Die Demonstrationen vom 30. Juni in Kairo und in allen Provinzstädten Ägyptens haben die meisten Beobachter dadurch überrascht, dass sie noch grösser ausgefallen waren als erwartet. Es dürfte sich um die grössten Demonstrationen gehandelt haben, die das Land seit Beginn der ägyptischen Revolution in den Januartagen des Jahres 2011 sah. Diesmal jedoch waren die Demonstranten gespalten: für und gegen Präsident Morsi.
Distanz zwischen Morsis Feinden und Freunden
Die Gegner Morsi hatten das klassische Demonstrationszentrum, den Tahrir Platz, besetzt, die Anhänger Morsis vorsichtshalber einen recht weit davon entfernten Platz vor der Raba al-Adwiya Moschee im Vorstadtviertel Nasr City. Viele der Morsi Anhänger waren in Autobussen aus den umliegenden Dörfern dorthin transportiert worden. Es herrschte unter ihnen eine Art Festatmosphäre mit Fahnen, Tanzbewegungen und Slogans, die Mursi hoch leben liessen.
Die Sprecher der Bruderschaft behaupteten frischweg, vier Millionen hätten für Morsi demonstriert. Eine Zahl die gewaltig übertrieben sein dürfte. Doch die Anhänger Morsis sind wohl geneigt, ihr Glauben zu schenken. Der Platz ihrer Demonstrationen ist viel zu klein, um eine dermassen gewaltige Menge zu fassen. Wahrscheinlich waren es zwischen hunderttausend und zweihunderttausend.
Zorn auf Morsi
Die Anti-Morsi-Massen, vielleicht eine halbe Million, brachten Zorn und Verzweiflung zum Ausdruck. Dass sie so massiv in die Strassen kamen, hatte zweifellos viel mit den wirtschaftlichen Zuständen zu tun, die in Morsis Ägypten herrschen: Teuerung, Arbeitslosigkeit, vor allem der Jugend, Mangel an Gas und Benzin, keine wirklichen Aussichten auf Besserung. Dazu kommt noch eine sich beständig verschlechternde Sicherheitslage All dies wird umso bitterer aufgenommen, als nach dem Sturz Mubaraks gewaltiger Optimismus bestand. Man hatte geglaubt, dass nun alles besser werde. Doch es wurde alles bedeutend schlechter.
"Morsi ist schuld daran!", war das überwiegende Urteil. "Seine Gruppierung, die Muslimbrüder, sind nur darauf aus, die Macht für sich zu monopolisieren. Wenn Ägypten dabei zugrunde geht, schert es sie nicht!".
Die Armee beobachtet
Polizei und Armee befanden sich auf den Strassen. Doch sie schritten nicht gegen die Demonstranten ein. Es gab sogar Polizeioffiziere, die auf dem Tahrir Platz Reden hielten, und den Soldaten wurde zugejubelt. Im Vorfeld der Demonstrationen hatte der Verteidigungsminister und Oberkommandant der Armee, General Abdel Fattah as-Sissi, in einer öffentlichen Ansprache übers Fernsehen klar gemacht, dass die Streitkräfte nicht auf das Volk schiessen würden. Er mahnte aber auch: wenn die Ordnung zusammenbräche und Ägypten gefährdet sei, könne die Armee nicht vermeiden, einzugreifen, um das Land zu retten.
Dies dürfte ein wichtiger Grund dafür gewesen sein, dass die - regierenden - Muslimbrüder vermieden, ihre Demonstranten zum Gegenstoss gegen die Protestbewegung anzusetzen und statt dessen Loyalitätskundgebungen für Morsi an einem entfernten Standort organisierten.
Angriff auf das Hauptquartier der Brüder
Erst am frühen Morgen des 1. Juli kam es zu gewaltsamen Zusammenstössen. Eine Gruppe von "einigen Dutzend" (wie Augenzeugen berichteten) Protestdemonstranten griffen das Hauptquartier der Muslimbrüder im Muqattam Quartier von Kairo mit Molotowcocktails an, und begannen es in Brand zu stecken. Das Gebäude war schon zuvor mehrmals Ziel von gewaltsamen Angriffen gewesen.
Nach Darstellung der staatlichen Presseagentur, MENA, brach daraufhin eine Gruppe von Muslimbrüdern aus dem belagerten Hauptquartier aus. Sie sollen bewaffnet gewesen sein und das Feuer eröffnet haben. Es habe dabei sieben Tote und 46 Verletzte gegeben. Einer der Brüder sei von den Belagerern gefangen genommen und der Polizei übergeben worden. Später wurde das verlassene Hauptquartier der Brüder von der Bevölkerung geplündert und niedergebrannt. Die Polizei scheint nicht eingeschritten zu sein.
Ultimatum an Morsi
Am Morgen nach den Demonstrationen blieben relativ wenige Personen auf dem Tahrir Platz zurück. Doch Aktivisten der Protestbewegung, die sich nun die "Bewegung vom 30.Juni" nennt, bildeten Ketten vor dem am Platz gelegenen Hauptbureaukomplex der Regierung, dem legendären Mugam'a, um die vielen Hundert Beamten daran zu hindern, ihre Arbeit aufzunehmen. Die Bewegung rief zu einem Generalstreik auf, zu einem "Millionenmarsch" am Dienstag, und sie gab bekannt, sie habe Mursi ein "Ultimatum" unterbreitet, das fordere, er habe bis zum Dienstag um 17h sein Amt zu räumen und den höchsten Behörden, unter ihnen die obersten Richter, die Organisation neuer Präsidentschaftswahlen zu überlassen. Wenn er dem Ultimatum nicht Folge leiste, habe Morsi eine Kampagne "restlosen zivilen Ungehorsams" zu gewärtigen.
Dass Morsi dem nachkommen könnte, ist unwahrscheinlich. Doch denkbar ist, dass er versuchen wird, an der Macht zu bleiben und einige Konzessionen einzuräumen, etwa im Bereich der umstrittenen Verfassung, die noch einmal revidiert werden könnte, oder auch in Bezug auf vorgezogene Präsidentschaftswahlen, nach den längst fälligen aber immer wieder verschobenen Parlamentswahlen. Ein Sprecher der Präsidentschaft hat solche Möglichkeiten angedeutet. Doch die Protestbewegung hat sofort erklärt, dafür sei es zu spät. Halbe Massnahmen seien nicht annehmbar. Morsi müsse gehen.
Initiative der Revolutionäre
Es ist bemerkenswert, dass die neuen politischen Proteste nicht von der sogenannten "Nationalen Rettungsfront" (NSF) ausgehen, dem Zusammenschluss bürgerlicher, rechter rund linker Parteien gegen die "Herrschaft der Muslimbrüder", sondern von der Protestbewegung, die sich nun die "Bewegung des 30. Juni" nennt. Sie hat die Idee der Unterschriftensammlung gegen Morsi lanciert (die nun auf 22 Millionen Unterschriften gekommen sein soll) und sie hat die Vorbereitungen für die jüngste Grossdemonstration während eines Monates betrieben.
Die NSF ist auf diesen Wagen aufgesprungen, und sie befindet sich nach wie vor in der Nachhut. Ihre drei wichtigsten politischen Führer wollten am Montag zusammenkommen, um darüber zu beraten, was nun nach den Grossdemonstrationen zu geschehen habe. Die Träger des "30. Juni", das sind ohne Zweifel die gleichen Kreise, die schon die Revolution gegen Mubarak angefacht hatten, haben bereits die Initiative ergriffen und ihr "revolutionäres" Programm vorgegeben.
Die "Nur" Partei in der Mitte
Zum Wort gemeldet hat sich auch das Oberhaupt der salafistischen "Nur" (Licht) Partei, der Dentist Younis Makhyoun. "Nur" ist die grösste der salafistischen Parteien. Sie hat in den vom Verfassungsgericht für ungültig erklärten Parlamentswahlen von 2011 die zweitgrösste Stimmenzahl nach den Muslimbrüdern erlangt.
Ihre Politiker haben mit den Brüdern zusammengearbeitet, um die gegenwärtige Verfassung zu formulieren und durchzupeitschen. Sie ergriffen damals die Gelegenheit, um einige Paragraphen in den Verfassungsentwurf einzubringen, die eng fundamentalistische Interpretationen im Sinne der Salafisten, zwar nicht vorschreiben, aber ermöglichen.
Auf Distanz von den Brüdern
Später jedoch hat sich die Nur Partei von den Brüdern entfernt. Sie klagte sie an, sie wollten alle Positionen im Staate mit ihren eigenen Leuten besetzen. Andere, kleinere salafistische Gruppierungen, stehen weiterhin auf Seiten der Brüder und Morsis.
Der Leiter der Nur Partei erklärte, Morsi habe Fehler begangen, und es sei zwingend, dass er nun bedeutende Konzessionen mache. Ihn jedoch absetzen zu wollen, sei falsch, weil es gegen die Verfassung verstosse. Er schlug vor, eine neue Regierung von Technokraten könne gebildet werden, um die kommenden Parlamentswahlen zu beaufsichtigen. Er hatte harte Worte für Morsi, dieser nehme an, es handle sich um Massendemonstrationen wie die vorausgehenden. Es werde einige Verluste geben, und dann würden die Dinge sich normalisieren. Doch diesmal sei es anders. Er fügte hinzu: "Wir wollen diese Krise nicht überstehen, wir wollen sie lösen".
Wer "repräsentiert" Ägypten?
Makhyoun kritisierte auch die Demonstranten. Sie seien gut, sagte er, hinter den Mikrophonen und wenn es darum gehe, auf den Wellen der Empörung zu reiten. Doch sie repräsentierten nicht das ägyptische Volk. Er sagte auch, möglicherweise sei es bereits zu spät für Morsi, und er fügte hinzu: "Was ich fürchte ist, dass die Armee gezwungen sein könnte, in das politische Leben einzugreifen, wenn Ägypten ins Chaos gleitet. Wenn wir einen Zustand erreichen, in dem es darum geht, zwischen der Armee und Bürgerkrieg zu wählen, dann ist es natürlich, dass wir sagen: Ja, die Armee!"
Die Nachfolge der Brüder?
Offensichtlich sucht Makhyun seine Partei zu positionieren. Sie kann in der Tat damit rechnen, dass ihr in künftigen Wahlen ein guter Teil der Stimmen der von den Brüdern enttäuschten, eher konservativen, Gläubigen zufällt. Vielleicht würde sie dadurch sogar zur ersten Partei Ägyptens. Doch schon heute ist klar, dass eine derartige Entwicklung die ägyptische Krise eher verschärfen als lösen würde. Denn Nur ist ohne Zweifel noch islamischer, im fundamentalistischen Sinne, als die Brüder es sind, und die säkulare Hälfte der ägyptischen Gesellschaft würde sich wohl noch mehr gegen ihr Regiment auflehnen, als sie dies gegenwärtig gegen jenes der Brüder tut.
Ultimatum der Militärs
Am Nachmittag des 1. Juni liess die Armee übers Fernsehen verkünden, sie gebe den politischen Parteien 48 Stunden, um sich untereinander zu einigen. Wenn sie dies nicht täten, werde die Armee einen "Fahrplan" aufstellen (das Modewort "road map" wurde verwendet) und Anordnungen treffen, wie dieser Plan durchzuführen und zu überwachen sei. Am Schluss dieser Ankündigung wurde das Bild des Generals as-Sisi gezeigt. Die Menge auf dem Tahrirplatz jubelte ihm zu und skandierte, "Morsi ist nicht mehr unser Präsident, Sissi ist mit uns". Kurz zuvor war gemeldet worden, dass vier Minister aus der von Morsi ernannten Regierung zurückgetreten seien. Dies sind die Minister für Tourismus, für Umwelt, für Kommunikation und für juristische und parlamentarische Angelegenheiten.