Doch während die Nato-Alliierten von spürbaren Fortschritten im Kampf gegen die Taliban sprechen, reagieren die Widerstandskämpfer mit Taten. Während zweier Tage terrorisierten Taliban am Wochenende vorübergehend Teile der Stadt Kandahar und im April befreiten sie nahezu 500 inhaftierte Mitstreiter, unter ihnen mutmasslich mehr als 100 Kommandanten, aus einem lokalen Gefängnis. Wohin tendiert dieser Krieg, der die USA 10 Milliarden Dollar pro Monat und Afghanistan viele unschuldige Menschenleben kostet?
Zwar ist es Truppen der Nato und der afghanischen Regierung Anfang Woche gelungen, jene Quartiere Kandahars zu befreien, in die über 60 schwer bewaffnete Kämpfer der Taliban überraschend eingedrungen waren. Bei den Kämpfen sind gemäss Provinzgouverneur Tooryalai Wese elf Aufständische, zwei Soldaten und drei Zivilisten getötet worden. Zudem hätten sich sieben Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt. Dutzende Menschen wurden verwundet. Der Angriff auf Kandahar war eine der heftigsten und am besten koordinierten Attacken der Taliban in städtischer Umgebung seit Beginn des Krieges vor zehn Jahren. Den Aufständischen zufolge war das Unternehmen vom Wochenende Teil einer neuen „pschologischen Kriegsführung“.
Komplizen in der Stadt
„Ganz Kandahar hat sehen können, wie hilflos die Polizei, die Armee, die USA und die Nato waren, während wir wichtige Teile der Stadt kontrollierten“, hat ein Vertreter der Taliban zwei „Newsweek“-Reportern gegenüber verlauten lassen. Obwohl die USA behauptet hätten, die Taliban im vergangenen Jahr aus der Stadt vertrieben zu haben, sei es 100 Taliban gelungen, mit automatischen Waffen, Panzerfäusten, Selbstmordwesten und mit Sprengstoff gefüllten Fahrzeugen unentdeckt bis ins Geschäfts- und Regierungsviertel Kandahars vorzudringen und dort das Büro des Gouverneurs, das Hauptquartier der Polizei und die Büros des nationalen Geheimdienstes anzugreifen. Stadtbewohner suchten in Panik Deckung, die Läden schlossen, der Verkehr stand still. So heftig die Attacke war, es hätte noch schlimmer kommen können: Die Behörden entschärften im Nachhinein noch 15 Bomben, die in Fahrzeugen, auf Eselskarren und in Marktständen versteckt waren.
Die Taktik der Aufständischen lässt darauf schliessen, dass sie sich in der Stadt auf Komplizen stützen konnten. „Wir haben in sicheren Häusern, wo sich unsere Mujaheddin versteckt hielten, Waffen und Sprengstoff gelagert“, erzählt ein Taliban-Kommandant, dessen Kriegsname sich sinnigerweise „Mullah Sprengstoff„ heisst: „Wir brauchten nicht im letzten Augenblick Kämpfer und Bomber in die Stadt zu infiltrieren.“ Der Talib schildert „Newsweek“, dass ihnen Leute geholfen hätten, die wegen der Bestechlichkeit und der Geldgier vieler afghanischer Regierungsbeamter die Nase voll haben: „Die Leute wissen, dass Regierung und Polizei zu stark damit beschäftigt sind, Geld zu scheffeln, und keine Mittel haben, um die Taliban zu stoppen.
Psychologische Kriegsführung
Dem Mullah zufolge war es Ziel der Operation in Kandahar, den USA und Präsident Karzai zu zeigen, dass die Taliban stark genug seien, um überall zuschlagen zu können: „Wir sind nicht schwach und wir passen unsere Taktik und Strategie der jeweiligen Lage am Boden an.“ Erstmals hätten die Taliban einen Angriff über Mobiltelefone von zwei Kommandozentralen aus koordiniert, einem Posten in und einem ausserhalb der Stadt. Auch seien Kämpfer in neu gebaute Hochhäuser eingedrungen, um von dort aus auf Regierungsziele zu schiessen. „The Daily Beast“ zitiert Taliban-Kommandanten, die warnen, der jüngste Angriff auf Kandahar sei ein Test für weitere Attacken auf Städte gewesen. Sie wollten, sagen die Aufständischen, den Krieg vom Lande in die Stadt bringen, direkt zu den Gouverneuren, den Polizeichefs und anderen Machtträgern: „Auf dem Lande ist der Krieg nicht sichtbar, aber in der Stadt wird er zu einem Top-Ereignis für die Medien. Das ist Teil unseres neuen Plans für psychologische Kriegsführung.“
Indes mehren sich in Washington Stimmen, die nach dem Tode Osama bin Ladens fordern, die USA müssten ihre Truppenpräsenz in Afghanistan rascher als geplant verringern. An sich sieht der von Präsident Obama abgesegnte Fahrplan vor, dass erste Nato-Soldaten diesen Sommer mit dem Abzug beginnen und die letzten Kampfeinheiten 2014 das Land verlassen sollen. Danach müssten den Plänen des Pentagon zufolge bis 400 000 afghanische Sicherheitskräfte die Stabilität gewährleisten, wobei Skeptiker aber bezweifeln, ob sich Einheimische in genügender Zahl rekrutieren und ausreichend gründlich ausbilden lassen.
„Unseren besten Anstrengungen zum Trotz gibt es nach wie vor viele Herausforderungen, was die afghanische Armee und Polizei betrifft“, hat Senator John F. Kerry, Befürworter eines raschen Abzuges, in einem Hearing im US-Kongress ausgesagt: „Korruption, Gier, Inkompetenz.“ Zudem bleibe die Frage nach den Mitteln. Der Unterhalt afghanischer Sicherheitskräfte wird dereinst Schätzungen zufolge bis zu zehn Milliarden Dollar pro Jahr verschlingen. Derweil nimmt Kabul pro Jahr lediglich zwei Milliarden Dollar an Steuern ein. Ein Mangel an Ressourcen aber dürfte den Taliban, falls sie bis 2014 nicht besiegt sind, eine Renaissance erlauben, die angesichts des gleichzeitigen Erstarken der Warlords für die Zukunft Afghanistans Schlimmstes befürchten liesse.
„Afghan good enough“
Dass die Sicherheitskräfte des Landes noch nicht effizient genug sind, hat im April die nächtliche Flucht von gegen 500 Taliban aus dem Gefängnis Sarposa in Kandahar gezeigt. Den Aufständischen war es während fünf Monaten härtester Arbeit gelungen, vom Haus eines Sympathisanten aus und unter einer Fernstrasse hindurch einen Tunnel unter jenen Flügel des Haftanstalt zu graben, in dem politische Gefangene einsitzen. „Der Glaube hat die Technologie zum zweiten Mal überlistet und besiegt“, vermeldete danach eine Website der Taliban unter Anspielung auf einen Ausbruch im Juni 2008, als 1200 Gefangenen, unter ihnen 350 Taliban, die Flucht gelang, nachdem Selbstmordattentäter und schwer bewaffnete Kämpfer die Mauer der Anstalt überwunden hatten. Auch im April standen Selbstmordbomber bereit, um durch den Tunnel ins Gefängnis einzudringen und den Fluchtweg abzusichern. Doch sie kamen nicht zum Einsatz: Die Wärter entdeckten den Massenausbruch erst um sieben Uhr morgens - Stunden nachdem die Gefangenen, von drei Anführern im Innern geweckt, in gebückter Haltung den schmalen Tunnel in die Freiheit passiert hatten.
Einem Report des Uno-Generalsekretariats zufolge ist die Zahl der Gefängnisinsassen in Afghanistan innert vier Jahren von 10'600 auf 19'000 Häftlinge (Januar 2011) gewachsen. Zwar waren nach dem Ausbruch im Jahr 2008 in Sarposa das Sicherheitsdispositiv verbessert und die Schulung des Gefängnispersonals intensiviert worden. Erneut aber hat sich gezeigt, dass die Standards von Ausrüstung und Ausbildung in Afghanistan nicht genügen, um die Sicherheit und die Stabilität des Landes zu garantieren. Obwohl ausländische Offizielle diese Standards mitunter zynisch als „Afghan good enough“ bezeichnen: für ein Land wie Afghanistan reicht’s.
Unterdessen dürften sich die jüngst in Kandahar entflohenen Taliban, Inkompetenz und Korruption sei Dank, rechtzeitig zur Frühlingsoffensive wieder dem Kampf gegen die fremden Truppen angeschlossen haben – zum Nachteil auch der einheimischen Bevölkerung. Laut Uno-Statistiken sind in Afghanistan im vergangenen Jahr 2777 Zivilisten getötet worden. Drei Viertel unter ihnen wurden Opfer der Aufständischen. Indes scheuen diese scheuen vor nichts zurück: In der Provinz Paktika hat am 1. Mai ein Selbstmordbomber vier Afghanen getötet und zwölf weitere verwundet. Der Attentäter war zwölf Jahre alt.