Noch bis am Dienstag wehten in Amerika die Fahnen auf Halbmast. Aus Trauer über den Tod von 20 Kindern und sechs Erwachsenen, die der 20jährige Adam Lanza am vergangenen Freitagmorgen in einer Grundschule in Newtown (Connecticut) kaltblütig erschossen hatte. Bis zu elf Mal schoss der Täter aus seinem Sturmgewehr auf einzelne Opfer, und nachdem er sich bei Eintreffen der Polizei selbst gerichtet hatte, fanden Beamte Hunderte Schuss frischer Munition auf ihm. Nicht auszudenken, was hätte passieren können, wären die Ordnungshüter erst später bei der Sandy Hook Elementary School vorgefahren.
Trauer – und Rückkehr zur Tagesordnung
Inzwischen ist das Land erneut zur Tagesordnung übergegangen, und mit jedem Tag, der vergeht, verblassen der Schock und der Zorn über das Geschehen. Indes werden diese Woche in Newtown, eines nach dem andern, jene Kinder begraben, deren Leben der Amokläufer von einer Sekunde auf die andere ausgelöscht hat. Als ersten wurde am Montagnachmittag im Temple Adath Israel des sechsjährigen Noah Pozner und im Honan Funeral Home seines gleichaltrigen Klassenkameraden Jack Pinto gedacht. Am Dienstag trauerten in der Kirche St. Rose of Lima Angehörige und Freunde um James Mattioli und Jessica Rekos, beide ebenfalls erst sechsjährig. Die katholische Kirche hatte am Sonntag einer Bombendrohung wegen evakuiert werden müssen.
Am Sonntag war bei Einbruch der Dämmerung auch Barack Obama nach Newtown gekommen, um den Familien der Opfer und den Helfern am Ort sein Beileid auszusprechen. Die Nation, sagte der Präsident während eines Gedenkanlasses, habe es versäumt, ihre Kinder zu beschützen. Es gehe nicht mehr an, dass Amerikas Führer tatenlos zusähen, weil es angeblich zu schwierig sei, das Problem der Waffengewalt politisch zu lösen.
Barack Obama versprach, die ganze Macht seines Amtes einzusetzen, um künftig Massaker wie jenes an der lokalen Schule zu stoppen: „Kein einzelnes Gesetz, kein Gesetzbuch kann das Böse aus der Welt schaffen oder jeden sinnlosen Gewaltakt in unserer Gesellschaft verhindern.“ Der Präsident sprach auf einer Bühne, auf der lediglich ein Tisch mit 26 Kerzen stand, für jedes Opfer eine.
Waffenkult auch in Newtown
Wie schwierig es werden dürfte, in Amerika eine verschärfte Kontrolle von Schusswaffen durchzusetzen, zeigt das Beispiel von Newtown selbst. Der Ort liegt in hügligem, teils bewaldetem Gelände und etliche seiner Bewohner besitzen Waffen, als Jäger oder Sportschützen. Auch die Mutter des Täters, die 52-jährige Nancy Lanza, liebte Waffen und besass zwei Pistolen, zwei herkömmliche Jagdgewehre und ein halbautomatisches Sturmgewehr.
Drei dieser Waffen, die Pistolen und das Sturmgewahr, trug ihr Sohn bei seinem Amoklauf in der Grundschule auf sich. Als Anwohner der Schule am Freitag Schüsse hörten, waren sie erst nicht überrascht. „Du kannst in dieser Gegend jederzeit Schüsse hören“, sagte einer von ihnen.
Versuche einzelner Bewohner Newtowns, das Schiessen auf politischer Ebene einzudämmen, sind am Widerstand lokaler Waffenbesitzer gescheitert. Die Polizei des Ortes hat bis Ende Juli mehr als 50 Beschwerden wegen Waffenfeuers registriert, mehr als doppelt so viele wie im vergangenen Jahr. Die Kläger stiessen sich unter anderem daran, dass einzelne Waffennarren Sprengstoff in ihre Ziele packten, der nach Treffern explodierte und Schockwellen aussandte. Zwar sprach sich auch die Polizei für verschärfte Kontrollen aus, fand aber unter der Bevölkerung Newtowns keine Mehrheit.
„Das sind keine normalen Waffen, welche die Leute brauchen, sondern Waffen für ein Arsenal (…) “, sagt laut „New York Times“ ein Mitglied der lokalen Polizeiaufsichtskommission, der selber Jäger ist: „Wir leben in einer Stadt, nicht im Krieg.“ Dagegen argumentiert der Besitzer eines Schiessstandes in Newtown, das Massaker in der Schule stimme ihn zwar traurig, Waffen dürften jetzt aber nicht zu „Sündenböcken“ gestempelt werden: „Schusswaffen sind der Grund, weshalb wir in diesem Lande frei leben.“
Waffenlobby auf Tauchstation
Derweil ist die sonst so lautstarke amerikanische Waffenlobby nach dem Massaker in Newtown stumm geblieben. Vertreter der mächtigen National Rifle Association (NRA) blieben für die Medien unerreichbar. Die NRA, 1871 von zwei Veteranen des Bürgerkriegs gegründet, um aus Amerikanern bessere Schützen zu machen, zählt 4,3 Millionen Mitglieder und verfügte vor zwei Jahren über ein Budget von 307 Millionen Dollar. „Wir brauchen einen Präsidenten, der für die Rechte der Jäger, Schützen und jener einsteht, die ihr Heim und ihre Familien verteidigen wollen“, sagte der republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney an der jährlichen Tagung der NRA in St. Louis: „Präsident Obama hat das nicht getan. Ich werde es tun.“
Den Lobbyisten der Waffenfreunde ist es zum Beispiel unlängst bei der Reform der Gesundheitsgesetzgebung gelungen, Senator Harry Reid, den Führer der demokratischen Mehrheit, zu überzeugen, eine Klausel einzufügen, die es Versicherern verbietet, von Waffenbesitzern höhere Prämien einzufordern. Einer Umfrage vom letzten April zufolge sehen 68 Prozent der Amerikaner die NRA in positivem Lichte, eine Einschätzung, die im Übrigen 55 Prozent aller Demokraten teilen. In den acht Monaten seither ist es im Lande einschliesslich Newtowns zu sechs Massenmorden mit Schusswaffen gekommen.
Verleugnen lassen sich nach dem Massaker in Connecticut auch nationale Politiker, die sonst keine Gelegenheit auslassen, sich im Scheinwerferlicht von Fernsehstudios zu sonnen. Als die populäre Sendung „Meet the Press“, die NBC jeweils am Sonntagmorgen ausstrahlt, Senatoren, die als Gegner einer verschärften Schusswaffenkontrolle bekannt sind, zu einer Diskussion einlud, sagte von 31 angefragten Politikern kein einziger zu. Auch führende republikanische Politiker waren für die Medien nicht zu sprechen.
Sind noch mehr Schusswaffen die Lösung?
Dafür äusserte sich Robert E. Levy, der Vorsitzende des liberalen Cato Institute, einer Denkfabrik in Washington DC, und prominenter Verfechter eines Urteils des Obersten Gerichts der USA, das 2008 das vom zweiten Verfassungszusatz garantierte Recht des Einzelnen auf Waffentragen festgeschrieben hat. Levy zufolge würde eine Einschränkung des Waffenbesitzes wenig Sinn machen, da in den USA bereits mehr als 250 Millionen Schusswaffen zirkulierten (andere Quellen sprechen von 280 bis zu 300 Millionen). Ausserdem hätten zum Beispiel auch strikte Waffengesetze wie jenes in Norwegen das Massaker auf der Insel Ütoya nicht verhindern können, dem am 22. Juli 2011 nicht weniger als 69 Menschen zum Opfer fielen.
„Ich bin skeptisch, was die Regulierung von Schusswaffen im Allgemeinen erreichen kann, da sie fast ausschliesslich auf Personen zielt, die nicht Teil des Problems sind“, argumentiert der liberale Denker: „Um das Risiko von Gewalt gegen eine grosse Zahl von Opfern zu vermindern, wäre es wohl besser, wir würden uns auf die frühe Diagnose und Behandlung von Geisteskrankheiten einstellen.“
In einem Artikel für das Monatsmagazin „The Atlantic“ plädiert Jeffrey Goldberg sogar dafür, mehr Schusswaffen zuzulassen, um Amerika sicherer zu machen. Der Autor listet eine Reihe von Fällen auf, in denen Massaker mutmasslich verhindert werden konnten, weil unerschrockene Zivilisten die Täter rechtzeitig stoppten. „Befürworter von Waffenverboten (…) sollten anerkennen, dass verschärfte Waffengesetzgebung nicht die einzige Lösung des Gewaltproblems ist“, schreibt Goldberg: „Verantwortungsvoller Waffenbesitz ist auch eine Lösung.“ Schusswaffen könnten zwar Böses anrichten, aber auch Gutes tun. Auch gemäss Wayne LaPierre, dem Präsidenten der NRA, bedeuten mehr Waffen eine sicherere Gesellschaft: „Eine bewaffnete Gesellschaft ist eine höfliche Gesellschaft.“
Am Tage des Massakers in Newtown kündigten Offizielle in Florida an, sie würden demnächst den millionsten Waffenschein ausstellen, der es einer Person erlaubt, verdeckt eine Schusswaffe zu tragen. Die amtliche Mitteilung prahlte, das staatliche Programm sei dann „eine Million stark“. Der Staat Michigan indes befürwortet gegen den Widerstand der Behörden ein Gesetz, welches das verdeckte Waffentragen auch an Schulen erlaubt. „Unsere Waffenkultur fördert einen fatalen Abstieg in einen extremen Individualismus“, schreibt Philosophieprofessor Firmin DeBrabander: „Sie zeugt atomistische Individuen, isoliert von der Staatsmacht (und voneinander) sowie in der Folge des Massakers wie jenes in Newtown von Angst gelähmt. Das ist nicht Freiheit, sondern ziemlich genau das Gegenteil davon.“
Quellen: „The New York Times“; „The Washington Post“, „The New Yorker“; „The Atlantic“