Der Waffenstillstand in Syrien ist zustande gekommen, weil die Amerikaner und die Russen ihn wollten. Aus dem gleichen Grund hält er vorläufig an, trotz allen Übertretungen und gegenseitigen Anklagen der Kriegsführenden. Er hat, wie alle Beobachter einräumen, eine starke Verminderung der Kriegshandlungen mit sich gebracht, und es besteht die Hoffnung, dass er zu einer weiteren Beruhigung führen könnte.
Dass es allerdings zu einem völligen Waffenstillstand kommen könnte, ist nicht zu erwarten. Der Hauptgrund ist, dass die Nusra-Front und die wichtigsten Rebellengruppen, die von Saudi-Arabien offen und von den USA etwas diskreter unterstützt werden, praktisch nicht auseinanderzuhalten sind. In den wichtigsten beiden Provinzen, in denen Nusra das Sagen hat, Idlib und Aleppo, stehen Nusra und Dschaisch ul-Fatah als Verbündete im Kampf gegen die nun offensiv vorgehende syrische Armee einerseits und gegen IS andrerseits. Sie kämpfen ausserdem «vermischt», was nur bedeuten kann, dass sie auch ihre Waffen gemeinsam einsetzen.
Nusra-Front und IS ausgeschlossen
Aus amerikanischen Hintergrundberichten verlautet, dass Kerry, als er mit Lavrov über den Waffenstillstand verhandelte, seinem russischen Kollegen vorschlug, die Nusra-Front mindestens vorläufig in den Waffenstillstand einzubeziehen. Dies mit der Begründung, die Nusra-Front und die mehr «gemässigten» Kämpfer gegen Asad seien schwer auseinanderzuhalten. Doch Lavrov soll dies strikt zurückgewiesen haben, so dass Kerry sich veranlasst sah, der heute geltenden Regelung zuzustimmen, nach welcher Nusra-Front und IS von dem Waffenstillstand ausgeschlossen sind.
Dies führt dazu, dass es für Asad und für die Russen sowie deren iranische Hilfskräfte jederzeit möglich ist, Kriegshandlungen gegen die wichtigsten Rebellengruppen durchzuführen, ohne offiziell den Waffenstillstand zu brechen. Es genügt ihnen zu erklären, sie hätten das Feuer auf die Nusra-Front eröffnet sowie auf Kämpfer, die praktisch mit Nusra gleichzusetzen seien – «Terroristen» allesamt im Sprachgebrauch Asads und wenn nötig auch der Iraner und der Russen.
Amerikaner für Waffenstillstand
All dies führt zu der zentralen Frage: Was wollen die Russen? Krieg oder Frieden? Oder, als dritte Möglichkeit, einen reduzierten Krieg mit Waffenstillständen oder ohne, je nach Zweckmässigkeit?
Dass die Amerikaner einen vollen Waffenstillstand und danach Verhandlungen anstreben, ist ziemlich deutlich. Sie haben gute Gründe dafür. Der Eingriff der sowjetischen Luftwaffe hat bewirkt, dass die Pro-Asad-Kämpfer mit russischer Unterstützung aus der Defensive in die Offensive übergehen konnten und langsame Fortschritte machten. Es gelang ihnen die Bedrohung der Herzprovinz der Alawiten, Lattakiya, durch die Anti-Asad-Kräfte zu beenden und im Norden von Aleppo die wichtigste Versorgungstrasse nach der Türkei, die Strasse Aleppo-Killis, zu sperren.
Es gibt noch eine zweite Verbindungsstrasse zwischen dem von den Anti-Asad-Kräften gehaltenen Ostteil der Grossstadt und der türkischen Grenze. Sie führt westlich durch von der Nusra-Front beherrschtes Gebiet nach der türkischen Provinz Hatay (Antiochien) über den Grenzpass von Bab al-Hawa an der nördlichsten Ecke der Idlib-Provinz. Doch diese Verbindung steht unter Beobachtung und Beschuss durch russische Flugzeuge und Artillerie.
Die nicht zu leugnende Gewichtsverschiebung im Syrienkrieg – zugunsten von Asad und seinen Helfern auf Kosten der Rebellen und deren Stützen – stellt die Amerikaner vor eine Wahl. Entweder sie müssen ihren Einsatz in Syrien steigern, oder sie müssen versuchen, so rasch wie möglich eine diplomatische Lösung zu finden. In diesem zweiten Fall spielt die Zeit gegen sie.
Noch leisten die Rebellen Widerstand und zur Zeit ist die Asad-Seite noch schwach genug, dass sie möglicherweise in Friedensverhandlungen Kompromisse eingehen würde. Je länger jedoch die Kämpfe in der gegenwärtigen Phase andauern, desto stärker wird Asad und desto aussichtsloser wird die Verhandlungsposition seiner Gegner. All dies ist offensichtlich.
Warum stimmt Russland zu?
Doch viel weniger klar ist: Warum stimmen die Russen einem Waffenstillstand zu? Man kann viele mögliche Motive finden, die über Syrien hinaus im Bereich der russischen Weltpolitik liegen. Man könnte zum Beispiel die Lage in der Ukraine als Erklärungsversuch herbeiziehen oder die Wirtschaftslage Russlands unter dem westlichen Boykott und dem gesunkenen Erdölpreis.
Doch man sollte nicht übersehen, dass es auch innersyrische Gründe gibt, welche die Russen dazu bewegen könnten, einem Waffenstillstand der geschilderten Art (mit der Möglichkeit die Kämpfe nicht ganz einstellen zu müssen) anzustreben. Auch ein reduzierter Krieg, steuer- und modulierbar je nach Zweckmässigkeit, kann den Russen dienen.
Wenn es zu Verhandlungen kommt, was noch lange nicht sicher ist, und wenn die Asad-Seite dabei ihre Ziele nicht zu erreichen vermag, vergeht jedenfalls Zeit. Asad geht es darum, an der Herrschaft zu bleiben, vielleicht zunächst nur über das westliche Syrien und mit weiter andauerndem Kampf gegen den IS im Osten. In der gegenwärtigen Lage ist Zeitgewinn ein Vorteil für Asad und die Russen. Weshalb? Der Grund wird am ehesten klar, wenn man sich den Alternativen zuwendet, die den Amerikanern zur Verfügung stehen für den Fall, dass die Verhandlungen zu keiner ihnen tragbar erscheinenden Lösung führen.
Wenig Druckmittel der Amerikaner
Drei Möglichkeiten werden von den amerikanischen Strategen erwähnt, wenn sie von einem Plan B für den Fall sprechen, dass eine Friedenslösung unerreichbar bleibt. Dieser Plan beinhaltet: (B1) mehr Geld und Waffen für die «gemässigten» Kämpfer; (B2) Sondertruppen, um den Rebellen zu helfen, ähnlich wie sie im Irak eingesetzt werden; (B3) die von der Türkei gewünschte «geschützte Zone» an der syrischen Nordgrenze.
Der Plan B3 wurde bisher von Obama immer zurückgewiesen, weil er nicht zu verwirklichen wäre, ohne zuerst die Luftwaffe Syriens auszuschalten. Er wird heute noch gefährlicher, weil auch die russische Luftwaffe präsent ist. Eine durch die Amerikaner geschützte Zone in Nordsysrien würde eine direkte Konfrontation mit den Russen bedeuten.
Plan B2, mehr irreguläre Truppen des Westens auf syrischem Boden, würde ebenfalls eine Eskalation des Krieges mit sich bringen, deren Folgen unabsehbar wären. Im Gegensatz zum Irak würden die amerikanischen Sondertruppen nicht mit Billigung der syrischen Regierung in Syrien präsent sein und natürlich auch nicht mit Zustimmung der Russen. Die Gefahr russisch-amerikanischer Direktkonfrontation wäre gegeben.
Plan B1, mehr Waffen, hängt davon ab, wie diese Waffen geliefert werden könnten. Der Weg über die Türkei ist nördlich von Aleppo abgeriegelt, westlich von Aleppo sperrbar durch die russischen Bomber und Waffen. Der irakische Zugang wäre weitgehend vom IS gesperrt und auch dem schiitisch regierten Bagdad nicht willkommen. Die irakische Regierung stützt sich auf Iran.
Kommen Jordanien und die Südfront als Zugang in Frage? Vielleicht tropfenweise und höchstens im Süden. Ein Zugang durch Libanon ist wegen Präsenz und Gewicht von Hizbullah schwerlich denkbar.
Die Zeit wirkt für Asad
Mit anderen Worten, so lange keine den Russen und Asad genehme Friedenslösung gefunden wird, ist der Widerstand gegen Asad geschwächt, ohne dass die Amerikaner ein wirksames Mittel haben, um ihn zu stützten. Die Schwächung geschieht durch Ermüdung angesichts der erzwungenen Untätigkeit über Tage, Wochen, Monate hin.
Noch schwerer wiegen die inneren Streitereien und Gegensätze, die angesichts der Konfrontationen in den Waffenstillstands-Verhandlungen unvermeidlich ausbrechen. Diese Auseinandersetzungen bieten den unterschiedlichen Gruppen und ihren machthungrigen Führern wachsende Handlungs- und Profilierungsoptionen. Die Positionskämpfe sind jetzt schon im Gange.
Die Frage, was der sich abzeichnende Waffenstillstand den Russen nütze, muss daher wie folgt beantwortet werden: Weil die Zeit gegen die Feinde Asads wirkt, schwächt ein Waffenstillstand die Feinde Asads – auch in dem Fall, dass Waffenstillstand und Verhandlungen schlussendlich kein für Asad annehmbares Resultat erbringen und der Krieg wieder aufflammt.