Da steht er grimmig mit verkniffenem Gesicht vor dem Vaterlandsaltar in Rom. Das offizielle Italien feiert das Ende des Faschismus. Doch Ignazio La Russa, der zweitmächtigste Mann im Staat, wäre am liebsten nicht hier. Verärgert blickt er zu Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die regungslos neben ihm steht. Das war am letzten Dienstag, dem 25. April.
Italien feiert an diesem Datum das Ende der faschistischen und deutschen Gewaltherrschaft. Am 25. April 1945 hatte ein Nationales Komitee zum Aufstand gegen die Mussolini-Faschisten und Nazi-Besatzer aufgerufen. Mussolini floh an diesem Tag an den Comersee, wo er drei Tage später erschossen wurde.
Kurz nach der Feier am vergangenen Dienstag verschwand La Russa Richtung Prag. Dort würdigte er den tschechoslowakischen Studenten Jan Palach, der sich 1969 aus Protest gegen die Kommunisten verbrannte. Jan Palach wurde an diesem Tag weder geboren, noch wurde ein Denkmal eingeweiht, noch starb er an diesem Tag. Das Treffen der EU-Parlamentspräsidenten kam La Russa gelegen, um nach Prag verschwinden zu können.
Die rechtsgerichtete italienische Regierung tut sich schwer damit, dem Faschismus abzuschwören. Die Partisanen, die für die Befreiung Italiens gekämpft haben, sind in den Augen der Postfaschisten «einfach nur Kommunisten, die die Weltherrschaft anstrebten» – historisch eine eklatante Geschichtsverdrehung. Die Nationale Partisanen-Organisation Anpi fordert La Russa zum Rücktritt auf.
Sie taten es nicht
Gianfranco Fini, der frühere Neo- und Postfaschist, hatte schon früh den Faschismus als «das absolut Böse» bezeichnet. Er war unter Berlusconi Aussenminister und Parteichef der damaligen postfaschistischen «Alleanza Nazionale». Jetzt hatte er Meloni und La Russa aufgefordert, die Gelegenheit zu benutzen, um sich an diesem 25. April endgültig und klar vom Faschismus zu distanzieren. Meloni und La Russa taten es nicht.
Zwar verurteilen die beiden die Nazi-Herrschaft, legen Kränze in Konzentrationslagern nieder, besuchen das Römer Ghetto – doch die italienischen Faschisten lassen sie fast unbehelligt. Für viele Postfaschisten sind vor allem die Deutschen an den Gräueln in Italien schuld. Mussolini bezeichnen sie als «Geisel der Nazis».
Ignazio La Russa versteckt seine Sympathien für Mussolini nicht. Längst ist bekannt, dass der Senatspräsident zu Hause Statuen und Devotionalien von Mussolini aufgestellt hat. «Er schläft neben Mussolini-Statuen», frotzelt ein Sozialdemokrat. Der Duce habe doch «auch viel Gutes getan», sagt La Russa.
Der «Schwarzen Donnerstag von Mailand»
Schon in Jugendjahren sympathisierte er mit rechtsextremen Kreisen.
Es war vor 50 Jahren, der 12. April. Junge italienische Neofaschisten marschierten schnurstracks zur Mailänder Präfektur. Sie planten einen Umsturz und wollten die Stadt übernehmen. Dabei waren bekannte neofaschistische Grössen, unter anderem Massimo Anderson, der Stellvertreter von Giorgio Almirante, der Präsident des neofaschistischen «Movimento Sociale Italiano» (MS), der Nachfolgepartei von Mussolinis Faschisten.
Zwei der rechtsextremen Demonstranten warfen zwei Handgranaten vom Typ SRCM. Der 22-jährige Polizist Antonio Marino aus dem süditalienischen Caserta wurde getötet. Dreissig weitere Menschen wurden verletzt. Später sprach man vom «Schwarzen Donnerstag von Mailand».
Ignazio Benito
Unter den rechtsextremen Demonstranten befanden sich auch Ignazio La Russa, damals Anführer der neofaschistischen italienischen Jugendfront («Fronte della Gioventù»), und sein Bruder Romano. Ignazio wird später zwar freigesprochen, aber von vielen für den Aufstand «moralisch mitverantwortlich» gemacht.
Ignazio La Russa ist heute Präsident des italienischen Senats und damit nach dem Staatspräsidenten der zweitmächtigste Mann – formell mächtiger als die Ministerpräsidentin. La Russas Bruder Romano ist Sicherheitsrat für die Region Lombardei (Mailand). Bei einer Beerdigung eines Rechtsextremen streckte Romano den Arm zum faschistischen Gruss.
Der Vater der beiden Brüder, Antonino, war ein überzeugter Anhänger von Benito Mussolini und politischer Sekretär der Nationalen Faschistischen Partei im sizilianischen Städtchen Paternò bei Catania. Sein Sohn Ignazio erhielt den zweiten Vornamen Benito. Ignazio studierte in St. Gallen und schloss später sein Jurastudium in Pavia ab.
Von 1,96 Prozent auf über 30 Prozent
Der 1947 geborene La Russa sitzt seit 31 Jahren im italienischen Parlament. 2008 wurde er Vorsitzender der «Alleanza Nazionale» (AN). Berlusconi machte ihn zum Verteidigungsminister. Kurz darauf schloss sich die AN mit der Berlusconi-Partei zum «Popolo della Libertà» zusammen. Doch die Politik Berlusconis behagte La Russa nicht; sie war ihm zu wenig rechtsgerichtet.
Deshalb verliess er die Berlusconi-Partei und gründete im Dezember 2012 zusammen mit der jungen Giorgia Meloni die «Fratelli d’Italia». Der Name der neuen Partei entstammt der ersten Zeile der italienischen Nationalhymne («Fratelli d’Italia, l’Italia s’è desta» – Brüder Italiens, Italien hat sich erhoben). Auch Meloni, die seit ihrem 15. Altersjahr den Postfaschisten angehörte, betrachtete Berlusconis Politik als zu wässerig, zu wenig bissig, zu wenig rechts.
Die Fratelli dümpelten zunächst vor sich hin. Bei den Wahlen 2013 erreichten sie 1,96 Prozent der Stimmen. Die energische, oft sehr laute Meloni war es dann, die die Partei aufrichtete und sie innerhalb von zehn Jahren zur stärksten politischen Formation in Italien machte. Der eher angestrengt und völlig uncharismatisch wirkende La Russa wusste, dass die Partei mit ihm an der Spitze keine Mehrheit erreichen würde. Also liess er Meloni gewähren. Sein Kalkül war offensichtlich: In ihrem Schatten setze ich mich durch.
Sie überrascht viele
In Rom fragen sich heute einige: Wer ist eigentlich Regierungschef: Meloni oder La Russa? Doch Meloni hat gezeigt, dass sie nicht zu unterschätzen ist. Sie überrascht viele. Aber einen Bruch mit La Russa, ihrem engsten politischen Weggefährten, kann sie sich nicht leisten.
Aussenpolitisch führt Meloni eine klar pro-westliche Politik: Sie verteidigt den westlichen Einsatz in der Ukraine, stellt sich auf die Seite der Nato und der EU und ist gegen Putin. Diese unzweideutige Haltung war nicht von vornherein zu erwarten.
Innenpolitisch jedoch sieht es anders aus. Da ist der Einfluss von La Russa und den anderen Postfaschisten gross – bisher allerdings mit wenig Ergebnissen. Noch konnte Melonis Regierung innenpolitisch viele rechtspopulistische Wahlversprechen nicht durchsetzen. Eines ihrer wichtigsten Wahlkampfthemen war die Eindämmung der Flüchtlingswelle. Doch seit sie an der Macht ist, kommen drei Mal mehr Boat People über das Mittelmeer als vorher.
Hat sie sich geläutert?
Einige vermuten, Meloni verberge ihre eigentliche Gesinnung und warte bis zum Zeitpunkt, in dem sie stark genug sei, um ihre sehr rechten Postulate durchzusetzen. Andere glauben, sie habe sich gewandelt. In Rom diskutiert man darüber, ob sie in ihrem Innersten immer noch die Postfaschistin ist, die sie während Jahrzehnten war. Hat sie sich geläutert? Natürlich gehen die Meinungen auseinander.
Sicher ist: La Russa hat sich nicht geläutert. Im Innersten, das kommt immer wieder zum Vorschein, ist er der Gleiche geblieben und sympathisiert mit der äussersten Rechten. Jetzt ist er mächtig, ohne ihn geht in der Regierung gar nichts. Er poltert und provoziert und nimmt Meloni in eine Art Geiselhaft. La Russa ist der gefährlichste und einflussreichste Klumpen an ihrem Fuss.
Seine Feinde in Rom sagen: «Er ist nicht die graue Eminenz der Regierung, sondern die schwarze Eminenz.»
In böser Anspielung auf Mussolinis Schwarzhemden.