Karl-Markus Gauss schreibt über kleine Minderheiten an den Rändern Europas wie über die Erscheinungen unserer Zeit, getrieben von Interesse und Anteilnahme wie von einem kritischen und skeptischen Geist. Immer bietet er einen grossen Lesegenuss, wie auch wieder in seinem jüngsten Journal. Vor Kurzem gerade hat der Salzburger Autor Karl-Markus Gauss in Leipzig den Buchpreis zur europäischen Verständigung erhalten, und fast möchte man fragen: jetzt erst?
Gauss gehört sicher zu den eigenwilligsten Schriftstellern oder Reportern oder Essayisten im Österreich von heute, denn das alles ist er: Einer, der sich für ausgedehnte Recherchen zu den Rändern Europas aufmacht, wo Minderheiten leben, von denen die meisten von uns kaum je gehört haben, weil sich sonst kaum jemand für sie interessiert. Ausser eben Karl-Markus Gauss, der Sohn von Donauschwaben aus der serbischen Wojwodina, die es nach Salzburg verschlagen hatte.
Tagebuch, Kommentar, Reflexion
Gauss erschliesst sich Europa auf anderem Weg denn als Intellektueller, der von einem Podium zum nächsten reist. Der aber genauso ein Buch schreiben kann über nur ein Zimmer, nämlich seins, und der darin und in den Büchern eine ganze Welt entdeckt. Dass er ein bewundernswerter Stilist ist, hat zu seinem grossen Erfolg sicher wesentlich beigetragen. Daneben gibt der Literaturwissenschaftler, der er von Hause aus ist, seit vielen Jahren die Zeitschrift «Literatur und Kritik» heraus. Mit seinen Essays ist er ein geschätzter Autor in allen wichtigen Medien.
Weitherum gelesen sind vor allem seine Journale, von denen er in den vergangenen zwanzig Jahren sechs in Buchform veröffentlicht hat. Das jüngste ist unlängst erschienen und umfasst die Jahre zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr des 1954 Geborenen. Fünf Jahre lang wollte er aufschreiben, «was mir auffiel und was ich mir ausgemalt, vorgestellt, erträumt, gedacht hatte». Und das tat er fast an jedem Tag.
Diese Journale sind eine Mischung von Tagebuch, Kommentar, Reflexion über das, was ihm im realen Leben oder in Gestalt von Texten begegnet, oder über Menschen, die er kennt, im Fernsehen sieht oder liest. Gauss ist ein scharfer Beobachter und Nach-Denker, manchmal auch im Urteil scharf, im Ton aber meist milde, der sich zu Politischem äussert wie zu den absonderlichen oder bedenklichen Entwicklungen in unserer Gesellschaft, die sich oft nur im Unscheinbaren zeigen. Aber die man erkennt, wenn man hinschaut und hinhört wie er. Der bisweilen aber auch zu anderen Schlüssen kommt, als man dächte.
Eine Lanze für «altösterreichische Beamtenmanieren»
So kann er der oft verpönten Silvesterknallerei durchaus etwas abgewinnen, weil er Reiz und Renitenz im sinnlosen Verpulvern erkennt. Oder wo ein Richter einem korrupten Angeklagten seine «altösterreichischen Beamtenmanieren» vorhält, lernen wir – nach mildem Tadel am kenntnislosen Richter –, dass der altösterreichische Beamte eben gerade nicht korrupt war, weil er klugerweise fern der Heimat eingesetzt wurde und so auch fern korruptionsanfälliger Bindungen – etwa der Kroate in Vorarlberg und der Wiener im Friaul.
Was Gauss abschliessend so kommentiert: «Wenn heute mehr Leute in Staatsdiensten altösterreichische Beamtenmanieren hätten, würden die staatsnahen Betriebe nicht als Selbstbedienungsläden der jeweils regierenden Parteien geführt werden.» Dies ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie sich Gauss die durch und durch korrupte Kungelei im ÖVP- und Kurz-dominierten Österreich vornimmt. Da geht ihm der Stoff nicht aus.
Manchmal mit, oft auch ohne Namen schiesst Gauss auch gegen Einzelne seine Spitzen ab, meist die «public intellectuals». So biete der deutsche Journalist Henryk M. Broder, der Donald Trump gegen den so verachteten «Mainstream» verteidigte, das «jämmerliche Schauspiel eines Intellektuellen, der sich sein Denken von seinen Gegnern vorschreiben lässt, von denen er sich um jeden Preis unterscheiden muss, und sei es um den der moralischen Selbstaufgabe».
Bosheiten gegen McEwan, Murakami, Coelho, Sloterdijk
Der Buchmensch Gauss knüpft sich natürlich auch Schriftsteller vor, gerne auch solche, die sich in der gebildeten Leserschaft grosser Beliebtheit erfreuen. Zum Beispiel Ian McEwan, den Gauss handwerklich perfekt und ästhetisch immens überschätzt findet. Weil bei ihm die Reihenfolge nicht stimmt. Er findet nicht, sagt Gauss, dass McEwan sich Figuren sucht, an deren Schicksal er einen Aspekt der Welt erkundet, sondern Ausschau hält nach einem aktuellen Thema, für das er sich dann auf die Suche nach dem passenden Personal begibt.
Noch schlechter kommt Haruki Murakami weg, den er nicht weit weg von Rosamunde Pilcher oder Paulo Coelho sieht und dessen Charakterisierung etwa von Eifersucht und Neid er noch unter dem Niveau eines Wikipedia-Eintrags sieht. Wenn Murakami schreibt: «Er wünscht sich, eine Frau im Arm zu halten, sie zärtlich zu streicheln und den Duft ihrer Haut einzuatmen – ein natürliches Verlangen für einen gesunden jungen Mann», kommentiert Gauss das so: «Diese begütigende Erklärung findet sich nicht in den katholischen Richtlinien zur Sexualkunde in der achten Schulstufe, sondern in einem Roman, der vorgeblich einen mutigen Blick in menschliche Abgründe wagt.»