Schon in der Primarschule lernt Chinas Jugend, heute natürlich vor allem digital, die dreieinhalbtausendjährige Geschichte des Reichs der Mitte in- und auswendig. Ab der Gründung der Volksrepublik 1949 nach dem Bürgerkrieg gegen die Nationalisten wird es dann etwas einseitig.
Noch heute werden die Folgen des Grossen Sprungs (1958–61) nach vorn klein geredet. Damals versuchte Mao Dsedong im Schnellgang die „imperialistischen“ Industriestaaten Grossbritannien und USA ein- und zu überholen. Eine katastrophale Hungersnot mit weit über dreissig Millionen Todesopfern war die Folge. Das von Menschenhand angerichtete Desaster wird offiziell noch heute vor allem als Naturkatastrophe interpretiert.
Von der Geschichte eingeholt
Die „Grosse Proletarische Kulturrevolution“ (1966–76) mit Millionen von Verfolgten, Gedemütigten und Toten gilt zwar parteilich sanktioniert als „Chaos“, wird aber nicht weiter diskutiert. 1982 wurden die Leistungen Mao Dsedongs als 70 Prozent gut und 30 Prozent schlecht parteiamtlich qualifiziert. Die Arbeiter- und Studentenproteste auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen 1989 in Peking und anderswo in China sind noch heute keine Tragödie, sondern ein „konterrevolutionäres“ Ereignis und für jede Diskussion Tabu.
Die geschichtsbewussten Chinesinnen und Chinesen werden früher oder später – wie jedes Land – von der eigenen Geschichte eingeholt. Was die Schweiz ja selbst mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte während des Zweiten Weltkrieges vor nicht allzu langer Zeit erlebt hat.
Durchschlagender Erfolg
Im Dezember jährt sich zum vierzigsten Mal der Beginn des Reform- und Öffnungsprozesses. Damals, im Dezember 1978, setzte der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping ganz pragmatisch eine Entwicklung in Gang, die in der Geschichte seinesgleichen sucht.
Dreizehn Jahre später – es war zu jener Zeit, als sich der in den 1980er-Jahren euphorische Westen nach der Niederschlagung der Proteste 1989 von China abgewendet hatte – brach der greise Patriarch Deng in alter kaiserlicher Tradition in den Süden auf, um den Reform- und Öffnungsprozess vor den parteiintern immer stärker werdenden konservativen Kräften zu retten. Dank der Glaubwürdigkeit und des Durchsetzungswillens des damals schon fast Neunzigjährigen war die Südreise, wie die folgenden zwei Jahrzehnte zeigen sollten, ein durchschlagender Erfolg.
Shenzhen: innovativ und attraktiv
Schon im 17. Jahrhundert unternahm der im Volk beliebte Kaiser Kangxi zwei Südreisen. Im 18. Jahrhundert reiste der beim Volk ebenfalls beliebte Kaiser Qianlong gar sechsmal in den Süden. Das Ziel war immer dasselbe und ähnlich wie bei Dengs Südreise 1992, nämlich das Land voranzubringen und vor allem den Kaiser als Wohltäter der Bevölkerung zu stilisieren.
Im Oktober brach jetzt Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping bereits zu seiner zweiten Südreise seit Machtantritt 2012 auf. Der Zeitpunkt ist bewusst gewählt. Der 40. Jahrestag der chinesischen Reform steht kurz bevor. Xi besuchte die High-Tech-Industriezone in Zhuhai (gleich jenseits von Macao), eröffnete das Jahrhundertwerk der 55 Kilometer langen Brücke von Hong Kong nach Macao-Zhuhai und inspizierte schliesslich das Wirtschaftswunder Shenzhen.
Die heutige 14-Millionen-Metropole ist nur durch den zwanzig Meter breiten Fluss Shenzhen von Hong Kong entfernt. In knapp vierzig Jahren hat sich Shenzhen von der ersten Sonderwirtschaftszone zum innovativsten und attraktivsten Standort Chinas entwickelt mit Firmen wie Huawei oder Tencent, die mittlerweile auch im Westen klingende Namen sind.
Vorbild Xi
Die Südprovinz Gaungdong und insbesondere Shenzhen haben Xi viel zu verdanken. Nicht Xi Jinping, sondern dessen Vater Xi Zhongxun. Xi Senior war in den 1930er-Jahren ein Revolutionär der ersten Stunde und ein getreuer Gefolgsmann von Mao Dsedong. In der Volksrepublik stieg er schnell auf und wurde Vizepremier. Xi, der sich Zeit seines Lebens nie das Wort verbieten liess, fiel 1962 in Ungnade und wurde erst 1978 rehabilitiert. Er wurde zum Parteichef der Südprovinz Guangdong ernannt.
1979 experimentierte er angesichts der Massenflucht von Zehntausenden von Chinesinnen und Chinesen ins kapitalistische Hong Kong mit marktorientierten Mechanismen, stets in enger Zusammenarbeit mit Deng Xiaoping. Daraus entstand dann 1980 die erste Sonderwirtschaftszone Chinas, Shenzhen eben. Nach 1987, als Xi sich erneut nicht den Mund verbieten liess und sich für den entlassenen Parteichef Hu Yaobang eingesetzt hatte, zog er sich langsam zurück und starb 88 Jahre alt 2002. Xi Zhongxun ist für Sohn Xi nach eigenem Bekunden stets ein Vorbild geblieben.
„Wendepunkt“
Xi Jinping hat in den letzten Jahren mehrfach erklärt, dass sich China an einem „Wendepunkt“, an einem „Scheideweg“ befinde. Alteingesessene Interessen und wirtschaftliche Schwierigkeiten – Handelskrieg mit den USA, sinkendes Wachstum, wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, schnell alternde Gesellschaft – haben in den vergangenen Jahren den Reformprozess arg in Mitleidenschaft gezogen.
Der in Peking lebende chinesische Ökonom Hu Xingdou wird von der Hongkonger South China Morning Post folgendermassen zitiert: „Angesichts der schwächelnden Wirtschaft, des sich erweiternden Handelskrieges und des feindlichen internationalen Klimas ist es für die zentrale Führung notwendig, ihren klaren Willen zur Vertiefung der Reform und der Öffnung nach aussen erneut klarzustellen“. Auf der Traktandenliste Xis stehen schwierig zu lösende Aufgaben im Staatssektor, bei den Finanzen, in der Landwirtschaft, beim sozialen Netz oder beim Wachstumsmodell.
Plädoyer für die Privatwirtschaft
Xi und seine kompetenten Wirtschaftsberater versuchten schon kurz vor der Südreise die Privatwirtschaft zu ermutigen und zu beruhigen. In einem offenen Brief versicherte die Führung Chinas der Privatwirtschaft Wertschätzung und Schutz, „um ein besseres Morgen zu schaffen“. „Die Privatwirtschaft zu negieren“, hiess es weiter, „oder zu schwächen, ist falsch.“
Dieses Plädoyer für die Privatwirtschaft kommt nicht von ungefähr. Sechzig Prozent des Brutto-Inlandprodukts werden von Privatbetrieben erwirtschaftet und gut achtzig Prozent aller neuen Jobs werden von Privaten geschafften.
Dringlich
Die Südreise Dengs und die Südreise Xis lassen sich von der Dringlichkeit her durchaus vergleichen. Wenn man die Zahlen vergleicht, hatte Deng einen Riesenerfolg. Das Brutto-Inlandprodukt (GDP) pro Kopf der Bevölkerung lag 1992 bei gerade einmal 366 Dollar und die Exporte bei 85 Milliarden Dollar. Heute beläuft sich das per-capita-GDP auf annähernd 10`000 Dollar und die Exporte haben sich auf rund zwei Billionen Dollar vervielfacht. Ob Xi Jinping ähnlich erfolgreich sein wird wie Deng, werden die nächsten Jahre zeigen.
Das gut entwickelte Geschichtsbewusstsein der Chinesinnen und Chinesen wird sich – angesichts der Südreise Xi Jinpings – wohl einst über die Südreisen der Kaiser Kangxi und Qianlong sowie das „Jahrhundert der Schande“ (1839–1949) hinaus ohne Tabu auch mit den Jahren nach 1949 befassen.