Es ist still an diesem frühen Nachmittag in der Halle des Hotels Waldhaus in Sils Maria. Ganz still. Man hört die Stille. Und sie tut gut. Die Polstergruppen sind bequem und verführen zum Bleiben. Durch die grosse halbrunde Fensterfront im Hintergrund sieht man vor allem eines: Das Grün der Arven und das Blau des Engadiner Himmels.
Still ist es. Marcel Proust hat hier vielleicht die verlorene Zeit wiedergefunden, nach der er gesucht hat. Jedenfalls könnte man sich das vorstellen, man kommt ins Sinnieren und hört der Stille zu. Und die Stille flüstert ganz leise: «Hermann Hesse war schon hier, Thomas Mann auch, Marc Chagall und Gerhard Richter ebenfalls, Dürrenmatt und Paul Sacher sowieso, Richard Strauss und Albert Einstein, aber auch Peter Handke und Bruno Ganz, und nicht zu vergessen: Joseph Beuys und Theodor Adorno, C. G. Jung und Luchino Visconti und und und ….» Ja, das spürt man und fühlt sich aufgenommen in diesen hehren Kreis, zugleich aber auch ein bisschen eingeschüchtert.
Familienbetrieb seit 111 Jahren
Dann kommt Felix Dietrich und setzt sich dazu. Ganz bodenständig ist er und verscheucht durch seine blosse Anwesenheit im Hier und Jetzt all die ehrfurchtgebietenden Literaten und Musiker und Künstler und Maler aus vergangenen Zeiten, die hier schon zu Gast waren. Felix Dietrich gehört zur grossen Hoteliersfamilie der Giger, Kiensberger und Dietrich, die das Waldhaus seit 111 Jahren betreiben.
«Meine Freunde haben immer gesagt: du hast es gut, hast einfach die Tochter eines Fünf-Sterne-Hotels geheiratet und bist Direktor geworden», sagt Felix Dietrich mit einem Schmunzeln, das vermuten lässt, dass es ganz so einfach nun auch wieder nicht war. «Mit der Heirat habe ich auch die Verantwortung über alles, was zu so einem Hotel dazugehört, übernehmen dürfen. Aber ich bin hineingewachsen.»
Er selbst kommt aus der Ostschweiz. «Mein Vater war Bäcker/Konditor und wir hatten ein Café/Restaurant in St. Gallen und Arbon.» Das Gastgewerbe war ihm also nicht ganz fremd. Und nun erzählt er, wie es mitunter so geht im Leben: «Meine Mutter hat in den Dreissigerjahren zwei Sommer bei der Familie Kienberger im Waldhaus als Zimmermädchen gearbeitet. Sie war noch ledig und es hatte ihr wahninnig gut gefallen. Deshalb riet sie einer Cousine, die für ihre Tochter Rita eine Stelle suchte, bei Kienbergers im Waldhaus anzufragen. Rita wurde eingestellt, hat als Saaltochter – wie man es damals nannte – dort eine wunderbare Saison verbracht und gleich für den nächsten Sommer wieder abgemacht.»
Grossmutter Kienberger hatte die junge Rita ins Herz geschlossen und liess sie zum Abschied noch einen Abstecher nach Lugano machen. Dort sei ihr Sohn Rolf, sagte sie, und der führe ein Hotel. Bei ihm könne Rita zu Mittag essen und habe gleich noch was von der Schweiz gesehen. In der Wintersaison war dieser Rolf Kienberger dann in Davos und leitete nun dort ein Hotel. Als die Gouvernante ausfiel, erinnerte sich seine Schwester Gertrud sofort an Rita, die Rolf gern aushalf. Die beiden verliebten sich und Rita wurde die Frau von Rolf Kienberger. «Durch diese Beziehung sind unsere Familien seither miteinander verbunden», erzählt Felix Dietrich. Aber es ging noch weiter.
Rolf Kienberger wurde Firmpate von Felix Dietrich, der dann 1965 zum ersten Mal von St. Gallen nach Sils kam, um ein bisschen auszuhelfen und Ferien zu machen. «Ich habe mich total in die Gegend verliebt: in St. Gallen war es schwül und gewittrig, hier in den Bergen klar und luftig. Ich wollte am liebsten gar nicht in die Schule zurück, aber der Rolf sagte, jetzt lernst du erst mal einen Beruf und wenn du später Lust hast, kannst du jederzeit bei uns anfangen.»
Hotellerie statt Entwicklunsghilfe
Das liess sich Felix Dietrich nicht zweimal sagen. Er machte eine kaufmännische Lehre, arbeitete in der Kantonalbank und in den Ferien ging’s wieder ins Waldhaus zum Arbeiten. In der Küche, im Saal, im Büro, einfach überall, wo man jemanden brauchen konnte. Dann zog es Felix Dietrich nach London zum Englischlernen, denn nun schwebte ihm ein Job in der Entwicklungshilfe vor. Aber mit 19 Jahren war Felix zu jung dafür. Also: Hotelfachschule. In Lausanne lernte er auch Französisch und im Winter 72/73 trat er erneut im Waldhaus an.
Und da war inzwischen auch die Maria, die gerade die Hotelfachschule Belvoir in Zürich abgeschlossen hatte. Und die Maria hiess Kienberger mit Nachnamen, gehörte also zur Familie. «Ich kannte sie schon als Meitli und nun arbeiteten wir zusammen.» Mehr noch: die beiden neckten und verliebten sich. Maria fuhr zwar erst noch drei Monate nach Florenz, aber dann verlobten sich die beiden, gingen ein Jahr zusammen nach London, sie ins Savoy, er ins Dorchester. Die Hochzeit nach der Rückkehr aus London war beschlossene Sache. «Aber selbstverständlich war es trotzdem nicht …», meint er heute noch. «In unseren Lehr- und Wanderjahren hat jeder von uns beiden flotte Menschen kennengelernt, wir hätten also ohne weiteres auch jemand anderen heiraten können. Aber es hat wohl so sollen sein, dass wir uns gefunden haben.»
45 Jahre ist das jetzt her. Die nächste Generation der Dietrich-Kienbergers hat inzwischen das Ruder übernommen. Felix Dietrich ist aber immer noch dabei. «Im Hintergrund …», präzisiert er, was allerdings stark untertrieben ist. 45 Jahre Waldhaus gibt man nicht einfach an der Garderobe ab, die trägt man weiterhin mit sich herum. Die vielen Gäste, die er noch persönlich kennt, begrüsst er gern mit Handschlag. Wobei die jungen Dietrichs und Kienbergers das genauso machen. Wer ankommt, wird gleich mal vom jeweiligen Chef, der gerade im Dienst ist, begrüsst. Als Gast begrüsst.
So gemütlich wie das klingt, war es natürlich nicht immer. «Vor 45 Jahren hat alles ein bisschen anders ausgesehen hier. Durch die Nachkriegsjahre hatten wir einen grossen Nachholbedarf. Nur gerade die Hälfte der Zimmer hatte ein Bad, die Dächer waren zum Teil in schlechtem Zustand, wir hatten noch eine alte Dampfheizung und so weiter. Das musste alles erneuert werden.»
Familienbetrieb als Chance
111 Jahre Familienbetrieb. Und reihum machen sich die grossen Hotelketten breit. Ist es da ein Vorteil, wenn man sich abgrenzen kann? «Es ist ein gewisser Vorteil, oder sagen wir lieber: es ist eine Chance. Mit den Luxusbetrieben der Champions Leage in der Hotellerie können wir uns nicht messen. Vielleicht haben wir aber genau darum die Chance, eine Nische für Menschen zu sein, die genau das lieben, was der Urgrossvater geplant hatte, als er das Haus baute. Der Luxus, den er seinen Gästen bieten wollte, war: viel Platz, Raum in der unvergleichlichen Natur, dazu Aufmerksamkeit und Gastfreundschaft auf eine Art, die seine Gäste damals ebenso schätzten wie unsere heute. Zu jener Zeit gab es viele Engländer, Schweizer und deutsche Gäste, denen dieses Ambiente gefallen hat und die ein bis zwei Monate hier wohnten. Das gibt es heute kaum mehr. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer liegt bei viereinhalb Tagen.»
Neben der Schönheit des Engadins bietet das Waldhaus allerdings noch etwas ganz Besonderes: ein Kulturprogramm, das weit über das Bar-Piano am Nachmittag hinausgeht. Und dies schon seit Jahrzehnten. Wie ist es überhaupt dazu gekommen? «Die Gründerfamilie war von Anfang an theater-, literatur- und musikbegeistert. Unbewusst hat dies Künstler angezogen. Dass diese Künstler aber mit der Zeit auch bei uns aufgetreten sind, ergab sich erst nach dem Krieg.
Pfarrer Schulthess von Silvaplana hat mit ein paar Hoteliers zusammen die Engadiner Konzertwochen gegründet. Es sollte so etwas ähnliches sein wie die Luzerner Musikfestwochen, nur eben aufs Engadin bezogen. Zu dieser Zeit haben Leute wie Herbert von Karajan, Arthur Schnabel oder Dinu Lipati hier Ferien gemacht und freuten sich, hier oben in einem ganz anderen Ambiente als in einem Konzertsaal auftreten zu können. Dann kamen Schriftsteller und sagten, sie würden ganz gern mal eine Lesung hier oben machen, wenn es uns recht wäre … Aber nicht wir haben sie angefragt, sondern sie uns!» Die anderen, nicht künstlerisch tätigen Gäste waren begeistert von dem kulturellen Angebot, das sich ihnen hier unverhofft eröffnete.
Dann gab es auch noch jene Künstler, die zwar nicht im Hotel wohnten, aber dennoch regelmässig kamen. Friedrich Nietzsche zum Beispiel, der in Sils, «diesem lieblichsten Winkel der Erde», wie er schrieb, in einem einfachen Haus eine winzige, schlichte Wohnung gemietet hatte. Der Weg zum Waldhaus war nicht weit.
Oder Claudio Abbado, dieser Magier unter den Dirigenten, der viele Jahre für einige Wochen oder Monate in einem Haus im nahegelegenen Fextal wohnte, in dem auch Kurt Tucholsky gelebt hatte. Hier, wo es so still war, «dass er den Schnee fallen hörte», wie Abbado selbst sagte, hier studierte er seine Partituren. «Wenn er aber mal ein Klavier brauchte, kam er zu uns», erzählt Felix Dietrich. «Ich kann mich entsinnen, wie er uns einmal bei grösster Kälte mit dem Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli besuchte, um mit ihm zu proben. Michelangeli sass mit Handschuhen am Flügel und die beiden übten miteinander ihr Konzert.»
Kulturprogramm im Waldhaus
Felix Dietrich wurde im Laufe der Zeit auch noch so was ähnliches wie ein Intendant, der neben dem Hotel auch das Kulturprogramm unter sich hatte. Hilfreich beim Aufbau des Kulturbetriebs im Waldhaus war natürlich auch Jürg Kienberger, der als Jüngster der Familie aus dem Hotelbetrieb ausgeschert war und als Musiker Karriere machte. «Durch seinen Beruf hat der Jürg natürlich ein grosses Netzwerk im Kulturbereich und eines Tages kam er zu mir und sagte: Ich habe da einen Freund, der mir Möglichkeiten geboten hat, als junger Pianist zusammen mit Schauspielern etwas zu kreieren. Der würde ganz gern ins Waldhaus kommen, um in Ruhe seine Stücke vorzubereiten … aber er hat nicht so viel Geld … und vor allem kann er nicht so gut damit umgehen … könntet ihr ihm vielleicht ein bisschen entgegenkommen…?» Ja, man konnte … und dann kam er mit Jürg Kienberger angereist: der Christoph Marthaler.
«Wir haben ihn sofort ins Herz geschlossen und er kam immer wieder und hat hier viele Stücke vorbereitet», erzählt Felix Dietrich. «’Weisst du Felix, eines Tages machen wir hier oben zusammen etwas’, hat er später gesagt, dann kamen aber die turbulenten Zeiten in Zürich ...». Christoph Marthaler, inzwischen Intendant am Zürcher Schauspielhaus, hatte den «Schiffbau» als zweite Bühne aufgebaut und damit das Schauspielhaus in eine finanzielle Schieflage manövriert … Marthaler verliess Zürich. Aber er kam wieder ins Waldhaus und machte seine erste Produktion dort oben, wie er es versprochen hatte. Einen guten Grund dafür gab es auch: 100 Jahre Waldhaus, die in einer furiosen Marthaler-Sause gefeiert wurden.
Und nun, elf Jahre später, ist es wieder soweit. 111 Jahre werden dieses Jahr gefeiert und Christoph Marthaler liefert sein «Opus 111» dazu, extra kreiert für dieses Jubiläum. Gespielt wird in der Tennishalle, die auch als temporäre Bühne taugt.
«Wollen wir mal rüber gehen, in die Probe?» fragt Felix Dietrich. Was für eine Frage: ja, natürlich! Am Nachmittag, während dieser Probe, wuseln die Schauspieler, die gleichzeitig Sänger und Musiker sind, zusammen mit drei jungen Cellistinnen auf der Bühne herum. Marthaler, wie immer ein bisschen zerzaust, bringt eine gewisse Choreographie in dieses «Opus 111», das sich von Beethovens Klaviersonate, dem Opus 111, auf Umwegen bis zu Udo Jürgens und Johannes Heesters hinschlängelt.
Sehr komisch ist das und sehr ernst. Marthaler führt – einmal mehr – die Absurdität des Alltags vor Augen. Grossartig. Manch einer im Publikum – und manch eine ebenfalls – fühlt sich anderntags bei der Premiere vermutlich bei dieser oder jener Text-Stelle, bei verzwirbelten Bewegungen, bei einem Spleen oder einer Pingeligkeit auf der Bühne ein bisschen ertappt in der eigenen Biederkeit. Und so soll es auch sein. Gelacht und geklatscht wird jedenfalls viel und laut und herzlich.
Auch Felix Dietrich freut sich. «Man weiss ja nie, es ist ja doch auch immer ein bisschen ein Risiko …»
Den Auftakt zum 111-Jahr-Jubiläum macht jedoch ein Bünder Jugendchor, die «incantanti» (Bild oben) mit hinreissenden und schwermütigen romanischen Liedern und als Kontrast dazu ein Querschnitt von Afrikanisch bis Amerikanisch. Christoph Marthaler, der sich den Nachwuchs-Chor ebenfalls angehört hatte, zeigt sich hell begeistert. Wer weiss, ob da nicht mal jemand abspringt, später, zu Marthaler …
Gästebuch als Who-is-Who der Prominenz
Wir gehen wieder zurück in die malerische Halle. Die meisten Gäste sind noch am Wandern oder Schwimmen oder sonst was … es ist immer noch still in der Halle, aber in der einen oder anderen Ecke blättert jemand in der Zeitung, geniesst seinen Kaffee oder lässt den Gedanken freien Lauf.
Felix Dietrich legt das Gästebuch auf den Tisch. Den Auftakt im Buch macht Marc Chagall, der im Sommer 1966 ein liebliches, doppelköpfiges Wesen mit Blumenstrauss in wenigen Strichen hinzaubert.
Wenn man weiterblättert, taucht man ein in ein Who-is-Who durch die Welt der Kunst, Musik, Literatur und Politik, oftmals mit wunderschönen Zeichnungen, geistreichen Bemerkungen, schwärmerischen Gedanken, festgehalten in betörend schöner Schrift oder mit charakterstarker Unterschrift. «Rien ne va plus» heisst es unter anderem in einer ganzseitigen Skizze. Claude Chabrol ist der Autor. «Ja», sinniert Felix Dietrich, «Chabrol hat hier seinen Film gedreht, mit Isabelle Huppert… sie haben das halbe Hotel in Beschlag genommen …» Dann ist da ein ganzseitiger Text von Friedrich Dürrenmatt, der darüber schreibt, dass er eigentlich nicht in Gästebücher schreiben mag.
Ach, man könnte endlos schmökern im Gästebuch und in der Geschichte des Hauses, in dem so viele illustre Gäste ein- und ausgehen.
Dieses Gästebuch wird wohlweislich gut behütet. Um Interessierten aber trotzdem Einblick in die 111 Jahre Waldhaus zu geben, hat Urs Kienberger, der Schwager von Felix Dietrich beschlossen, zum Jubiläum ein Buch zu herauszugeben. Erscheinen wird es im Juli. Darin erzählt Kienberger die schillernde Geschichte des legendären Hauses, dieses magischen Ortes der Stille, der gleichzeitig voller Leben ist.
Urs Kienberger: «111 Jahre Waldhaus»; Verlag Scheidegger & Spiess
Marthalers Denkerstube
Mit «Opus 111» hat Christoph Marthaler dem «Waldhaus» in Sils Maria seine Reverenz erwiesen, als Hommage für einen Ort, der ihm so viel bedeutet. Es handelt sich dabei um eine Collage aus Fundstücken aus anderen Marthaler-Produktionen, vermischt mit neuen Ideen, zusammengepackt in einer Wundertüte.
«Die Atmosphäre des Hauses hat das Stück natürlich beeinflusst», erzählt Marthaler. Aber genau wusste er nicht, wie es aussehen sollte. «Als ich im Flugzeug in einer Zeitung den Hinweis gelesen habe, ‘eine Neuinszenierung von Christoph Marthaler’, da bin ich richtig erschrocken … Aber zum Glück habe ich Schauspieler, die schon oft mit mir gearbeitet haben und so haben wir das hingekriegt. Ich bin ja eigentlich Musiker und wollte gar nicht Regisseur werden. Wir haben vor Jahren in der Roten Fabrik angefangen, dann im Wolfbach Schulhaus … und beim 100-Jahr-Jubiläum hier in Sils haben wir im Speisesaal gespielt. Jetzt in der Tennishalle.» Das gefällt Marthaler: man braucht kein Bühnenbild, alles, was hier rumsteht, Kisten und anderer Kram, das ist sein Dekor. Seine Dauer-Bühnenbildnerin Anna Viebrock hätte es nicht besser arrangieren können. Diese Produktion hier zu machen, war Marthaler ein Anliegen, weil das Waldhaus seit Jahren seine Denkerstube ist, wo ihm Ideen zufliegen für Inszenierungen, die auf Europas grossen Bühnen für Furore sorgen.