Die durch den jahrzehntelangen Krieg geprägten Mentalitäten beider Seiten bewirken, dass sich Israeli und Palästinenser gegenseitig nach ganz bestimmten Mustern - in spezifischen „Diskursen“ - wahrnehmen. Bei den Palästinensern stehen die Leiden im Zusammenhang mit der Enteignung und Vertreibung im Vordergrund, bei den Israeli geht es um Rechtfertigungen für die Expansionspolitik der Regierung. Dadurch ist beiden Seiten der Blick auf das Menschliche im Anderen verstellt.
Die Gründerzeit als Mythos
Den israelischen Diskurs haben wir in Europa so gut wie mit der Muttermilch eingesogen. Er handelt von dem erfolgreichen Aufbau des Staates der Juden im Heiligen Land. Wer die Nachkriegszeit bewusst miterlebt hat, erinnert sich an dies Gründerzeit Israels.
Ein Staat für die Juden sollte entstehen, die für so lange Zeit und mit so fürchterlichen Folgen für sie, keinen eigenen Staat besassen. Was lag näher, als dass dieser Staat in der alten Heimat der Juden errichtet werde, wo die Juden doch herkamen? Pioniere hatten schon eine Generation lang, während der Zeit des britischen Mandates über Palästina, für ihn gekämpft und schwere Vorarbeit geleistet.
Araber, wieso denn?
Die Araber wollten sich dem widersetzen. Wer waren sie überhaupt? Wenn es tatsächlich solche Leute in Palästina gab, hatten sie doch jedenfalls so viele andere Länder, in denen sie leben konnten! Dort, so sah man es unproblematisch, sollten sie den Juden für ihren Staat Raum gewähren.
Als die noch junge Uno, sehr knapp, beschloss, das Land Palästina zu teilen und den Zionisten die Hälfte davon als ihren Staat zuzusprechen, die Araber dies aber ablehnten und ihre Heere nach Palästina entsandten, um den neu geborenen und noch gebrechlichen Staat der Juden anzugreifen und "die Juden ins Meer zu werfen", zitterten wir alle um das Geschick dieses Staates und seiner neuen Bewohner.
Der ferne Krieg verlief über Erwarten günstig für das kaum gegründete Israel. Die Araber wurden besiegt und flohen aus dem Land. Dass es grosse und elende Flüchtlingsmassen gab, sah man auf Bildern in der Wochenschau und in den Illustrierten. Das war unschön. Doch man vernahm mit grosser Erleichterung, die Araber seien von sich aus geflohen. Ihre Regierungen hätten sie dazu aufgefordert und ihnen gesagt, sie sollten den arabischen Invasionsarmeen den Weg frei geben. Nach deren Sieg könnten sie nach Palästina zurückkehren.
Diese Propagandalegende wurde viele Jahre lang geglaubt und erst 1959 und 1961 von Khaled Walidi und von Erskine Childers als reine propagandistische Lüge entlarvt. Die Araber waren mit Gewaltandrohung und mit roher Waffengewalt vertrieben worden.
Unkritische Übername von Schönfärberei
Wir in Europa wollten die schöngefärbte Version glauben, obwohl sie eigentlich unwahrscheinlich war, weil sie die Israeli für die Vertreibung der palästinensischen Landeskinder zu entschuldigen schien.
Die Palästinenser wurden sehr lange Zeit, bis zum Jahr 1965, als sie sich politisch zu organisieren begannnen, als eine reine Flüchtlingsbevölkerung wahrgenommen. Es gab für sie ein international finanziertes Hilfswerk, UNRWA, und es gab Uno-Beschlüsse, nach denen sie ein Recht haben sollten, in ihre Heimat und an ihre Wohnstätten zurückzukehren oder Kompensation für ihren verlorenen Besitz zu erhalten, falls sie bereit seien, in Frieden mit den Israeli zusammenzuleben. Doch dies schien nicht der Fall zu sein. Die Flüchtlinge selbst und die Politiker der arabischen Staaten redeten viel davon, dass weitere Waffengänge bevorstünden, um "die Scharte auszuwetzen".
Wenn das so war, konnte man es den Israeli doch nicht verübeln, dass sie sich diese Bedrohung so weit wie möglich vom Leibe hielten.
"David und Goliath"
Trotz ihres Siegs über die arabischen Heere im Krieg von 1948 und 1949 wurden die Israeli weiterhin als der kleine David gesehen, der dem grossen und übermächtigen Goliath entgegentrat und - für Viele mit Gottes Hilfe, für andere jedenfalls wundersam - sich gegen ihn zu behaupten vermochte.
Israel schritt zum Aufbau. Es brachte die "Wüste zum Blühen". Ohne dass je von den Hunderten von arabischen Dörfern die Rede war, deren Bewohner vertrieben und enteignet worden waren. Sie wurden entweder zerstört oder von israelischen Einwanderern übernommen. Das bebaute Land der palästinensischen Bauern, die den weitaus grössten Teil der Bevölkerung Palästinas ausgemacht hatten, wurde vom israelischen Staat übernommen und an Israeli abgetreten. Die verstreuten Juden in aller Welt wurden heimgeholt, auch jene, die in den arabischen Ländern lebten und sogar die aus Äthiopien.
Es gab den Kibbutz, eine neue Form des Zusammenlebens, die von den Israeli erfunden und entwickelt worden war. Junge Leute aus Europa gingen dort arbeiten. Sie wollten an dem Pionierleben teilnehmen, das möglicherweise, so glaubte man, mithelfen könnte, die europäische Sozialpolitik zu beleben. Die enthusiatischen Helfer wollten auch ihre Solidarität gegenüber den Juden erweisen, die im Weltkrieg so unmenschlich gelitten hatten.
"Bedroht durch die Araber"
Die Drohkulisse, die die arabischen Staaten gegen Israel aufbauten, besonders Ägypten unter dem Militärdiktator Abdel Nasser, wurde sehr ernst genommen. Die Sowjetunion griff zu Gunsten der Araber ein und bewaffnete sie. Israel musste sich in Grossbritannien und in Frankreich mit Waffen versorgen. Ein Krieg brach 1956 aus, nachdem Nasser den Suezkanal zu nationalisieren gewagt hatte. Die israelischen Tanks durchquerten siegreich den Sinai und standen am Suezkanal.
Frankreich und Grossbritannien griffen ein und landeten Truppen auf beiden Seiten des Kanals. Man erfuhr erst später, dass es sich dabei um ein abgekartetes Spiel handelte, das heimlich von den drei Mächten vereinbart worden war, ohne die Amerikaner einzubeziehen. Das war der Grund dafür, dass Präsident Eisenhower die drei Angreifer zum Rückzug zwang und Nasser seine militärische Niederlage in einen politischen Sieg verwandeln konnte.
All das minderte keineswegs die Sympathien der weit überwiegenden Zahl der Europäer gegenüber dem kleinen, mutigen Israel. Weiterhin galten "die Araber" und besonders die arabischen Diktatoren in Ägypten, in Syrien, von 1958 an auch im Iraq, als die bösen, gefährlichen Mächte, die das tapfere kleine Land, "den einzigen demokratischen Staat der Region" zu verschlingen gedachten. Ihre eigene Propaganda unterstrich das ja auch beständig in sehr lauten Tönen.
"Das Nahostproblem" schlechthin
Die Unruhen hörten nicht auf, durch die das tapfere und wie behauptet wurde "friedwillige" Israel von seinen gefährlichen grossen Nachbarn bedroht und bedrängt wurde. Als schliesslich Abdel Nasser Miene machte, die Meerenge von Tiran bei Scharm asch-Sheikh zu sperren, welche die einzige Ausfahrt für die israelische Schiffahrt ins Rote Meer und von dort in den Indischen Ozean abgab, und als Nasser kriegerische Drohreden gegen Israel hielt, schlug die israelische Luftwaffe überraschend zu und zerstörte die ägyptische am Boden. Dies war der Auftakt zum „Sechs Tage Krieg“, den Israel durch den Luftüberfall gewann, noch bevor er offiziell erklärt worden war. Die israelischen Truppen standen erneut am Suezkanal, ohne Luftwaffe war die ägyptische Armee in der Sinai Wüste hilflos.
Im gleichen Siegeszug schlugen die Israeli die syrische Armee und besetzten die syrische Provinz Kunaitra, die sofort umbenannt wurde in Golan. Sie vertrieben auch die jordanische Armee aus den Westjordangebieten, die seit 1949 zusammen mit dem Ostteil Jerusalems, der die Altstadt umfasst, zu Jordanien gehört hatten.
Siegestaumel, Erfolg, Beifall
Dieser gewaltige Sieg kam unerwartet für Israel und für die Aussenwelt. Er wurde in Europa und in Amerika als ein Sieg des Guten über das Böse gefeiert. Er schien eine zweite Geburt Israels zu markieren; aus Kleinisrael war Grossisrael geworden, das sich vom Suezkanal bis zum Jordan erstreckte. Die westliche Aussenwelt bejubelte Israel. Das amerikanische Publikum war möglicherweise noch mehr fasziniert von dem Blitzsieg der israelischen "Verteidigungskräfte", wie sie offiziell heissen, als die Europäer.
Dass auch ein neuer Exodus von Palästinensern aus den Westjordangebieten über den Jordan und aus der syrischen Provinz Kunaitra (die zu Golan umgetauft wurde) nach Syien zustande kam, wurde kaum zur Kenntnis genommen.
Die Vertreter der arabischen Staaten versammelten sich in Khartum und erklärten drei mal nein; es gebe keinen Frieden mit Israel, kein Ende des arabischen Boykotts, der nach 1949 ausgerufen worden war, und keine Verhandlungen. Die Europäer schüttelten ihre Köpfe ob soviel fanatischer Halsstarrigkeit. Das Prestige Israels erreichte weltweit einen Höhepunkt. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg.
Die USA als der Partner schlechthin
In den folgenden Jahren baute der israelische Staat sein Verhältnis zu den Vereinigten Staaten aus. Ihr Staat wurde im Schachbrett des Kalten Krieges zum "unversenkbaren Flugzeugträger der Amerikaner im Nahen Osten". Eine enge Verschränkung der amerikanischen Wirtschaft und der israelischen entwickelte sich. Besonders intensiv wurde die Zusammenarbeit im Bereich der hochtechnologischen Waffenproduktion.
Geldströme flossen nach Israel. Die Sozialutopie der Kibbuzim aber schmolz im Feuer des Konsumkapitalismus dahin. AIPAC, die israelische Lobby in den Staaten wurde ausgebaut und gewann gewaltigen Einfluss, besonders auf das amerikanische Parlament. Die israelische Diplomatie, israelische Militärs und Geheimdienstspezialisten gewannen Ansehen und Gewicht in Iran und in der Türkei, sie dehnten ihre Aktivitäten bis nach Afrika aus. Prestige und Mythos der israelischen Geheimdienste stiegen meteorisch auf.
Der Eindruck entstand, die amerikanische Nahostpolitik werde weitgehend in Israel entworfen und von Israel bestimmt. Die europäischen Staaten glaubten, sie könnten nicht viel anderes tun, als dem israelisch-amerikanischen Machtgebilde ihren Respekt zu erweisen und sich ehrfürchtig vor ihm zu verneigen. Als De Gaulle einmal fallen liess, "Israel exagère" – „Israel übertreibt“ -, wurde es als eine Weltsensation empfunden, dass sich der französische Staatschef dermassen respektlos und kritisch über das erfolgreichste aller Länder zu äussern wagte.
Der zweite Teil über die Sichtweise der Palästinenser erscheint am Donnerstag, den 20. Dezember 2012, im Journal21