteren problematischen Punkt von Volksbefragungen hinzuweisen. Neben viel Lob für Instrumente der direkten Demokratie generell und Respekt für deren schweizerische Eigenart speziell, erzählte er aus der direktdemokratischen Praxis seines Bundeslandes. Deren jüngere Geschichte wurde eingeleitet mit einer Sachabstimmung über das Bahn-Grossprojekt Stuttgart 21. Der grüne Politiker Kretschmann verlor das Plebiszit, aber der Ministerpräsident Kretschmann sieht es als einen Entscheid, welcher der steigenden Unzufriedenheit vieler Bürger mit ihrem Staat auf unangreifbare Art eine Antwort erteilte.
Seither werde mit Hearings und Befragungen auf direktdemokratischem Weg weitergemacht. Indes zeigten sich dabei auch problematische Erscheinungen von Bürgerprotesten: überzogene politische Korrektheit, Stimmungsmache gegen Andersdenkende und eine vorschnelle Behauptung, als «Stimme des Volkes» zu agieren.
Volkswille gegen Volkswille
Kretschmann und andere wiesen darauf hin, dass sich Volksentscheide auch widersprechen können. Wo sich der deutsche Politiker mit einem netten, aber unmissverständlichen Nebensatz begnügte, wiesen andere darauf hin, dass die europäische Gretchenfrage an die Schweiz, wie sie es nun mit der EU halten wolle, noch einer Antwort warte. Beides, voller Profit des Einbezogenseins und Ablehnung der EU-Spielregeln, beispielsweise was Freizügigkeit oder Institutionelles anbelangt, wird nicht zu haben sein.
Der ehemalige Staatssekretär und heutige ETH-Professor für Verhandlungsführung, Michael Ambühl, versucht aktuell bekanntlich, diesen gordischen Knoten so zu entwirren, dass beide Seiten letztlich prinzipienkonform aber durchführungsflexibel eine Lösung finden. Am Forum stellte er zwar nicht dieses Ei des Kolumbus vor, dafür aber in einem hochinteressanten Referat einige Lehren aus seiner langen Erfahrung mit der Vertretung schweizerischer Interessen im Ausland. Fiel seine Analyse, wie und warum eidgenössische Verhandlungsmandate so und nicht anders entstehen, überzeugend aus, so darf man über zumindest eine seiner Folgerungen daraus geteilter Meinung sein.
Weiterhin Extrawürste oder raus aus der Sackgasse
Ambühl hält nämlich das Verhalten eidgenössischer Unterhändler in der Regel für zu bescheiden, zu wenig schlitzohrig. In der Perspektive ausländischer Verhandlungspartner, so die persönliche Erfahrung des Schreibenden, sieht dies ziemlich anders aus. Die Schweiz ist, gerade in ihrer Europapolitik, international doch eher als Spezialistin für nicht allseits bekömmliche Extrawürste bekannt. Jüngster Beweis dafür ist das kategorische Njet aus Brüssel gegenüber dem schweizerischen Versuch, sich der EU-Energieunion auch ohne längst angemahnte institutionelle Bereinigung des bilateralen Verhältnisses anzuschliessen.
Auf seine Haltung gegenüber direkter Demokratie, und damit auch Entscheiden wie jenem vom 9. Februar 2014 befragt, zeigte sich schliesslich Alt-Bundesrat Pascal Couchepin wie ehedem in staatsmännischer Form. Er habe die direkte Demokratie immer als Spielregel anerkannt. Ebenso aber sei es die Pflicht des Bundesrates als höchster politischer Ebene der Schweiz, Volksbefragungen frühzeitig und ausführlich zu erklären. Couchepin ist überzeugt, dass damit schliesslich die richtigen Entscheide fallen. Er kann sich den letztendlichen Ausweg aus der Sackgasse Europapolitik auch als Volksentscheid zum EU-Beitritt vorstellen.