Als «tote Städte» bezeichnet man verlassene Siedlungen der Antike. Doch eine Oper aus dem 20. Jahrhundert besingt eine von radikaler Todesbefangenheit heimgesuchte heutige Stadt.
Wer immer zur Überzeugung kommt, der Ort, an dem sie oder er leben und wirken, sei tot, muss sich rasch auf und davon machen, um selbst nicht vorzeitig in die Netze nekrophiler Verstrickungen zu geraten. In vergangenen Jahrhunderten waren Kriege und Naturkatastrophen die häufigste Ursache, weshalb man auch wirtschaftlich lange erfolgreiche Wohnsiedlungen aufgab und weiterzog zu sichereren Behausungen und Kultplätzen. Zurück blieben Ruinen, Forschungsorte für heutige Archäologen und Historiker der Frühgeschichte.
Trotz aller Errungenschaften der Gründerzeit mit ihren technisch-industriellen Leistungen schleicht sich in die Wendezeit zum 20. Jahrhundert auch so etwas wie die Entdeckung der Morbidität in den Zeitgeist. Die Epoche gilt zwar bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch als «Belle Époque». Allerdings schleicht sich viel Unheimliches in die Wahrnehmung der Zeitgenossen. Die Entdeckung des Unbewussten, die analytische Durchleuchtung der Sexualität, von Traumrealitäten, von Tabus in Religionen und in den bürgerlich etablierten Geschlechterrollen: All dies öffnet den Blick für das, was Menschen auch in erfolgreichen Zeiten schwächt und krank macht.
Der Erfolg und die Emigration
Für ein Individuum kann der Tod einer geliebten Person den Wechsel eines glücklichen Lebens in ein plötzlich unerträgliches und sinnlos scheinendes auslösen. Die Zugehörigkeit zu einem geliebten Menschen kann so radikal imaginiert werden, dass nach dessen Verlust die eigene Todverfallenheit jeglichen Lebenswillen erstickt, mit traumatischen Folgen für das Weiterleben. Ein solches Schicksal erlebt Paul, die männliche Hauptfigur von Erich Wolfgang Korngolds Oper «Die tote Stadt», um die es in unserem Fall geht.
Korngold, geboren 1897 in Brünn, aufgewachsen in Wien, war das, was man ein musikalisches Wunderkind nennt. Seine Kompositionen aus der Jugendzeit waren so beliebt, dass grosse Dirigenten wie Bruno Walter, Wilhelm Furtwängler und Richard Strauss sie in ihr Repertoire aufnahmen. Ein pantomimisches Ballett des Elfjährigen namens «Der Schneemann» wurde von Korngolds Lehrer Alexander Zemlinsky orchestriert und bereits 1910 an der Wiener Hofoper uraufgeführt.
Zum grössten Erfolg seiner jungen Jahre wurde allerdings die abendfüllende dreiaktige Oper «Die tote Stadt». Ein seltener Fall in der Operngeschichte: Die Uraufführung fand am 4. Dezember 1920 gleichzeitig an zwei Opernhäusern statt, im Stadttheater Hamburg unter der Leitung von Egon Pollak und im Stadttheater Köln unter Otto Klemperer. Danach trat das Werk seinen weltweiten Siegeszug an und wurde auf den bedeutendsten Opernbühnen Europas und Amerikas gezeigt.
Bis die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen und dafür sorgten, dass keine von jüdischen Komponisten geschaffene Musik mehr gespielt werden durfte. Korngold emigrierte 1938 nach Hollywood und wurde dort bis zu seinem Tod im Jahr 1957 einer der erfolgreichsten Filmmusik-Komponisten aller Zeiten. Er kehrte zwar in den USA immer wieder zu den klassischen Formen «absoluter» Musik zurück, schrieb Instrumentalkonzerte, Serenaden, Symphonien und Bühnenmusik. Dem breiten Publikum bleibt er freilich in Erinnerung als der Schöpfer von Filmmusiken, etwa für «Robin Hood» oder «The Sea Hawk». Insgesamt sind es über zwanzig Filme, für die er die Begleitmusik komponiert oder zumindest arrangiert hat.
«Das tote Brügge»
Die in «Die tote Stadt» erzählte Geschichte beruht auf einem Roman von Georges Rodenbach aus dem Jahr 1892 mit dem Titel «Bruges-la-morte». Das Libretto verfasste Korngold zusammen mit seinem Vater Julius, der ein damals bekannter Musikkritiker war. Den Text publizierten sie dann unter dem Pseudonym Paul Schott. Das von Sohn Erich für die Vertonung eingesetzte Instrumentarium ist riesig, sozusagen «volle Pulle» bei Streichern, Bläsern und Schlagzeug, inklusive zwei Harfen, Celesta, Klavier, Harmonium, Glocken und Windmaschinen.
Scharf hinhörende Kritiker hatten bemerkt, das Orchester in «Die tote Stadt» klinge so, als wolle Korngold gleichzeitig Richard Strauss und Puccini an Farbenreichtum übertreffen. Bösartige kommentierten zu Korngolds Orchesterklang: «Mehr Korn als Gold!». Fakt bleibt bis heute, dass der junge Korngold für seine tote Stadt eine orchestrale Klangvielfalt herbeizauberte, die uns heute noch erstaunt und fasziniert, auch wenn manche sie als spätromantisch-epigonale Klangmagie abtun mögen.
Jedenfalls passt diese zur Morbidität des erzählten Inhalts allerbestens. Der bereits erwähnte Paul, dem seine geliebte Frau Marie durch den Tod entrissen wird, richtet in Erinnerung an die Verlorene in seiner Wohnung ein regelrechtes Mausoleum ein. Er nennt Maries Sterbezimmer eine «Kirche des Gewesenen», die er mit unterschiedlichen Requisiten dekoriert: einem gemalten Portrait von ihr, einem Shawl, einem Kleid, einem Musikinstrument. Geradezu wie in einem Altarschrein aufbewahrt, verwahrt er eine blonde Strähne ihrer ehemaligen Haarpracht.
Sein Freund Frank, der ihn in der Stadt besucht, wirft ihm vor, er lebe in einer Phantomwelt, sei ein Geisterseher, der die Tatsache, dass seine Geliebte gestorben sei, nicht gelten lassen wolle. Paul behauptet, einer Frau namens Marietta in der Stadt begegnet zu sein, welche keine andere als die wiedergeborene und seinem Leben neu geschenkte Marie sei. Er hat sie, die Künstlerin und Sängerin Marietta, zu sich nach Hause eingeladen. Sie hat eingewilligt und besucht den nach seiner toten Marie süchtigen Schwärmer tatsächlich auch in dessen «Tempel der Erinnerungen».
Gelebt oder geträumt?
Marietta ist eine von Lebenslust durchpulste junge Frau, die die Stadt Brügge mit ihren vielen Klöstern und Kirchen, den engen dunklen Gassen und den fauligen Brackwasserteichen als ein «totes Nest», als eine in Starre verfangene Gruft empfindet. Sie liebt die Sonne, das Vergnügen, die «tollen Freuden», hat als Sängerin allerdings eine sentimentale Neigung zu traurigen Liedern, weil sie in ihrem Wesen sonst so übermütig ist.
Damit ist das Drama zwischen Paul und Marietta vorgegeben: Er liebt an Marietta nur die Erinnerungen an Marie, sie will als Frau in ihrer unverwechselbaren, ungestümen, eigenen Art, tanzend und scherzend, im Vollrausch des Körpers und der Sinne wahrgenommen und geliebt werden. Für das, was sie ist, nicht für das, was eine andere Frau einmal war.
Wir erleben Szenen einer ausgelassenen Theaterprobe mit ihren Berufskollegen. Ebenso, wie die verstorbene Marie aus dem Portrait steigt, zur Realgestalt wird und ihrem damaligen Ehepartner den Vorwurf der Untreue macht. Wir sind weiter Zeugen einer Eifersuchtsszene zwischen Paul und seinem Freund Frank, weil dieser sich offenbar mit Marietta eingelassen hat. In einer anderen Szene blicken wir in die Seele eines Pierrots, eines traurigen Komödianten, der weiss, wie Liebe entflammt und wieder erlischt im Verlauf eines Künstlerlebens. Vor allem aber sind wir Zuschauer im «Showdown» zwischen dem todverfallenem Paul und der lebensgierigen Marietta. Die Konfrontation endet damit, dass Paul Marietta mit der goldenen Haarsträhne Maries erwürgt. Pauls Kommentar über die tot vor ihm liegende Marietta: «Jetzt gleicht sie ihr ganz – Marie!»
Phantasmagorie
Offenbar wohnten wir in weiten Teilen der Oper einer reinen Phantasmagorie bei, einer Vorführung verführerischer Trugbilder, die sich nicht in der Realität, sondern nur im Kopf und in verängstigten Traumbildern eines todessüchtigen Liebhabers abspielten. Denn am Schluss dringt die Realität wieder durch. Marietta lebt, Paul verlässt «Die tote Stadt» und erkennt: «Die Toten schicken solche Träume, wenn wir zu viel mit und in ihnen leben.» Endlich hat er es verstanden: «Hier gibt es kein Auferstehn.»
«Mariettas Lied» aus dem 1. Akt ist (unter wenigen anderen) eine jener Passagen, die – den Zeitgeist der Jahrhundertwende überwindend – noch heute zu den Erfahrungen von Opernfreunden gehören, die sie nicht missen wollen. Die Bayerische Staatsoper hat 2019 mit der Produktion dieses Werks vorgeführt, was heutzutage von einem ideenreichen Regisseur wie Simon Stone, einem dirigierenden Klangfarbenmagier wie Kirill Petrenko, einer Marie-Marietta-Sängerin wie Marlis Petersen, einem Paul-Sänger wie Jonas Kaufmann und einem stimmlich und spielfreudig grandios disponierten Ensemble immer noch zu erleben ist – auch wenn man Stoff und Stil dieser Oper als zeithistorisch etwas rückwärtsorientiert empfinden mag. (Die Aufführung ist 2021 als DVD erschienen.)
«Mariettas Lied» ist für diese Oper auch leitmotivisch eine Schlüsselszene. Es ist der Augenblick der entstehenden Neigung zwischen Menschen, die zueinander zu passen scheinen, beruhend auf dem «Glück, das mir verblieb». Da schwingt sich die Hoffnung himmelwärts. Da will man das Pochen des Herzens nicht nur in sich hören, sondern «Herz an Herz» mit einem geliebten Menschen sein, möglichst nahe beieinander. «Rück zu mir, mein teures Lieb»: Das ist der Wunsch, der im Augenblick einer wachsenden Leidenschaft entsteht bei Paul, der eine Tote liebt, und bei Marietta, die im Diesseits Glück und Erfüllung sucht.
«Das dumme Lied, es hat uns ganz verzaubert» ist der Abschlusskommentar von Marietta, der klugen Frau, die begriffen hat, dass mit einem Todessüchtigen ein glückliches Leben im Grunde nicht möglich ist.
Wir hören hier „Mariettas Lied“ in einer konzertanten Darbietung des Tenors Jonas Kaufmann als Paul und der Sopranistin Julia Kleiter als Marietta aus dem Jahr 2014 mit Jochen Rieder am Dirigentenpult des Rundfunk Sinfonieorchesters Berlin.