Mitten in der Kölner Altstadt, gleichsam angedockt an den ehrwürdigen Gürzenich und flankiert vom berühmten Wallraff-Richartz-Museum, befindet sich die Ruine von St. Alban. Die im Krieg zerstörte, gotische Kirche aus dem frühen Mittelalter wurde bewusst nicht wieder aufgebaut, sondern – sozusagen ein steinernes Skelett – als Mahnmal gegen Krieg im Allgemeinen und zum Gedenken an die Toten der beiden Weltkriege belassen. Zusammen mit der Präsentation zweiter steinerner Gestalten, den von der begnadeten Zeichnerin und Skulpteurin Käthe Kollwitz geschaffenen „Trauernden Eltern“, war St. Alban seit dem 21. Mai 1959 bis zur deutschen Wiedervereinigung das „Bundesehrenmal“.
Damals, Ende Mai 1959, hatte der erste deutsche Bundespräsident, Theodor Heuss, die beiden mannsgrossen Figuren offiziell der Öffentlichkeit freigegeben – auf Wunsch von Käthe Kollwitz´ älterem Sohn Hans. Die Steinmetzarbeiten am Körper des Vaters waren ausgeführt worden von einem Meisterschüler der Düsseldorfer Kunstakademie. Sein Name – Josef Beuys. Allerdings sind die „Trauernden Eltern“ von Köln, ungeachtet der perfekten Ausarbeitung, nur Kopien. Die Originale aus Granit stehen rund 400 Kilometer westlich, unweit des belgischen Städtchens Diksmuide, am Rande des Dorfes Vladslo, auf dem der grossen deutschen Soldatenfriedhöfe aus dem 1. Weltkrieg. Ein Besuch dort zwingt zu tiefem Nachdenken.
Ein Bild unendlicher Trauer
Selbst wenn dieser alles durchdringende, kalte Regen nicht über das flache Land fegte, würde der Anblick der zwei knienden Gestalten frösteln machen. Grau alle beide. Der Mann hat die Schultern hochgezogen, die Arme eng um den Oberkörper geschlungen. Als ob er nur noch auf diese Weise wenigstens irgendwie Haltung bewahren könnte. Das Gesicht: eingefallene Wangen, verschlossene Lippen, die Mundwinkel verbittert nach unten gezogen. Aber der Rücken ist kerzengerade aufrecht. Und erhoben, Würde ausstrahlend, genauso das Haupt. Der leicht zum Boden gerichtete Blick konzentriert sich auf nichts Spezielles; er scheint sich im Unendlichen zu verlieren.
Sehr ähnlich, und dennoch wieder ganz anders, die Frau. Auch ihre Hände verkrampfen sich, Halt suchend, im Stoff des Mantels. Die linke Kragenseite ist schützend ans Gesicht gezogen. Nein, dieser Mensch will nicht einmal mehr auch nur den Schein von Stärke vorgeben. Er ist nur noch verzweifelt. Ein tiefer Schmerz zwingt den Rücken in die Beuge. Die Augen sind geschlossen, als wollten sie diese Welt nicht mehr sehen.
Die zwei sind ein einziges Bild unendlicher Trauer; ein trauerndes Elternpaar. Käthe Kollwitz, die grosse Zeichnerin vor allem der kleinen, geknechteten, im Schatten des Lebens stehenden Menschen, hat es geschaffen und ihm zugleich auch diesen Namen gegeben. Ein Denkmal auf dem deutschen Soldatenfriedhof aus dem 1. Weltkrieg am Rande des kleinen westflandrischen Dorfes Vladslo, nur einen Steinwurf von dem malerischen belgischen Städtchen Diksmuide entfernt.
Holzkreuzchen mit „poppies“
Der stille Platz im Praatswald – hier stehen die „Trauernden Eltern“. Vor allem Belgier zieht es dorthin, aber auch Scharen von Briten. Deutsche, seltsamerweise, weniger. Immer wieder bleibt der Blick an kleinen Holzkreuzen mit der papiernen Mohnblume hängen, wie sie die Engländer auf den Gräbern ihrer Gefallenen niederlegen. „We shall remember“, steht darauf zu lesen – „wir erinnern uns“. Dort, wo sich im Herbst 1914 der deutsche Vormarsch im künstlich überfluteten Gelände festgelaufen hatte, wo am Yser-Kanal in den folgenden vier Jahren hunderttausende Deutsche, Briten, Franzosen, Belgier, Australier und andere in der Kriegshölle der Westfront gefallen, gestorben, krepiert sind. Die Künstlerin Kollwitz, die Mutter Kollwitz vor allem, hat das Mahnmal entworfen – in Erinnerung an den Sohn Peter, Angehöriger jener zum übersteigerten Patriotismus herangezogenen Jugend, die mit dem Deutschlandlied auf den Lippen in die MG-Garben gelaufen ist bei Langemarck, Ypern, Diksmuide, Nieuwport und wie die zu Symbolen des Grauens gewordenen Orte alle heissen.
Peter Kollwitz hatte sich freiwillig gemeldet. Sein Tod kam schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn. Am 23. Oktober 1914 ist er (der „Musketier“, wie es auf einer Grabplatte zu Füssen der steinernen Eltern geschrieben steht) bei einem Sturmangriff auf Diksmuide gefallen. Knapp 18 Jahre erst alt. Vielleicht war es ja sogar die Attacke, über die ein Kommandant des 11. Belgischen Linienregiments in der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober in seinem Tagebuch festhielt: „Er (der Feind) hat zahllose frische Truppen vor der Stadt zusammengezogen und den Befehl gegeben, koste es was es wolle, die Stellung zu nehmen. Kaum zurückgeschlagen, gruppieren sie sich erneut zum Angriff, und das mit immer grösser werdender Stosskraft. Was hat man diesen Männern versprochen, dass sie sich so töten lassen ...? Sie erreichen die Laufgräben nur, um hier den Tod zu finden.“ Der deutsche Heeresbericht verzeichnete an diesem Tag lediglich „unerwarteten Widerstand, der uns jedoch nicht aufhalten wird“.
Schwarze Granittafeln mit je 20 Namen
Ausweislich ihrer eigenen Notizen hatte Käthe Kollwitz bereits am 1. Dezember 1914 den Plan gefasst, ein Denkmal zu schaffen. Ihrem Sohn Peter zu Ehren, aber auch all den anderen ins Verderben geschickten Männern, von denen aus Deutschland 134'000 in Flandern beerdigt sind; allein 25'644 unter den mit jeweils bis zu 20 Namen versehenen schwarzen Granittafeln in Vladslo. Freilich sollten bis zum letzten Hammerschlag an den beiden steinernen Gestalten noch 18 Jahre vergehen. Ein genauso langer Zeitraum also, wie zuvor das Leben des Sohnes währte.
„Hier liegt die Jugend“, wollte die Skulpteurin zunächst in Granit meisseln. Dann verwarf sie die Idee wieder. Zeitweise sogar schien ihr, die doch mit Kohle und Stift so unnachahmlich Schrecken und Mitleid auf Papier zu bannen verstand, mit den Plastiken überhaupt nichts zu gelingen. Bis schliesslich (beeinflusst durch Ernst Barlach) der Gedanke reifte, den „Trauernden“ einfach ihre und ihres Mannes Züge zu geben – also die von Käthe und Karl Kollwitz. Am 24. Juni 1932, endlich, wurden die zwei lebensgrossen Granitgestalten aufgestellt. Allerdings noch nicht in Vladslo, sondern auf dem kleinen, einsam in den weiten Feldern der Yser-Landschaft gelegenen und erst 1965 aufgelösten Soldatenfriedhof Roggeveld. Das Echo war seinerzeit keineswegs durchgehend freundlich. Noch immer unter dem Eindruck der vier fürchterlichen Kriegsjahre stehend, mochten nicht wenige Flamen in den „Trauernden Eltern“ nicht die gebrochene Mutter und den zerstörten Vater erblicken, als vielmehr in Stein gehauene Feind und Feindin. Als „Mette“ und „Pette“, „Manten“ und „Kalle“ wurden die Statuen verspottet.
„So sieht keine deutsche Mutter aus“!
Und daheim in Deutschland? Dass das NSDAP-Organ „Völkischer Beobachter“ der von Gram gebeugten Frauenfigur nachsagte, so sehe „eine deutsche Mutter hier Gott sei Dank nicht aus“, erstaunt nicht. Aber es waren eben nicht nur die Nazis, denen der fehlende Heroismus missfiel. Der (noch heute) über dem Tor zum grössten deutschen Soldatenfriedhof in Belgien, Langemarck, prangende Satz des Dichters Heinrich Lersch „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“ – er passte besser zu einem Zeitgeist, der nur sieben Jahre später einen neuen, noch schrecklicheren Krieg gebar.
Inzwischen ist die ruhige Stätte unter den Eichen des Praatswaldes bei Vladslo wohl gerade wegen der Kollwitz-Figuren ein viel besuchter Ort. Schier endlos scheinen die Reihen der Grabplatten und Kreuze, die zu den „Trauernden“ führen. Peter Kollwitz liegt genau zu Füssen seiner versteinerten Eltern.
PS: Der Autor, langjähriger Zeitungskorrespondent in Brüssel, ist mehr als nur einmal an den Gräberfeldern in Flandern gewesen. Nicht selten, sondern besonders dann, wenn das Kleinklein und die national überbordenden Interessen wieder einmal die Europapolitik bestimmten. Es war dann der Gang durch die schier endlosen Reihen der weissen Steinkreuze und dunklen Granitplatten, der schliesslich immer wieder das Bewusstsein dafür zurecht rückte, welche grandiose Leistung mit diesem weltweit bislang einmaligen Experiment verbunden war und ist, allein auf friedliche Weise und ohne jede Gewaltanwendung über Jahrhunderte aufgebauten Hass und gepflegte Feindschaft zu überwinden.