Viele Ägypterinnen und Ägypter glauben, die herrschenden Oberkommandanten der Armee seien - wahrscheinlich gegen ihren Willen - dazu gezwungen worden waren, den Prozess wirklich durchzuführen. Die Volksbewegung der Revolutionäre hatte dies durchgesetzt durch erneute Unruhen und Demonstrationen. Also, so schlossen viele im Hochgefühl des Triumphes, hat sich "das Volk" als stärker erwiesen denn die Junta der Militärkommandanten. Denkbar ist aber, dass die Armee in diesem Prozess vielmehr eine Art von Blitzableiter sieht, um Kritik von sich selber fernzuhalten.
Kommt es zu einer Verurteilung?
Der Prozess gegen Mubarak wurde vertagt und soll am 15. August weitergeführt werden. Wie er fortgesetzt werden wird, ist nicht voraussehbar. Die Verteidiger des abgesetzten Präsidenten haben seinen schlechten Gesundheitszustand hervorgehoben. Ein Krebsspezialist soll sich im Spital, wo Mubarak eingewiesen wurde, um ihn bemühen. Manche seiner ehemaligen Mitarbeiter und Gefolgsleute hoffen wohl, dass er sterben darf oder nicht mehr angehört werden kann, bevor der Prozess zu Ende geht. Möglicherweise gehören auch die herrschenden Militärkommandanten oder einige von ihnen zu diesen Kreisen.
Konzessionen in vielen Belangen
Von den Militärs aus gesehen, ist die Eröffnung des Prozesses eine weitere Konzession, nach wichtigen anderen, die sie gegenüber den Revolutionären und den von ihnen mobilisierten Volksmassen eingingen. Die erste war die Absetzung Mubaraks, eine weitere war die Auflösung der zivilen Geheimdienste und die Anklage gegen den Innenminister Mubaraks, der nun mit ihm zusammen vor Gericht steht. Andere Konzessionen bestanden aus den Umbildungen der Regierungen, von denen schrittweise die Minister ausgeschlossen wurden, die schon unter Mubarak gedient hatten.
Grundfreiheiten gewährt
Die neuen Freiheiten für Parteien und Media gehörten dazu, sowie auch das grundlegende Versprechen der Militärführung, das Land auf Wahlen und ein demokratisches Regime hinzulenken. Kürzlich wurde auch die Führung der offiziellen ägyptischen das heisst praktisch staatlichen, Gewerkschaftszentrale aufgelöst, allerdings ohne diese eigentlich faschistische Institution ganz abzuschaffen.
Weit definierter Bereich der Armee
Doch es gibt andere Bereiche, in denen die Militärführung nicht auf die Wünsche der Revolutionäre einging. Es sind jene, die direkt oder indirekt mit der Machtausübung und den Privilegien der Armee zusammenhängen. So wurde der militärische Geheimdienst nicht aufgelöst oder eingeschränkt. Er ist im Gegenteil in die Lücke gerückt, welche die aufgelösten zivilen Geheimdienste offen liessen.
Die Militärgerichte urteilen weiterhin auch zivile Angeklagte ab, denen vorgeworfen wird, sie hätten sich gegen Regeln oder Personen vergangen, die irgendwie mit der militärischen Machtsphäre zusammenhängen. Nach Angaben von ägyptischen Menschenrechtlern sollen mehrere Tausend Zivilisten von den Militärgerichten verurteilt worden sein. Hinzu kommen weitere Tausende, die festgenommen worden sind, ohne vor ein Gericht zu gelangen.
Die militärische Macht übt – offiziell provisorisch – nach wie vor die Regierungsmacht aus. Sie nimmt darum für sich in Anspruch, auch für die öffentliche Ordnung verantwortlich zu sein. Darum kann jedermann vor ein Militärgericht gebracht werden, dem vorgeworfen wird, gegen das Gebot von Ruhe und Ordnung verstossen zu haben. Das können zum Beispiel Arbeiter sein, die vor dem Sitz ihrer Verwaltungsgebäude für höhere Löhne demonstrieren.
Militärgerichte als Machtinstrument
Die Rechtssicherheit vor den Militärgerichten ist sehr gering. Es sind Blitzprozesse, deren Urteil nicht revidiert werden kann und in denen eine effektive Verteidigung kaum besteht. Wer sich darüber beschweren wollte, liefe Gefahr, selbst wegen Missachtung der militärischen Institutionen verklagt und abgeurteilt zu werden.
Festlegung Roter Linien
Gesamthaft gesehen gibt es Rote Linien, die darüber entscheiden, in welchem Bereich die herrschenden Militärs zu Konzessionen bereit sind, und in welchem nicht. Alles was von nah oder ferne die Machtposition der Militärs angeht, ist nicht diskutierbar. Alles was die gegenwärtig im Umbruch stehende zivile Gesellschaft betrifft, darf diskutiert werden und kann mit Zustimmung der Offiziere neu geregelt werden.
Der strategische Informationsbereich
Die Information bewegt sich unvermeidlich in nächster Nähe der Roten Linien. Die Offiziere sehen nicht gerne, dass die Medien unter ihren neuen Freiheiten auch auf die Armee oder auf die politischen Massnahmen eingehen, welche die Armeeführung direkt in ihrer Rolle als provisorischer oberster Machthaber des Landes anordnet. Ihrer Ansicht nach sollen die Medien nur jene Informationen darüber verbreiten, die sie selbst in der Form von befehlsartigen Communiqués den Medien übermitteln.
Was die Beschlüsse der Regierung angeht, so sind sie - zur Zeit noch - diskutierbar, obwohl diese Beschlüsse in den wichtigeren Fragen von der Regierung nur nach Konsultation und mit Grünem Licht der Militärführung gefasst werden.
Weisungen an die Medien
Kürzlich liess die Militärführung den Herausgebern der Zeitungen und Leitern von Fernseh- und Radiostationen eine Weisung zukommen, welche die Agentur Reuter veröffentlicht hat. Sie besagt: Die Herausgeber sollten "keine Berichte, Neuigkeiten, Ankündigungen, Klagen, Erklärungen und Bilder veröffentlichen, die sich auf die Streitkräfte beziehen, ohne sie zuerst dem Büro für moralische Angelegenheiten des Departements für Militärische Informationen und Informationsbeschaffung vorgelegt zu haben".
Übergriffe der Militärorgane
Schon vor dieser Erklärung wurden verschiedentlich Journalisten von Militärgerichten vorgeladen, die kritische Informationen oder Meinungen über das Verhalten der militärischen Organe veröffentlicht hatten. Zu diesen Organen gehören auch Offiziere und Mannschaften der militärischen Geheimdienste. Diese gehen dem Vernehmen nach ebenso brutal gegen Personen vor wie die früheren Agenten des zivilen Geheimdienstes, wenn sie Menschen festnehmen, einkerkern und "verhören". Folterungen scheinen dabei an der Tagesordnung zu sein.
Warnende Vorladungen
Bekannte Fernseh-Moderatoren, die gegenüber der Armee und der politischen Rolle der Offiziere Vorbehalte vorbrachten, wurden am Auftreten gehindert. Der Fall des Bloggers Mikail Nabil gilt als eine Warnung für Alle. Er hatte in seinem Blog den Slogan hinterfragt, nach dem "das Volk und die Armee wie die Finger einer Hand seien". Er kam dafür vor ein Militärgericht und wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Nach den Aussagen seines Advokaten wurde das Urteil überraschend verkündet, nachdem Nabil und seiner Familie erklärt worden sei, "der Fall sei vertagt worden".
In vielen anderen Fällen kommt es zu Vorladungen und Verwarnungen, die unter den gegeben Umständen unvermeidlich zu einer gewissen Selbstzensur der Medien und ihrer Mitarbeiter führen.
Wieder ein "Informationsministerium"
Das ägyptische "Informationsministerium", das unter Mubarak und seinen Vorgängern stets der Verbreitung von staatlichen Informationen und Des-Informationen sowie der Zensur von nicht offiziellen Berichten und Meinungen gedient hatte, war nach der Revolution stillgelegt worden. Doch es wurde nun wieder eingeführt.
Die neue Informationsfreiheit
Trotz diesen Einschränkungen hat die Revolution bedeutende Schritte zur Informationsfreiheit gebracht. Die Journalisten der bestehenden staatlichen und halbstaatlichen Medien sorgten dafür, dass ihre bisherigen Chefredakteure und andere dem Staat verpflichtete Leiter und Kontrolleure zurücktraten. Neue Zeitungen und neue private Fernsehstationen wurden gegründet und wachsen weiter wie Pilze aus dem Boden. Sie machen den alteingesessenen und nun gereinigten Medien Konkurrenz, die sich noch immer in staatlichem Besitz befinden.
Das nun wiederbelebte Informationsministerium wird Mühe haben, sie alle erneut unter seine Kontrolle zu bringen. Doch die Roten Linien der Armee sind da, ganz besonders im Informationsbereich, und gegenwärtig scheinen sie eher verstärkt als aufgehoben zu werden.
Notwendig für Ruhe und Ordnung?
Man kann die politische Linie der Streitkräfte kritisch sehen, man kann sie aber auch verteidigen, und viele Ägypter verteidigen sie. Ihr Argument lautet: "Die Armee hat versprochen, das Land auf ein demokratisches Regime hinzuführen. Der Übergang kann nur bewerkstelligt werden, wenn ein Minimum von Ordnung gewährleistet bleibt und wenn die Wirtschaft soweit fortarbeiten kann, dass das Land nicht zugrunde geht. Zu diesem Zweck benötigen die Offiziere Mittel und Instrumente, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Gäbe es sie nicht, würden die unerfahrenen jugendlichen Revolutionäre ein Chaos herbeiführen."
Die Islamisten preisen die Armee
Die islamischen und islamistischen Kräfte, die am 29. Juli ihre Macht in gewaltigen Demonstrationen sichtbar gemacht haben, sind geneigt, derartigen Meinungen zuzustimmen. So sehr, dass die revolutionären Gruppen ihrerseits glauben, es könnte ein geheimer Pakt zwischen den Militärs und den Islamisten bestehen, der darauf ausgehe, den Übergang zu einem demokratischen Regime so abzusichern, dass dies keine oder nur minimale Umwälzungen im sozialen Gefüge und keine ruckartigen Veränderungen der gesellschaftlichen Schichtung und Zusammensetzung mit sich bringe.
Offiziell eine neutrale Rolle
Die Offiziere hören solche Vermutungen ungern. Sie erklären regelmässig, sie seien neutral und bevorzugten keine der heute überaus zahlreichen politischen Gruppen und Ausrichtungen. Tatsächlich dürften die Offiziere an diese eigene Neutralität glauben. Aber im Verständnis der Offiziere gehört zu dieser Neutralität auch, dass die Armee und ihre Belange in dem Sinne "mit dem Volk Hand in Hand gehen", dass das Volk keinerlei Grund und Berechtigung habe, an den militärischen Belangen irgendetwas zu ändern oder zu kritisieren. Zu diesen Belangen gehört auch die Tatsache, dass grosse Teile an der ägyptischen Wirtschaft sich nach wie vor ganz oder teilweise im Besitz der Militärs und unter der Leitung von ehemaligen Offizieren befinden. Die Rede ist - je nach Beurteiler – von einem Fünftel bis zu einem Drittel der ägyptischen Volkswirtschaft.
Lieber Erhaltung als Umwälzung
Wie sich diese Grundhaltung der Armeespitzen mit der erhofften Demokratie in Einklang bringen lässt, ist sehr offen. Wahrscheinlich wäre es leichter im Falle einer konservativ ausgerichteten Demokratie als im Falle eines Regimes, das auf tiefgreifende soziale Veränderungen ausginge. Unter den heute wirksamen Volkskräften sind die islamistischen Strömungen ohne Zweifel die konservativsten. Hier liegt der Grund für Vermutungen über einen heimlichen Pakt zwischen der Militärführung und den Islamisten.
Gemeinsamkeiten mit den Islamisten
Doch auch ohne Pakt gibt es Zusammenarbeit. Die Islamisten fördern sie sichtbar, indem sie bei ihren Demonstrationen die Armee hochleben lassen. Sie tun dies aus dem gleichen Grund, aus dem früher alle Revolutionäre auf dem Tahrir Platz gemeinsam die Soldaten lobten und willkommen hiessen: weil es besser ist, ja überlebenswichtig sein kann, sie mit ihrer Macht und ihren Machtinstrumenten auf der eigenen Seite zu halten und sie sich nicht zu Gegnern zu machen.