Gegen 9 Uhr 15 war auf der geraden Strecke, die von Merlischachen den Vierwaldstädtersee entlang nach Küssnacht führt, ein Packard-Cabriolet gegen einen Birnbaum geprallt, von der Strasse abgekommen und erst im See zum Stillstand gelangt. »Auf der Wiese lag zugedeckt und tot eine Dame, den Kopf fast zur Unkenntlichkeit eingeschlagen, hauptsächlich die rechte Gesichtshälfte.«
Der Fahrer des Wagens war an Gesicht und Arm verletzt und verweigerte jegliche Auskunft. Ein weiterer Verletzter trug Chauffeuruniform, gab seine Identität ebenfalls nicht preis, sagte den Polizisten aber: »Ich bin nicht selbst gefahren, sondern mein Herr.« Bei der Durchsuchung des Autowracks wurden zwei belgische Diplomatenpässe gefunden, die einem Ehepaar Lambert aus Brüssel gehörten, ausserdem eine auf den Comte de Réthy ausgestellte Mitgliedskarte des Schweizer Alpen-Clubs : »Telephonische Erkundigung beim S. A. C. in Luzern ergab, dass es sich beim Inhaber dieser Karte um Seine Majestät, den belgischen König Leopold, handle.«
Blick auf die Rigi
Wenig später erfuhren die Behörden, »dass die verunfallte und getötete Dame die Königin von Belgien sei«. Der mit bürokratischer Akribie ausgefüllte Totenschein hielt fest, dass »Astrid Louise Dhyra, Königin von Belgien und Prinzessin von Schweden […] wohnhaft in Brüssel (Belgien) im Königspalast« am 29. August 1935 in der Gemeinde Küssnacht am Rigi verstorben war. Den Unfallhergang rekonstruierte die Polizei aufgrund der Aussagen des Augenzeugen Friedrich Krebser.
An jenem strahlend blauen Spätsommermorgen war der 27-jährige Spenglergeselle zu Fuss unterwegs von Küssnacht nach Merlischachen, als ihm zwei Wagen mit belgischen Nummernschildern entgegenkamen : »Die Dame im ersten Auto hielt eine Auto-Karte in den Händen und zeigte mit dem ausgestreckten rechten Arm nach dem Rigi. Der Herr, der das Auto lenkte, sprach mit der Dame und schaute ebenfalls nach dem Rigi.«
"Die Dame wollte herausspringen"
Der Wagen geriet danach mit den rechten Rädern auf ein kleines Mäuerchen am Strassenrand. Um von diesem herunterzukommen, gab der Fahrer Gas. »Der Wagen bekam dann einen Ruck, stiess an den Baum, der jenseits der Mauer war, und fuhr die Böschung hinunter. Bevor der Lenker Gas gab, öffnete die Dame die Türe, sie wollte vermutlich hinausspringen. Die Dame wurde dann auf den Rasen geworfen, wo sie liegenblieb.
Beim zweiten Baum, wo das Auto ebenfalls anstiess, bekam es einen Ruck, ich sah, wie der Chauffeur hinaussprang und auf die Strasse hinaufsprang. Er sprach schnell mit dem zweiten belgischen Auto etwas, dieses fuhr schnell gegen Küssnacht. Dann sprang er zu der immer noch am gleichen Platz liegenden Dame und nahm sie in seine Arme.
Gestorben in den Armen des Königs
Das zweite belgische Auto, das inzwischen wieder herangekommen war, hielt an, der Herr und die Dame stiegen schnell aus, räumten die Polster heraus und wollten die verletzte Dame ins Auto tragen, der Chauffeur winkte aber ab, mit dem Zeichen, die Dame liegen zu lassen.
Von Küssnacht her kam dann Herr Baer mit seinem Auto gefahren, er stieg sofort aus und eilte zur Dame, er griff ihr den Puls, wie er dann sagte, lebte die Dame damals noch, sie war aber bewusstlos. Der Chauffeur hielt die Dame immer noch in den Händen, er küsste sie dann mehrmals, schliesslich legte er sie auf den Boden, nachdem er sie zuletzt wenigstens 5 Minuten lang in den Armen gehalten hatte.«
Der Hobby-Papparazzo
Zu diesem Zeitpunkt waren am Unfallort schon mehrere Schaulustige eingetroffen, darunter der 25-jährige Medizinstudent Willy Rogg. Sein bei der Gemeinde Küssnacht als Amtsschreiber tätiger Vater hatte ihn angerufen, auf der Luzernerstrasse habe es einen Unfall gegeben, den er fotografieren könne, »vermutlich mit hochgestellten Leuten«. Rogg bestieg augenblicklich sein Fahrrad und fuhr zur Unglücksstelle.
Fünfzig Jahre später gab der inzwischen pensionierte Mediziner zu Protokoll, er habe zunächst »der am Boden liegenden Frau noch den Puls kontrolliert. Ihr Herz habe aber nicht mehr geschlagen«. Danach machte er insgesamt sechs Fotos, die hauptsächlich das völlig zerstörte Auto zeigen, aber auch den Moment, als die Leiche der Königin eingesargt wurde. Rogg radelte in den nächstgrößeren Ort, um die Fotos entwickeln zu lassen, kehrte zur Unglücksstätte zurück und verkaufte die Aufnahmen einem inzwischen eingetroffenen Journalisten von Associated Press für je 100 Franken. Die Agentur charterte ein Flugzeug und liess die Fotos zum nächstgelegenen Bildfunkgerät nach London fliegen. Weniger als 24 Stunden nach dem Unfall standen die Aufnahmen somit der Weltpresse zur Verfügung.
"In einem Zustand der Verzweiflung"
In Küssnacht hatte Willy Rogg zwischenzeitlich einen Anruf des belgischen Aussenministers Paul-Henri Spaak erhalten, der ihn im Auftrag des Königshauses bat, die Bilder nicht zu veröffentlichen. »Je regrette, die Bilder sind bereits in London«, antwortete Rogg, versicherte dem Minister aber, die Fotos seien aus Distanz aufgenommen worden und ohne sensationellen Einschlag. »Damals stand bei der Presse ja die Pietät noch vor der Sensation«, behauptete der Hobbypaparazzo 1985 in einem Interview.
Der Leichnam der Königin wurde in das Feriendomizil der belgischen Königsfamilie überführt, der Villa Haslihorn in Horw am Vierwaldstättersee. Gegen 19 Uhr traf dort der schweizerische Botschafter in Brüssel ein und drückte König Leopold das Beileid seiner Regierung aus: »Ich habe ihn in einem derartigen Zustand der Verzweiflung vorgefunden, dass ich nur wenige Momente bei ihm blieb. Er hat mir und dem Bundesrat aber nachdrücklich für meine Anwesenheit gedankt.«
Nächtliche Fahrt nach Brüssel
Der Botschafter begab sich anschließend zum Spezialzug, der die Leiche der Königin zusammen mit Leopold, seiner Entourage und dem per Flugzeug angereisten belgischen Premierminister Paul van Zeeland noch am Abend von Luzern zurück nach Brüssel brachte. Gemeinsam mit Regierungschef van Zeeland, der »Tränen in den Augen« hatte, begutachtete Botschafter Barbey »den Gepäckwagen, in welchem die königliche Leiche aufgebahrt war. Der Sarg war von Blumen und Kränzen umgeben. Es herrschte beinahe völlige Dunkelheit. Auf dem Boden standen zwei oder drei Laternen von der Sorte, wie sie Bahnangestellte mit sich führen. Natürlich war das alles sehr schlicht, und vielleicht hätte man mit Hilfe eines Bestattungsunternehmens einige schwarze Tücher im Waggon aufhängen können. Doch angesichts der kurzen Zeit, die seit dem Unfall verstrichen war, und der Eile, mit welcher die Abreise organisiert wurde, denke ich, dass die Schweizerischen Bundesbahnen alles in ihrer Macht Stehende getan haben.«
Der Botschafter und zwei hohe Schweizer Militärs begleiteten den Trauerzug bis an die Grenze nach Basel. Dort wohnte eine grosse Menschenmenge »schweigend und mit entblösstem Haupt« der Überführung des Leichenwagens an den Elsässischen Bahnhof bei, von wo aus die Fahrt kurz nach Mitternacht in Richtung Brüssel weiterging.
Das moderne Traumpaar
Die Nachricht vom Tod der Königin wurde in Belgien um 12 Uhr 15 am Unglückstag per Rundfunk verbreitet. »In tiefer Bestürzung drängten die Leute nach anderen Informationsquellen, um mehr zu erfahren und sich von der kaum glaubhaften Tatsache eine Bestätigung zu verschaffen«, notierte der Brüsseler Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. »Um 13 Uhr 30 sollten die grossen Druckmaschinen des ›Soir‹ die ersten Blätter fertiggestellt haben. Das Publikum verfolgte mit einer schwer zu beschreibenden Unruhe die Arbeiten in der Druckerei. Man wusste, dass diese Matrizen die Todesnachricht der noch nicht 30-jährigen Königin verbreiten würden. Mit einer halben Stunde Verspätung konnte endlich die drängende Menge die ersten Zeitungen den Verkäufern aus den Händen reissen.
Trauer verbreitete sich überall, langsam wurden die Fahnen der festlich geschmückten Stadt auf Halbmast gehisst. Die Weltausstellung, die vom König und der Königin so glanzvoll eingeweiht wurde, steht gleichfalls im Zeichen der Trauer. Auch die Börse hat sofort die Geschäfte eingestellt, als die Nachricht Brüssel erreichte.« Der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung wusste um das vom belgischen Hof gepflegte Bild des modernen Traumpaars Astrid und Leopold : »Mit der Königin Astrid, die als Schwedin vor neun Jahren in die belgische Königsfamilie aufgenommen wurde, verliert Leopold III. seine sehr geliebte Gattin, die ihm bei den meisten öffentlichen Repräsentationen zur Seite stand und die ihren Kindern, den Prinzen und der Prinzessin, eine treffliche Mutter war.«
Die Ärmsten mit Kleider versorgt
Auch das karitative Engagement und der Einsatz der Königin bei Tragödien aller Art erwähnte der Schweizer Journalist lobend. In der noch keine zwei Jahre dauernden Regentschaft Leopolds habe sich seine Frau »in Wohltätigkeit geübt und mit regem Interesse an den Sorgen ihres Volkes teilgenommen. Man erinnert sich noch gut an den Aufruf Astrids an die wohlhabenden Schichten für eine grossangelegte Sammlung zugunsten der notleidenden Bevölkerung. Die Königin ging selbst mit materiellen Opfern voran und nahm zudem die Naturalgaben persönlich in Empfang. Sie scheute sich nicht, selbst den ärmsten Bergarbeiterfamilien Nahrungsmittel und Kleider zu bringen. Bei Bergwerkskatastrophen sah man die Königin in den Spitälern den verunglückten Arbeitern liebevoll die Hände drücken.«
Am frühen Morgen des 30. August erreichte der Sonderzug aus Basel den ersten belgischen Bahnhof. »Schon um halb 6 Uhr befanden sich die Behörden und Vereine von Arlon, die der toten Königin den letzten Gruss übermitteln wollten, am Bahnhof. Die Glocken der St. Martinskirche läuteten. Eine grosse Menschenmenge harrte schweigend ausserhalb des Bahnhofs.« In Brüssel angelangt wurde der Sarg auf einen motorisierten Trauerwagen geladen und von Kavalleristen begleitet zum Königspalast gefahren. Die Infanterie stand Spalier. Wie schon bei Astrids erstem Besuch in der Hauptstadt führte auch ihr letzter Weg an einem der wichtigsten Erinnerungsorte der belgischen Nation vorbei, dem Grabmahl des unbekannten Soldaten. 1926 hatte die frischgebackene belgische Kronprinzessin hier einen Kranz niedergelegt, neun Jahre später erwies ihr dort eine Delegation ehemaliger Frontkämpfer die letzte Ehre.
"Gibt es ein Haus, in dem keine Tränen vergossen wurden?"
Premierminister Paul van Zeeland hielt am Abend eine Radioansprache. Darin würdigte der Politiker die Verstorbene als vorbildliche Ehefrau und Mutter, die ihr Leben ganz in den Dienst Belgiens gestellt habe, und fügte an: »Gibt es ein Haus in Belgien, in dem keine Tränen, keine richtigen Tränen, die in den Augen brennen, um Sie vergossen worden sind?« ...
Nachdem ein tagelang nicht abbrechender Besucherstrom in einer von Kerzen beleuchteten und mit einer vierköpfigen militärischen Ehrenwache ausgestatteten Abdankungshalle im Brüsseler Königspalast von Astrids Leiche Abschied genommen hatte, wurde die Königin am 3. September beerdigt.
"Eine Welle tiefer Ergriffenheit"
Tausende hatten die Nacht im Freien verbracht, um sich einen Platz entlang der Route zu sichern, die den Trauerzug vom Königspalast zur St.-Gudule-Kathedrale und von dort zur königlichen Gruft im Schlosspark von Laeken führte. Etwa eineinhalb Millionen Menschen waren nach Brüssel geströmt, als sich um 10 Uhr 15 unter dem Geläut sämtlicher Glocken und von 33 Kanonenschüssen begleitet der von acht Pferden gezogene Sargwagen mit schwarzem Katafalk langsam in Bewegung setzte.
An erster Stelle folgte ihm zu Fuss König Leopold III., den rechten Arm in einer Schleife, über einer Gesichtswunde ein grosses weisses Pflaster. Die live im Radio übertragene Totenmesse in der St.-Gudule-Kathedrale hielt der höchste geistliche Würdenträger des Landes, der Kardinalerzbischof von Mechelen. Auf dem Weg nach Laeken bot Leopold III. seinen Untertanen das Bild des untröstlichen Witwers. Der Korrespondent des Zürcher Tagesanzeigers notierte: »Der König, dem die Tränen über die bleichen Wangen liefen, folgte zu Fuss dem Leichenwagen auf dem langen Wege nach der königlichen Familiengruft in der Kirche von Laeken […]. Eine Welle tiefer Ergriffenheit ging überall durch die Volksmassen, die ihren König schmerzgebeugt, den Blick mit abwesendem Ausdruck auf den vorausfahrenden Sarg gerichtet, vorüberschreiten sahen.«
Auch die Bremsen waren in Ordnung
Die Tatsache, dass der König selbst den Tod seiner Frau verschuldet hatte, schmälerte den enormen Nutzen nicht, den die belgische Monarchie aus der Tragödie von Küssnacht ziehen konnte. Leopold wurde von allen Seiten bedauert und bemitleidet, und niemand machte dem König auch nur den geringsten Vorwurf.
Sogar die Schweizer Polizei, deren Aufgabe es eigentlich gewesen wäre, die Schuldfrage im Zusammenhang mit dem Unfalltod einer jungen ausländischen Touristin zu stellen, tat dies nicht. Sie beschränkte sich auf die Untersuchung des Unfallwagens, bei dem alles in perfekter Ordnung war, sogar die Bremsen. Der Grund für den »tragischen Unfall«, wie das Ereignis auch in den Polizeiakten umgehend genannt wurde, blieb ungeklärt. ...
Doppelgedenkstätte für eine moderne Heilige
Die wichtigste Gedenkstätte für Königin Astrid entstand nicht in Belgien, sondern in der Schweiz. Noch am Unglückstag wurden in Küssnacht Blumen niedergelegt und die Todesstelle mit einem einfachen Holzkreuz gekennzeichnet. In einem Brief an den schweizerischen Bundespräsidenten Rudolf Minger beschreibt der pensionierte Küssnachter Bahnangestellte C. Sidler-Holzgang, wie es dazu kam: »Ich konnte die fast schmucklose, unabgesperrte und bis gegen Abend unabgegrenzte Stelle, wo Ihre Majestät Königin Astride [sic] verblutete und verschied, nicht weiter ansehen, machte die Polizei wiederholt auf die nötige Absperrung und Bezeichnung aufmerksam, holte aus meinem Garten Blumen, band diese mit Unterstützung meiner Frau zu einem eindrucksvollen, grossen Bouquet und verbrachte solches mit noch weiteren Blumen, die ich auf der Stätte streute, an die Unglücksstelle.
Daraufhin wurden noch weitere Blumengebinde von Küssnachterfrauen und Fremden an jener Stelle niedergelegt, so dass diese heute Vormittag einen sehr vorteilhaften, ergreifenden Eindruck machte.« Die Unglücksstätte verwandelte sich sofort in eine vielbesuchte Touristenattraktion. Schon eine Woche nach Astrids Tod unter nahm eine 500-köpfige belgische Reisegruppe »eine Pilgerfahrt an die Unglücksstätte, wo Ihre Majestät Astrid ihr Leben verlor«.
Auch General Guisan am Unglücksort
Doch auch viele Nichtbelgier kamen nach Küssnacht und legten Blumen nieder. Die dazugehörigen Visitenkarten haben sich zu Tausenden im königlichen Archiv in Brüssel erhalten. Ein Grossteil davon stammt aus der Schweiz. Darunter befinden sich auch Karten von Persönlichkeiten, denen man ein brennendes Interesse für ausländische Royals nicht unbedingt zutrauen würde, so zum Beispiel der Solothurner Künstler Cuno Amiet, der St. Galler Privatbankier Hermann Wegelin oder der nachmalige Heerführer der Schweizer Armee im Zweiten Weltkrieg, Henri Guisan.
Der schweizerische Aussenminister Giuseppe Motta kondolierte dem König gemeinsam mit seiner Frau: »Wir werden die Erinnerung an dieses perfekte Vorbild einer Königin, einer Ehefrau und Mutter, die wir gemeinsam mit Ihrer Majestät beweinen, sehr lebendig in unserem Herzen behalten.« ...
Verhindertes "unwürdiges Spekulationsgeschäft"
Der Küssnachter Pensionär Sidler-Holzgang, der sich als Erster um den Blumenschmuck der Unglücksstätte gekümmert hatte, machte dem Bundesrat einen Tag nach Astrids Tod den Vorschlag, die Schweiz möge die Unglücksstätte käuflich erwerben, »um sie der belgischen Nation vielleicht zur Erstellung eines Denkmals zu schenken«. Als in den nächsten Tagen weitere Bürgerbriefe mit demselben Wunsch in Bern eintrafen und die Idee auch von der Presse aufgegriffen wurde, entschloss sich der Bundesrat, die Unglücksstätte zu kaufen. Die ungewöhnliche Geste wurde damit begründet, dass der Ort sowohl dem König als auch dem belgischen Volk »begreiflicherweise für immer heilig und teuer« sei. Die Schweiz erachte es deswegen als »eine Pflicht der Pietät und Freundschaft […] dem belgischen Souverän die Todesstätte seiner Gemahlin für alle Zeiten eigentumsmässig zu überlassen«.
Das knapp 400 Quadratmeter grosse Grundstück zwischen Strasse und See gehörte zwei Besitzern. Da derjenige des grösseren Anteils sich weigerte, zum ortsüblichen Preis zu verkaufen, liess der Bundesrat das Land kurzerhand enteignen, um ein »unwürdiges Spekulationsgeschäft« zu verhindern. Vermutlich sah sich Bern zu diesem drastischen Schritt durch das peinliche Verhalten eines Küssnachter Garagisten veranlasst, bei dem das Autowrack nach dessen Bergung aus dem See eingestellt worden war. Der Unternehmer hatte in den belgischen Medien einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, weil er eine Besichtigungsgebühr von 30 Rappen erhoben hatte.
"Sein Schmerz ist noch immer so gross"
Im Juni 1936 konnte der Schweizer Botschafter in Brüssel König Leopold III. das Geschenk der Schweiz offiziell übergeben. Dem Diplomaten wurde aufgetragen, Leopold »in warmen Worten auszudrücken, wie sehr sich das ganze Schweizervolk und der Schweizerische Bundesrat mit ihm in der pietätvollen Anhänglichkeit an die Stätte verbunden fühlen, wo seine Gemahlin verschieden ist«.
Leopolds Freude am Geschenk der Schweiz wurde einzig durch die Erinnerung an den Unfall getrübt. Der Botschafter rapportierte nach Bern: »Sein Schmerz ist noch immer so gross und es fällt ihm so schwer, an diese schmerzhafte Begebenheit zu denken, dass er sehr schnell zu einem anderen Thema wechselte.«
"Hier am Ufer des stillen Sees..."
Unabhängig vom Landerwerb durch die Schweizer Regierung wurde in Belgien die Errichtung einer Gedenkstätte in Küssnacht verfolgt. Eine der wichtigsten Veteranenorganisationen des Landes, das Œuvre Nationale des Invalides de Guerre, sammelte Geld für die Errichtung einer Kapelle. Im Dezember 1935 hatte die Organisation bereits 50 000 belgische Franken zusammengetragen. Weil das Gelände an der Unfallstelle selbst so steil war und »im Einklang mit dem Wunsch des Königs« erwarben die Veteranen ein Stück Land auf der gegenüberliegenden Strassenseite und erhielten im März 1936 eine ausserordentliche Baubewilligung des Kantons Schwyz. Der Bau der Kapelle schritt schnell voran – sie wurde im Juni 1936 eingeweiht –, die architektonische Umwandlung der Unglücksstätte in ein Denkmal dauerte jedoch etwas länger. Zu Beginn des Projekts äusserte König Leopold den Wunsch, dass »der Ort in dem Zustand bleiben solle, in dem er sich zum Zeitpunkt des Unfalls befunden hatte«. ...
In Küssnacht entstand somit eine Doppelgedenkstätte aus Kapelle und Steinkreuz. Die mit belgischen Spenden finanzierte und aus belgischen Materialien erbaute Kapelle deutete den Unfall als nationale Tragödie. Neben dem Eingang befindet sich eine Inschrift auf Französisch, Flämisch und Deutsch: »Hier am Ufer dieses stillen Sees am 29. August 1935 traf ein tragischer Tod im 29. Jahr ihres lichten Lebens Astrid, Prinzessin von Schweden, Königin der Belgier.« ...
Pilgerstätte für frisch Verheiratete
Das heckenumstandene Steinkreuz an der Unglücksstätte selbst markiert die Stelle, an der Astrid in den Armen ihres Mannes gestorben war. Da ihre Ehe von Anfang an als grosse romantische Liebe kommuniziert worden war, erinnert das weisse Kreuz an ihr vorzeitiges Ende. Dass dieser Teil der Gedenkstätte mit dem romantischen Ideal der Liebesheirat aufs Engste verbunden war, war einer Besuchergruppe besonders wichtig: frischverheirateten Schweizer Paaren, die an der Unglücksstätte Blumen niederlegten.
Der Küssnachter Bürgermeister erklärte das Phänomen 1936 einem belgischen Journalisten: »Diese Brautpaare pilgern aus allen Gegenden des Kantons hierher. Die jungen Bräute in Weiss, die Sie über die Stelle gebeugt gesehen haben, an der Astrid verschieden ist, bitten diese um ihren Schutz. Ihre junge Königin ist in die Schweizer Legende eingegangen; sie ist für unsere Bevölkerung, die sie in ihren Herzen seliggesprochen hat, das Symbol der mütterlichen Liebe und der ehelichen Treue.«
Der leicht gekürzte Text stammt aus dem Buch von Alexis Schwarzenbach „Königliche Träume. Ein Kulturgeschichte der Monarchie von 1789 bis 1997, Collection Rolf Heyne, 2012 München. Das Buch erscheint 2016 auf Englisch bei Palgrave Macmillan.
(Die Zwischentitel stammen von Journal21.ch)
Alexis Schwarzenbach ist Historiker, Buchautor, Ausstellungskurator und Professor in Luzern. Er lebt in Zürich und schrieb auch für Journal21.
Siehe auch: Journal21 ... und dann wurde die Liebesheirat erfunden.