Der Aufstieg von „starken Männern“ unter dem national-populistischen Banner ist weltweit und in Europa real. China unter Xi-Jinping, Russland unter Putin, die Türkei unter Erdoğan, aber auch die von Trump scheinbar hypnotisierten USA sind Beispiele von weltweiter geopolitischer Bedeutung. Global weniger schwerwiegend, aber krasse weitere Fälle sind etwa das Venezuela unter Maduro und die Philippinen unter Duterte. In Europa müssen Ungarn unter Orban, Polen unter Kaczyński als Quasi-Diktaturen bezeichnet werden; weitere EU-Länder in Osteuropa, aber auch Italien und gar Österreich scheinen sich auf dem abschüssigen Pfad dahin zu bewegen.
Umgang mit National-Populisten
Die Literatur zu den internationalen Beziehungen ist voll von Untergangsszenarien für die klassische westliche Demokratie. In der dominierenden angelsächsischen Lehre berichten zum Beispiel Levitsky/Ziblatt (Harvard) darüber, wie Demokratien sterben („How Democracies Die“). Edward Luce (Financial Times) stellt „The Retreat of Western Liberalism“ fest. Und David Runcimann (Cambridge) sieht bereits das Ende der Demokratie („How Democracy Ends“). Erwähnt seien auch die Neuauflagen des amerikanischen Klassikers der 1930er Jahre „It Can’t Happen Here“ von Sinclair Lewis.
Hier soll aber nicht vom Prinzip die Rede sein, sondern von der Praxis. Wie können und sollen europäische Regierungen und die EU-Institutionen (Rat, Kommission, Parlament, Gerichtshof) sich gegenüber den national-populistischen Bewegungen auf europäischer und aussereuropäischer Ebene verhalten? Alle Teile der Union sind gefordert, denn die ehemals klassische Zuteilung aller Aussenpolitik an den Nationalstaat gilt im Europa der EU schon lange nicht mehr – glücklicherweise, wie insbesondere die Beispiele Ungarn und Polen zeigen.
Das Beispiel Russland
Putin ist dank roher Gewalt aussenpolitisch erfolgreich, so in der Ukraine und in Syrien. Wirtschafts- und gesellschaftspolitisch hat er aber abgewirtschaftet. Entsprechend muss europäische Aussenpolitik reagieren. Politisch ist Putin „incontournable“, ohne ihn ist weder in der Ukraine noch im Nachkriegssyrien eine Lösung zu finden. Wirtschaftlich aber braucht er die EU mehr als umgekehrt.
Bundeskanzlerin Merkel dürfte damit einmal mehr mit häufigen Treffen den richtigen Kurs fahren, um beispielsweise im Gegenzug zu europäischer Wiederaufbauhilfe in Syrien – Russland hat dafür weder Geld noch Waren, ausser Energierohstoffe – eine dauerhafte Abkehr von russischer Aggressionspolitik in der Ukraine zu erreichen. Politisch signalisiert Merkel mit ihren Putin-Treffen, dass sie und Europa nicht allein auf den Grobian Trump und die USA angewiesen sind, die unter dem Präsidenten immer mehr in den Isolationismus steuern.
Nicht zu empfehlen ist demgegenüber das wienerwaltzernde Verhalten der österreichischen Aussenministerin, die Putin an ihre Hochzeit lud. Genau solche Anbiederung an „starke Männer“ spielt in deren Hände, da sie eine persönliche Verbundenheit signalisiert, ohne dass damit irgendwelche Konzession des Potentaten zu erhalten wäre.
Das Beispiel China
Mit dem Wirtschaftsgiganten China, der „Produktionsmaschine der Welt“, einen sowohl aussen- als auch wirtschaftspolitisch vertretbaren Kurs zu fahren, erfordert subtiles Balancieren zwischen Wirtschaftsinteressen, geschmeidiger Diplomatie und handfester Insistenz auf sakrosankten Interessen, wie demokratischer und rechtsstaatlicher Freiheit. Konkret bedeutet dies beispielsweise offizielle Bereitschaft zur Mitwirkung am chinesischen Jahrhundertprojekt „Belt and Road Initiative“ BRI (Neue Seidenstrasse), aber gleichzeitig den Ratschlag an eigene Unternehmen, sich bei Teilnahme an BRI-Projekten gründlich abzusichern gegen chinesischen Export von Überschüssen und Ramschfirmen. Ebenso gegen jene Grossprojekte, welche zwar chinesische Banken und Firmen bereichern, als „weisse Elefanten“ aber Empfängerländer in jeder Hinsicht belasten.
Keine gute Idee ist vorauseilender Gehorsam und schmeichlerische Anbiederung. Der frühere britische Premierminister Cameron wollte vor einigen Jahren einen schnellen Vorsprung gegen europäische Produktionskonkurrenz herausholen. Dazu bereitete er dem chinesischen Präsidenten einen pompösen Staatsempfang. Arrangiert wurde auch ein Empfang bei der Königin – und dem Dalai Lama zeigte Cameron demonstrativ die kalte Schulter.
Vergleicht man den China-Handel mit Deutschland und jenen mit dem Vereinten Königreich, so kommt man zum Schluss, dass ein normaler, respektvoller Umgang mit China mehr bringt als schmeichlerische Anbiederung.
Das Beispiel Türkei
Erdoğan ist ein Paradebeispiel, wie Realpolitik durchaus mit prinzipientreuer Aussenpolitik verbunden werden kann. Die Türkei ist geographische Mitte zwischen dem Mittleren Osten und Europa und eine Brücke zwischen dem Islam und dem christlichen Abendland. Das Land ist auch eine Barriere gegen unkontrollierte Armutsimmigration aus der europäischen Peripherie sowie als Herkunftsort einer gewichtigen Diaspora in Mittel- und Nordeuropa. Aus all diesen Gründen ist die Türkei grundsätzlich ein Hauptpartner unseres Kontinents und wird dies auch bleiben. Wenn unter dem gegenwärtig herrschenden Sultan am Bosporus dieses Verhältnis von ihm vergiftet wird, soll dies nicht Abbruch bedeuten, sondern distanziertere bilaterale und multilaterale Kontakte. Also eher ein Arbeitsbesuch von Erdoğan in der BRD – und nicht ein offizieller Staatsbesuch, wie ihn Berlin für die zweite Hälfte 2018 vorsieht. Ebenso eine allfällige Suspension von türkischen Mitgliedsrechten im Europarat.
Von Seiten der EU-Organe wäre die klare Position zu signalisieren, dass ohne rechtsstaatlichen Paradigmenwechsel in der Türkei Beitrittsverhandlungen ausgeschlossen sind. Selbst eine Assoziierung wäre schwierig. Ein solcher Paradigmenwechsel wäre durchaus möglich, weil sich Erdoğan nach dem Bruch mit den USA unter Trump wieder stärker an Europa anlehnen will.
Innerhalb Europas …
Und wie ist gegenüber jenen Ländern Europas zu verfahren, welche aus dem durch die Mitgliedsverpflichtung gegebenen rechtsstaatlichen Rahmen fallen? Oder jene, die sich bei der politischen Einigung Europas abwartend verhalten? Alle diese, eingeschlossen die Schweiz, sind ungleich stärker von der Union abhängig als umgekehrt. Die EU wird hier künftig härter vorgehen, da sehr viel auf dem Spiel steht. Seit der alarmierenden „Trumpisierung“ der internationalen Beziehungen und des damit verbundenen Orientierungsverlustes im alten Westen trägt Europa mehr Führungsverantwortung auf der Weltbühne. Diese kann die EU aber nur erfolgreich übernehmen, wenn alle europäischen Länder sich mit denselben Prinzipien und demselben Einsatz hinter die blaue Fahne mit den goldenen Sternen scharen.
… eingeschlossen die Schweiz
Derweil vergnügen sich die wichtigsten politischen Kräfte in der Schweiz, eingeschlossen die Regierung, mit rein helvetisch bedingtem (Sand)burgenbau, was Platz und Rolle unseres Landes in Europa anbelangt. Aber nicht alle: Die beiden grünen Parteien drängen resolut auf mehr Öffnung gegenüber der EU, „Avenir Suisse“ will den EU-Beitritt als ernsthafte Option diskutieren, und einige SP-Exponenten machen sich bemerkbar mit der Losung „Ein Beitritt macht jeden Rahmenvertrag überflüssig“. Sehen diese Kräfte wohl, was andere noch ignorieren: den geschilderten geopolitischen Wandel und seine Auswirkungen auf die öffentliche Meinung? Und damit auf das Abstimmungsverhalten in der Schweiz?