„Der italienische Süden stirbt. Renzi, handle schnell!“. So steht es in einem Brief von Roberto Saviano an den italienischen Ministerpräsidenten. Selbst die Mafia würde Süditalien verlassen, weil es dort nichts mehr zu holen gibt, schreibt Saviano, Bestsellerautor (Gomorrah) und Journalist.
„Caro Presidente“, heisst es in dem am Samstag von der Zeitung „La Repubblica“ veröffentlichten Brief, „Sie haben die Pflicht, zu intervenieren. Gestehen Sie, dass bisher nichts geschehen ist“.
„Schlechter als Griechenland“
Savianos Brief kommt wenige Tage nach einer Kaskade miserabler News für Italien und seinen Regierungschef.
Das italienische Svimez-Institut zieht eine katastrophale Bilanz über den Zustand des italienischen Südens. Svimez (Associazione per lo SVIluppo dell'industria nel MEZzogiorno), ist eine private Organisation, die die Entwicklung in Süditalien analysiert und fördert.
Laut dem Institut geht es Süditalien „schlechter als Griechenland“. Das süditalienische Wirtschaftswachstum ist halb so gross wie das griechische. Der Rapport spricht von „einer permanenten Unterentwicklung“. Eine von drei Familien lebt im Süden an der Armutsgrenze. In Mittel- und Norditalien ist es eine Familie von zehn.
Kaum mehr Kinder
Süditalien galt früher als kinderreiche Region. Das ist längst vorbei. Die Süditaliener können sich Kinder kaum mehr leisten. Noch nie seit der Gründung des vereinten Italiens vor 163 Jahren haben italienische Frauen so wenige Kinder geboren wie jetzt.
Die Arbeitslosigkeit im Süden steigt weiter, vor allem bei Jungen und bei Frauen ist sie dramatisch. Nur jede fünfte Frau findet eine Arbeit. Während in Mittel- und Norditalien der Konsum leicht ansteigt (+ 0,6 Prozent im letzten Jahr), geht er in Süditalien um 0,4 Prozent zurück.
Langsam entvölkert und „ent-industrialisiert“ sich Süditalien. Heute leben dort so wenige Italiener wie Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Rapport prophezeit, dass Süditalien in den nächsten 50 Jahren über vier Millionen Einwohner verlieren wird.
Psychologischer Effekt
Der Bericht kommt für Ministerpräsident Renzi zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Nachdem er – zum Erstaunen vieler – einige Reformen durchs Parlament gebracht hat, kommt er zunehmend unter Druck.
Der eben veröffentlichte Svimez-Rapport hat vor allem auch einen psychologischen Effekt. Renzi stand für Aufbruch, für Neuerung, für Fortschritt, für Entrümpelung des korrupten lethargischen Landes. Er versprach vor einem Jahr eine neue Politik und einen Neuanfang in Süditalien. Und jetzt der Donnerschlag: Nichts ist geschehen, nichts ist erreicht.
Renzi ist dabei, die Aura des draufgängerischen Siegers zu verlieren. Das begann bei den Regional- und Lokalwahlen Ende Mai. Da musste der Premierminister erstmals schmerzhafte Verluste registrieren. Seither sinken seine Popularitätswerte langsam.
Sturm der Entrüstung
Vor allem der linke Flügels seiner sozialdemokratischen Partei und die Gewerkschaften machen dem Sozialdemokraten zu schaffen und legen ihm Steine in den Weg, wo sie nur können. Und die Opposition freut es natürlich.
Im Moment tut sich Renzi schwer, ein reformiertes Fernsehgesetz und ein entstaubtes Schulgesetz durchzubringen. Einen Sturm der Entrüstung erntet er jetzt, weil er die Kosten im Gesundheitswesen massiv reduzieren will. In nur wenigen Ländern ist das Gesundheitswesen so teuer und so ineffizient wie in Italien. Ein Besuch in einem italienischen Spital sei empfohlen. Doch bereits gehen die Gouverneure der Regionen auf die Barrikaden. „Ja, man soll sparen und effizienter arbeiten, aber nicht wir, sondern die andern“.
Jugendarbeitslosigkeit bei 44,2 Prozent
Doch der Svimez-Rapport ist nicht die einzige Horror-Nachricht, die den Ministerpräsidenten in diesen Tagen ereilt.
Auf dem Arbeitsmarkt wird alles nur noch schlimmer. Das statistische Amt meldet am Freitag, dass 44,2 Prozent der jungen Italienerinnen und Italiener (der 15- bis 24-Jährigen) arbeitslos sind. Das ist ein neuer Rekord. Im Durchschnitt aller Altersklassen ist die Arbeitslosigkeit auf 12,7 Prozent gestiegen.
Wie hatte Renzi doch versprochen, dass er die Arbeitslosigkeit reduzieren werde. Und nun dies.
Auch in diesen Tagen meldet das statistische Amt, dass die italienische Wirtschaft in der Euro-Zone zwischen 2000 und 2013 am langsamsten gewachsen ist.
Schlamassel überall
Und noch ein Schlag: Der Internationale Währungsfonds prophezeit, dass Italien noch zwanzig Jahre brauche, um wieder richtig auf die Beine zu kommen.
Das Land kommt, auch unter Renzi, nicht aus dem Schlamassel heraus. Symbolisch für den Zustand der Nation ist das jüngste Chaos im Römer Flughafen Fiumicino. Zehntausende Touristen sind dort in den letzten Tagen gestrandet. Ein Feuer nahe einer Piste legte zunächst den Flugverkehr lahm. Am Tag danach gab es im Terminal einen Kurzschluss. Ein chaotisches Krisenmanagement machte alles nur noch schlimmer.
Auf Youtube zirkulieren Videos, auf denen man Touristen sieht, die ausser sich vor Wut eine Stewardess anpöbeln. Tausende biwakierten mit ihren Babys in den Terminals. Niemand informierte die Gestrandeten, niemand half. Die Bars und Apotheken schlossen am Abend. Kleinkinder blieben ohne Milch und Nahrung. Polizei und Feuerwehrleute waren nicht erreichbar.
"...aber wir sind in Afghanistan"
Die Italiener sind nicht in der Lage, Krisen zu bewältigen. Sie haben die Fähigkeit, aus allem ein Chaos grösseren Ausmasses zu veranstalten.
Ein Engländer konnte es sich leisten, dem Flughafen zu entfliehen und – nicht plangemäss - noch einige drei Ferientage in Rom anzuhängen. Jetzt ist er in einer Bar am Campo de Fiori und sagt: „Ich komme eben aus dem Kongo, dort ist alles besser organisiert“.
Nicht alle können dem Flughafenchaos entfliehen. „Ich habe zehn Tage Ferien und verbringe nun drei Tage davon im Flughafenterminal“, schreit ein Passagier“ Und natürlich zahlen die Low Cost-Fluglinien keine Hotelübernachtungen. „Was ist aus diesem Land geworden?“, fragt ein Turiner Tourist. „Ich glaubte, Italien sei ein modernes Land, aber wir sind in Afghanistan“, meint ein anderer Tourist. Un noch ein anderer: „Das ist kein zivilisiertes Land. 52 Mal hat es in den letzten zwei Jahren in Fiumicino gebrannt.“
"Verfehlter Start"
„Decollo mancato“, schreibt der Kolumnist Gabriele Canè in der Zeitung „Quotidiano Nazionale“. Renzis „Italien des Aufschwungs, der Wiederbelegung, des Wechsels der Marschrichtung – in Fiumicino kam es zum Stillstand“.
Ein Flughafen ist immer eine Visitenkarte eines Landes. Die Italiener sind dabei, jetzt auch noch den Tourismus, eine wichtige Einnahmequelle kaputt zu machen. Sie glauben noch immer, das Kolosseum oder die Uffizien in Florenz in Rom genügten, um Touristen anzuziehen.
"Horror" in Rom
Nicht genug: In Rom herrscht „Horror“, und ein „Desaster“ wie das Nachrichtenmagazin „L’Espresso“ titelt. Die Stadt wird immer schmutziger, Abfallberge türmen sich wie einst in Neapel. Der Römer Regierung (und ihrer Vorgängerregierung) ist es nicht gelungen, die grossen Probleme in den Griff zu bekommen, vor allem nicht das Abfall- und Transportproblem.
Da wartet man an einer Haltestelle vierzig Minuten in brütender Hitze auf einen Bus. Wenn dann endlich einer kommt, fährt er an der Haltestelle vorbei, weil er schon voll ist. Ein Drittel der 2'500 Römer Autobusse befindet sich - meist einsatzunfähig - im Depot.
Da Bürgermeister Ignazio Marino ein Sozialdemokrat ist, färbt der Römer Skandal auch auf den Sozialdemokraten Renzi ab.
Ein dramatischer Artikel in der New York Times, der den Verfall der Ewigen Stadt beschreibt und sie als dreckig, korrupt und unsicher bezeichnet, lastet in diesen Tagen immer noch schwer auf der italienischen Seele.
Der Anpacker
Trotzdem: Renzi ist der erste Regierungschef seit langem, der anpackt und Erfolge vorweisen kann: ein Macher. Er hat eine Wahlrechtsreform und eine Arbeitsreform durchs Parlament geboxt. Sein forscher Stil gefällt nicht allen. Wer nicht für ihn ist, wird von ihm kleingemacht. Einige seiner Gegner bezeichnen ihn als „Diktator“ oder gar als „neuen Mussolini“. Das ist er sicher nicht.
Renzi bezeichnet den italienischen Politbetrieb als ineffiziente Palaverdemokratie. In anderthalb Jahren hat er mehr erreicht als Berlusconi in zwanzig Jahren. Renzi will endlich Resultate und vorankommen.
In Italien rufen immer alle nach Reformen. Wenn dann aber einer Reformen anstrebt, dann heisst es: „Ja, wir wollen Reformen, aber nicht diese“.
Populisten in den Startlöchern
Doch vielleicht täte Renzi gut daran, sich in seinen Auftritten etwas zu mässigen und andere vermehrt in den Entscheidungsprozess einzubeziehen.
Jetzt tut er das, was Regierungschefs immer tun, wenn ihr Image angekratzt ist: Sie versprechen eine Steuersenkung. Wie Renzi die Steuerausfälle finanzieren will, weiss nur er.
Obschon er noch immer populär ist, ist nicht ausgeschlossen, dass er plötzlich eine Vertrauensabstimmung verliert und gestürzt wird. Noch hat er im Parlament eine knappe Mehrheit. Doch plötzlich kippt die Stimmung. In Italien kann das sehr schnell gehen.
Und dann geht es wieder los, das Palavern, das Versprechen. Einige Populisten sind schon in den Startlöchern.
In der Römer Zeitung „La Repubblica“ erschien am Samstag eine Karikatur. Ein junger Mann sitzt nachdenklich auf einem Stein. Darunter steht: „Die Zukunft ist wegen Renovationsarbeiten geschlossen“.