Anstatt um die Zukunft – Klima, Beziehungen zu China – geht es anlässlich der letzten EU-Entscheidungen unter deutscher Präsidentschaft um die Erhaltung von Herz und Seele Europas. Eine liberale, dem Recht einschliesslich den Menschenrechten verpflichtete europäische Union wird weder dem UK eine Vorzugsbehandlung einräumen (Brexit), noch Ungarn und Polen erlauben, sich an Brüssels Futtertrog zu laben (Wiederaufbaufonds) und gleichzeitig national den Rechtsstaat vollends abzuschaffen. Beides ist auch für das trittbrettfahrende europäische Kernland Schweiz von grösster Bedeutung.
Das Grundprinzip
Harry Truman soll einst gesagt haben, dass Aussenpolitik, „just one damn thing after the other“ sei, eine verfluchte Angelegenheit nach der anderen. So muss es Angela Merkel vorkommen, der man als Krönung der deutschen EU-Präsidentschaft, gleichzeitig dem internationalen Finale ihrer eindrucksvollen Karriere gerechterweise einen besseren Schlusspunkt gewünscht hätte, als sich zum x-ten Mal mit den drei Erznationalisten Boris Johnson, Orban und Katczynski herumzuschlagen.
Ein harter Brexit wird nur dann zu vermeiden sein, wenn Johnson endlich begreift, dass er nicht schrankenlosen Zutritt zum Binnenmarkt haben, und doch daneben seine eigenen „deals“ auch in Konkurrenz zu Europa durchziehen kann. Fisch und anders kann noch gelöst, nicht aber das Prinzip geritzt werden, dass sich die Teilnehmer am freien Binnenhandel verpflichten, nicht gegen das EU-Gemeinwohl zu verstossen. Was ja die Schweiz bestens weiss, auch wenn hiesige EU-Gegner immer wieder auf die Souveränität pochen.
Die Rolle der Schweiz
Vollends klar erscheint die Lage mit Blick auf den Widerstand von Ungarn und Polen, im Gegenzug zu erheblichen Mitteln aus dem Covid-Hilfsfonds, sich zur Einhaltung grundsätzlicher Regeln eines demokratischen Rechtsstaates zu verpflichten. Hier werden, hier können die grosse Mehrheit der EU-Mitglieder nicht nachgeben, handelt es sich doch um das Grundprinzip aller europäischen Einigung: ein Verbund, der auf der Basis allseits akzeptierter Grundwerte zusammen wirtschaftlich prosperieren und politisch an globalem Gewicht gewinnen will.
Unter Führung der deutsch-französischen Achse – der Europäer Macron dürfte der normalerweise konsensorientierten Merkel wo nötig das Rückgrat stärken – wird also die EU wenn nötig auch einen doppelten „No Deal“ in Kauf nehmen. Die beiden Gegenseiten haben ungleich mehr zu verlieren. Johnson wird die wirtschaftlichen Konsequenzen einer Abkapselung von Europa politisch nicht überleben, oder höchstens unter Amputation von Schottland und Nordirland von einem (Un)Vereinten Königreich. Die polnischen und ungarischen Wähler werden neidisch auf ihre osteuropäischen Nachbarn schielen, denen grosszügige Strukturhilfe zukommt. Und, falls das dann demokratisch noch möglich ist, die Autokraten in Budapest und Warschau in die Wüste schicken.
Brexit als Muster
Die Schweiz ist mehr als ein interessierter Zaungast. Der Brexit „Showdown“ bildet das Muster für das helvetische Seilziehen mit Brüssel um den Rahmenvertrag. Man stellt bereits mit Genugtuung fest, dass der Bundesrat allein auf Punkten besteht, wo wirklich Verhandlungsmaterie besteht, oder bestanden hat. Dies trifft auf die sogenannte Souveränitätsfrage nicht zu, unbeachtet billiger „Buebetrickli“-Vorschläge prominenter Ehemaliger, die das besser wissen sollten.
Falls die gegenwärtigen Regierungen in Ungarn und Polen tatsächlich stur bleiben sollten, müsste sich die Schweiz überlegen, wie sie bilateral, im Gleichschritt mit dem Strukturfonds-Entzug durch die EU, ihrerseits Massnahmen gegen Orban und Katczynski ergreifen könnte. Sei es in internationalen Strukturen wie dem Europarat, in bilateralen Übereinkünften oder auch im Finanzbereich. Ein Abgleiten der bereits autoritär regierten Ungarn und Polen in totalitäre Strukturen wäre auch für die Schweiz unerträglich. Für die Schweiz als etabliertem Rechtstaat und bewährter Demokratie, die sich gerne als entsprechendes Vorbild sieht.