Seit vier Jahrzehnten begleitet der Literaturkritiker Volker Hage Schriftstellerinnen und Schriftsteller, rezensiert ihre Bücher und trifft sie zu Gesprächen. In zwei Büchern mit unterhaltsamen Porträts zieht er Bilanz, erzählt manch erhellende Episode, und beleuchtet dabei auch immer wieder den Literaturbetrieb. Mit im Boot der von ihm Porträtierten: Max Frisch.
«Fortschritt?», fragt der Schriftsteller Imre Kertész 1999, in der Zeit des Kosovo-Krieges, und schaut den Journalisten Volker Hage mit einem leicht melancholischen Blick an. «Fortschritt? Der ist nie sicher. Wir leben in einer sehr verletzlichen Zivilisation, in einer Kultur, die rasch zugrunde gehen kann. Wir haben keinen Gott mehr, wir haben keine Mythen mehr. Wir haben nur uns selbst. Da muss jeder Fortschritt hart erkämpft werden.»
Schaut man sich heute um in der Welt, wird man dem ungarischen Holocaust-Überlebenden und Literatur-Nobelpreisträger nur Recht geben können. Kertész ist 2016 mit 86 Jahren gestorben, sein «Roman eines Schicksallosen» lebt weiter – wie viele der Bücher, von denen der Literaturkritiker Volker Hage in zwei gerade erschienenen Bänden mit Schriftstellerporträts erzählt. Vier Jahrzehnte lang hat er Schriftstellerinnen und Schriftsteller begleitet, zuerst für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», dann für die «Zeit», schliesslich für den «Spiegel». Hat Neuerscheinungen rezensiert, Schriftsteller aufgestöbert und zum Gespräch gebeten. Oder auch ihre Nachkommen.
Frisch und seine Frauengeschichten
Wie etwa im Falle von Max Frisch. «Der Frisch hatte immer viele Frauengeschichten, und jedes Mal hat er geschworen, das sei seine letzte», hat Frischs Kollege und Rivale Friedrich Dürrenmatt gesagt. Also machte Hage sich auf, zwanzig Jahre nach Frischs Tod Karin Pilliod zu treffen, seine allerletzte Gefährtin, eine «dynamische Dame mit rötlich-blondem Haar» – und gut erkennbar das Modell für jene Elisabeth, die Frisch in «Homo Faber» mit dem dreissig Jahre älteren Ingenieur Walter Faber zusammentreffen lässt. Das Private als Steinbruch für Literatur: Nicht nur bei Frisch ist das so, sondern auch im Falle von Thomas Mann, der einmal, trocken, gemeint hat: Es sei nicht die Gabe der Erfindung, «welche den Dichter macht», sondern die der Beseelung. Gerade das Intimste sei «zugleich das Allgemeinste und Menschlichste».
Max Frisch und Thomas Mann sind zwei von 21 Schriftstellern, die Volker Hage in «Schriftstellerporträts» lebendig werden lässt. Bekannte Namen wie Albert Camus und Günter Grass begegnen uns da, aber auch Vergessene wie Gert Ledig. Im zweiten, gerade erschienen Band «Was wir euch erzählen» kommen noch einmal so viele hinzu, die Namen reichen von André Gide über Brigitte Reimann bis Karen Duve und Zeruya Shalev. Darunter zwei Paare: Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, die in Wien in getrennten Wohnungen, aber sehr einträchtig über Jahrzehnte ihren Dichter-Leidenschaften nachgegangen sind, und Sofja Tolstaja, von der Nachwelt arg missachtete Dichter-Gattin des Literatur-Fürsten Leo Tolstoi. «Er nimmt von seiner Umgebung nur das, was seinem Talent, seiner Arbeit dienen kann», vertraut sie ihrem Tagebuch an, «mein ganzes geistiges Leben ist für ihn ohne Interesse.» Hier stehen die Zeichen auf Ehekrieg.
Der Mensch und die Atombombe
So gelingt es Volker Hage immer wieder, überraschende Facetten grosser Geister zutage zu fördern. Dass, zum Beispiel, Franz Kafkas Arbeit in der Arbeiter-Unfall-Versicherung ihn nicht nur psychisch stabilisierte, sondern ihn auch jenen Kontrollwahn moderner bürokratischer Systeme erkennen liess, der sein Werk bis heute hochmodern macht. Gegen diese allumfassende Überwachung begehren Menschen auf, ihre Sprachrohre aber sind jene Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Hage gern bis ins Detail beschreibt. Den zeitlebens störrischen Günter Anders etwa, von dem er aus dessen Hauptwerk «Die Antiquiertheit des Menschen» den bis heute gültigen Satz zur Atombombe zitiert: «Zerbomben können wir zwar Hunderttausende, sie aber beweinen oder bereuen nicht.»
Nicht jeder Gesprächspartner ist dabei so bereitwillig bei der Sache wie Günter Grass, den Volker Hage als «vital und beharrlich, stoisch und störrisch, oft belehrend, manchmal unerträglich und stets schwer belehrbar, nicht unerschütterbar, aber doch von Selbstzweifeln weitgehend frei» beschreibt. Grass gibt immer Auskunft, andere lassen den Journalisten auflaufen. Zahllos die Absagen, die Hage zitiert, Martin Walsers kunstvolle Begründungen machen ihm über die Jahre Spass – zumal der sich dann doch immer wieder in jene manchmal auch von grosser Intoleranz geprägten Debatten wirft, an denen die deutsche Nachkriegsgeschichte so reich ist. Verletzungen bleiben: Für ein Interview mit Christa Wolf fliegt Volker Hage sogar nach Kalifornien – und zieht unverrichteter Dinge wieder ab.
Doch gibt es auch die andern, die Pflegeleichten, Freundlichen, Zugänglichen, und das sind dann oft die Amerikaner: Richard Ford etwa, oder Joyce Carol Oates. Oder, ein guter Bekannter über Jahrzehnte: John Updike, den er eines Tages, auf dem Weg nach Boston zu einem verabredeten Interview, bereits im Flugzeug trifft. Der Kritiker ist noch nicht vorbereitet, also beachtet er den Schriftsteller nicht und studiert stattdessen dessen neueste Bücher. Bis er von hinten einen Zettel gereicht bekommt, der übersetzt folgendes besagt: «Ich wollte Sie wissen lassen, dass ich mit dem Gegenstand Ihrer Lektüre herzlich einverstanden bin. Es hat mich aufgemuntert.»
Volker Hage: Was wir euch erzählen, und: Schriftstellerporträts, Wallstein 2022 und 2019, 322 und 323 Seiten