Auch dieses Jahr gibt ein Aufenthalt auf dem Peloponnes im Spätherbst Gelegenheit, das moderne Griechenland zu erfahren und gleichzeitig den Spuren der Antike zu folgen, welche unser Denken in wichtigen Fragen bis heute prägt
Es kommt uns vor, als ob wir endlos durch die karge Berglandschaft fahren würden. Von einer Kurve zur nächsten schraubt sich die Strasse immer höher in das Taygetos-Gebirge, welches das Rückgrat des mittleren Fingers des Peloponnes bildet. Kein anderes Auto scheint unterwegs zu sein, so dass wir uns fragen, ob wir zu früh oder zu spät sind oder das Kastanienfest in Arna gar nicht an diesem Wochenende stattfindet.
Hinter einer scharfen Linkskurve erwartet uns die Antwort. Auf beiden Strassenseiten, halb über dem Abgrund oder im Strassengraben abenteuerlich parkiert, steht ein Auto hinter dem andern. Zum Wenden ist es zu spät. Unser Freund Hanspeter steuert sein Fahrzeug langsam durch die enge Gasse, gleichsam Rückspiegel an Rückspiegel vorbei, und wird schliesslich an einem Wendeplatz von einem lokalen Helfer freundlich angehalten. Er solle sein Auto weiter unten an den Strassenrand stellen, ein Shuttlebus werde uns ins Dorf bringen.
Alles bestens und freundlich organisiert! Wenig später setzt uns der Bus zusammen mit vielen andern am Dorfrand von Arna ab. Rechts empfängt man uns mit einer Tüte gerösteter Maroni, links verteilt eine junge Frau in kleinen Bechern Schnaps – einen Tsipouro, den lokal gebrannten Grappa – alles gratis, wie auch der Shuttlebus. Zwar wachsen hier keine Reben, aber es gehört zur Tradition vieler Dörfer und Gasthäuser, Trauben zu kaufen und diese zu Wein und Tsipouro zu verarbeiten.
Nicht nur in den Tessiner Bergtälern, auch in Griechenlands Bergregionen bilden Maroni seit je her eine wichtige Rolle für die Ernährung der Bergbevölkerung während des Winters. Daraus erklärt sich auch, dass man den Kastanien vielerorts ihr eigenes Fest widmet. Arna gehört zu den Orten mit entsprechender Tradition. Auch wenn das Dorf in den vergangenen fünfzig Jahren mehr als die Hälfte seiner Einwohner verloren hat und heute weniger als 150 Menschen ganzjährig dort wohnen, auch wenn die Kastanien heute nicht mehr jene wichtige Rolle spielen für den Speisezettel der Einheimischen, das dreitägige Fest Ende Oktober, das in diesem Jahr auch den griechischen Nationalfeiertag (28. Oktober) einschliesst und daher besonders viele Leute angezogen hat, wird nach wie vor mit grosser Hingabe und Einsatz gefeiert. Kommt man mit den freiwilligen Helferinnen und Helfern ins Gespräch, merkt man, dass die meisten von ihnen heute anderswo leben, viele in Athen, aber ihre Wurzeln hier haben und sich immer noch mit ihrem Dorf verbunden fühlen.
Natürlich sind die Kastanien in einem gewissen Grad nur noch Kulisse – so wie die Zwiebeln am Berner Zibelemärit. Aber Kastanien werden trotzdem in Mengen verkauft. Niemand verlässt das Dorf ohne eingekauft zu haben, neben Kastanien auch andere (mehr oder weniger ) lokale Produkte wie Honig oder Salbei vom Taygetos, aus dem sich ein Tee brauen lässt, dem man Heilwirkung für die verschiedensten Gebresten zuschreibt. Hauptsächlich aber sitzt man bei Speis und Trank auf dem Dorfplatz, wo die Platane mit dem grössten Stammumfang Griechenlands stehen soll, und tut das, was alle Griechen gerne tun, man schwatzt, hört zu und erneuert die Banden zu Familie und Heimat. Es tut gut zu spüren, dass auch im Zeitalter der sozialen Medien und des Internets – letzteres von der griechischen Regierung schon seit langem intensiv gefördert durch die Verlegung von Tausenden von Kilometern Glasfaserkabel in jedes Dorf, auch nach Arna – diese Art von Kommunikation noch immer konkurrenzlos ist.
Wir sind am Morgen in der Mani, in Agios Dimitrios, losgefahren. Obschon Arna, das zu Lakonien gehört und von unserem Ferienort nur 12 Kilometer Luftlinie auf der andern Seite des Taygetos entfernt liegt, waren wir im Auto während gut zwei Stunden unterwegs. Es gäbe zwar, sagen unsere Freunde, eine Naturstrasse über den Berg, aber ihr Zustand sei schlecht, es sei ratsam das Gebirge südlich zu umfahren.
In der Antike war das anders. Von Sparta, der Hauptstadt von Lakonien, ca. 40 Kilometer nördlich von Arna gelegen, gehörte der Gang (oder eher der Spurt) über das Gebirge in die Mani vermutlich zum üblichen militärischen Drill. An der Westküste, beim heutigen Kardamili, betrieben die Spartaner einen Kriegshafen. Eine von den Spartanern benutzte Route muss am heutigen Arna vorbeigeführt haben.
Sparta! – Viele meiner Generation tragen seit ihrer Schulzeit ganz bestimmte Bilder mit sich herum: Sparta und Athen, die Militaristen und die Weisen, die gestählten Krieger und die Philosophen. Ich erinnere mich an Friedrich Schillers unvergessliche Übertragung der Inschrift auf der Stele zu Ehren des in der Schlacht bei den Thermophylen (480 v. Chr.) gefallenen Leonidas, König von Sparta:
«Wanderer kommst du nach Sparta, verkündige dorten,
du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl.»
In den Perserkriegen hatte eine zahlenmässig weit unterlegene Gruppe von Griechen, vor allem Spartaner, den Engpass bei den Thermophylen vergeblich gegen die Soldaten des Perserkönigs Xerxes zu verteidigen versucht, wobei praktisch alle Verteidiger mit ihrem König den Tod fanden.
Da die Spartaner, Herrscher über Lakonien, ihre Geschichte selber nicht schriftlich festhielten, ist das Bild, das wir über sie haben, durch die Sicht ihrer Gegner und Konkurrenten geprägt. Als Gesellschaft waren sie militärisch organisiert. Kämpfen war wichtiger als Reden und Schreiben. Bis heute steht lakonische Ausdrucksweise für eine nüchterne und knappe Sprache. Die Ausübung politischer Rechte war einer kleinen Gruppe vorbehalten. Ich erinnere mich aus meiner Schulzeit, dass die Schilderungen unseres Geschichtslehrers von Sparta eine eigenartige Faszination – und gleichzeitig eine tiefe Abneigung – auf uns Buben ausgeübt hatten. Ich erinnere mich auch an unseren letztjährigen Besuch in der antiken Stadt Messene nördlich von Kalamata. Die friedliebenden Messener – so heisst es zumindest – sahen sich durch die jenseits des Taygetos Gebirges wohnenden Spartaner so sehr bedroht, dass sie schliesslich nach Sizilien auswanderten und erst nach dem Sieg der Thebaner über Sparta in der Schlacht von Leuktra (371 v. Chr.) auf den Peloponnes zurückkehrten und in ihrem einstigen Stammland in wenigen Jahren eine neu Stadt bauten, deren Ruinen bis heute erhalten sind.
Doch zurück nach Arna. Wir sitzen unterdessen beim Kaffee auf dem grossen Platz und schauen dem bunten Treiben zu. Die Griechen sind weitgehend unter sich. Und es wird eingekauft. Abends um 20 Uhr, so sagt man uns, würde zum gemeinsamen Tanz aufgespielt. In Anbetracht der langen Heimfahrt in der Nacht auf der kurvenreichen Strasse beschliessen wir schweren Herzens, darauf zu verzichten und noch einen Abstecher nach Githio zu machen. Dort hatten die Spartaner ihren Hauptkriegshafen.
Auf der Rückfahrt in die Mani kommt mir nochmals meine Zeit im Realgymnasium Basel in den Sinn, diesmal nicht der Geschichtslehrer, sondern unseren Französischlehrer Walter Widmer, Freund von Heinrich Böll. Böll kam mehrmals für die sogenannten Literarischen Abende ans RG. Einmal las er aus seiner Kurzgeschichte «Wanderer kommst du nach Spa....». Ich erinnerte mich nicht mehr an die Details und musste sie nachlesen: Ein junger Mann wird im Zweiten Weltkrieg schwer verwundet und erkennt im Notlazarett, wo ihm beide Arme und ein Bein amputiert werden, dass er im Zeichensaal seiner ehemaligen Schule liegt, welche er nur wenige Monate zuvor verlassen hatte. An der Wandtafel steht noch, in seiner Schrift, der unvollendete Satz «Wanderer kommst du nach Spa …».
Erst jetzt, viele Jahrzehnte später, wird mir bewusst, wie sehr Heinrich Böll und indirekt auch Walter Widmer, der einst Mitglied der kommunistischen Partei PdA gewesen war, mit einer Art von Gegengift gegen die Verherrlichung des spartanischen Militarismus angekämpft haben. Ist es nicht seltsam, dass wir im Geschichtsunterricht in erster Linie mit einer endlosen Abfolge von Kriegen konfrontiert worden sind, dabei die Frage nach der moralischen Berechtigung von Kriegen, nach «gut» und «böse» ausblenden und die Ereignisse gleichsam als den normalen Gang der menschlichen Geschichte wahrnehmen?
Einige Tage später sitzen wir beim Wein am Hafen von Agios Nikolaos. Die meisten Touristen sind weg, die blauen Stühle und die kleinen Tische gehören wieder den Einheimischen. Plötzlich schrillen gleichzeitig Dutzende von Handys. Der griechische Wetterdienst gibt eine Sturmwarnung für den kommenden Tag aus. Man solle, wenn immer möglich, zuhause bleiben.
Am nächsten Tag – noch ist das Wasser ruhig und der Himmel erst leicht bedeckt – gehe ich ein letztes Mal schwimmen. Gegen Mittag überzieht sich der Himmel dunkel. Unser Vermieter hat Liegestühle und Sonnenschirme in Sicherheit gebracht. Die Wellen wachsen, toben dem steilen Ufer entlang und überziehen die Felsen mit weisser Gischt. In der Nacht leuchten die Blitze lautlos über dem westlichen Finger des Peloponnes, und der Regen prasselt auf das ausgetrocknete Land. An der höchsten Stelle unseres Badefelsens, wo auch die grössten Wellen nicht hinkommen, sitzen seit Stunden stoisch drei Möwen und blicken auf die tosende Flut, die ihnen vielleicht etwas Essbares aus den Tiefen des Meeres heraufspült. Für sie sind Geschichte und Natur identisch, einmal lieblich und sanft, einmal wild und zerstörerisch, aber nie gut oder schlecht.