Conte trat um 15.00 Uhr vor die Senatoren und griff Matteo Salvini gleich scharf an. Der Innenminister habe „persönliche Ziele“ verfolgt und volle Macht verlangt, kritisierte Conte. Zudem wolle der Lega-Chef die Bevölkerung zu Demonstrationen auffordern. „Matteo, dein Konzept beunruhigt mich“, sagte Conte. „Wir benötigen niemanden, der mit voller Macht ausgestattet ist, aber jemanden, der Respekt für die (demokratischen) Institutionen zeigt“.
Salvini habe Italien in Europa isoliert, sagte Conte weiter und attackierte ihn wegen seiner ungeklärten Machenschaften mit Putin. Auch Salvinis ewiges Herumfuchteln mit dem Rosenkranz ist dem Regierungschef ein Dorn im Auge.
Demission statt Sturz
„Die Regierung endet hier“, erklärte der Ministerpräsident gegen Schluss seiner 56-minütigen Rede. „Ich schliesse jede weitere Zusammenarbeit mit der Lega aus“, hatte er schon vor seiner Rede wissen lassen.
Er werde sich jetzt die Debatte anhören und anschliessend zum Quirinal-Palast hochfahren, um bei Staatspräsident Sergio Mattarella seine Demission einzureichen. Damit kam er einer Misstrauensabstimmung zuvor. Eine solche hatte Salvini gefordert, und eine solche hätte Conte wohl verloren, denn auch die Linke um den früheren Ministerpräsidenten Matteo Renzi sprach sich für seinen Sturz aus. Renzi, der in die Wüste geschickte frühere Regierungschef, sagte: „Die Regierung hat Italien in die Knie gezwungen. Governo, va a casa!“
„Amico mio“
Es war eine eindringliche Rede, die Conte an diesem Dienstag hielt. Die Zeitung La Repubblica spricht von einem „discorso fortissimo“. Immer wieder wurde der Regierungschef von Beifall unterbrochen und von der Lega ausgebuht. Lange Zeit galt Conte als Pudel Salvinis. In letzter Zeit hat er klar an Kontur und Eigenständigkeit gewonnen. Die Cinque Stelle bezeichneten ihn am Dienstag als „rare Perle“.
Während seiner Rede legte Conte dem neben ihm sitzenden Salvini mehrmals die Hand auf die Schulter und sprach ihn – etwas zynisch – als „amico mio“ direkt an. Dieser verzog keine Miene, ab und zu hob er die Schultern.
Neuwahlen unwahrscheinlich
Mattarella, einer der wenigen besonnenen Männer im italienischen Politbetrieb, könnte nun Neuwahlen ansetzen. Dass er dies aber jetzt tut, gilt als unwahrscheinlich. Solche Wahlen würde die Lega wahrscheinlich klar gewinnen. Letzte Meinungsumfragen zeigen, dass die von Salvini provozierte Krise die Italiener keineswegs abschreckt. Rund 38 Prozent der Befragten halten ihm nach wie vor die Stange. In einigen Umfragen legt er sogar weiter zu. Auch am Dienstag forderte Salvini rasche Neuwahlen im Oktober.
Es gibt einen praktischen Grund, der gegen Neuwahlen spricht. Eine neue Regierung wäre im besten Fall frühestens in zwei, drei Monaten handlungsfähig, wahrscheinlich aber später. Doch die Zeit drängt. Italien muss der EU bis Mitte Oktober den neuen Haushaltsplan vorlegen.
Beginnendes Feilschen
Mattarella, ein ehemaliger Verfassungsrichter, könnte jetzt den zurückgetretenen Conte (oder einen anderen) beauftragen, eine Mehrheit für eine neue Regierung zu suchen – ohne die Lega.
Das heisst: Jetzt beginnt das Geschacher hinter den Kulissen. Ob sich – wie manche Kommentatoren etwas voreilig prophezeien – die Linke und die Cinque Stelle zusammenfinden, ist keineswegs sicher. In beiden Parteien gibt es starke Aversionen gegen die andere.
Auf wackligem Boden
Doch selbst wenn dies gelänge, würde das Italien nur kurzfristig eine Verschnaufpause bringen. Denn das Konstrukt „Sozialdemokraten/Fünf Sterne“ stünde auf sehr wackligem Boden. Die Linke ist traditionell zerstritten und zieht selten am gleichen Strick.
Andererseits sind die Cinque Stelle ein unberechenbarer Partner. Viele bezeichnen sie als „Linkspopulisten“. Das sind sie nur teilweise. Sie sind immer wieder auch „Rechtspopulisten“. Vor allem sind sie unerfahren, teils schrecklich naiv, ohne klare Ideologie, viele hatten nie ein politisches Amt. Nicola Zingaretti, der Chef der Sozialdemokraten, hatte sich für eine „starke Regierung der Erneuerung“ ausgesprochen. Ob ein Zusammengehen zwischen den Sozialdemokraten und den Fünf Sternen eine solche Regierung bringen würde, ist mehr als zweifelhaft.
Programmierter Streit
Doch selbst wenn sich die beiden grundsätzlich finden sollten, gäbe es bei praktischen Fragen wohl schnell Streit. Wer würde Ministerpräsident werden? Erneut Conte? Oder der Präsident der Abgeordnetenkammer Roberto Fico von den Fünf Sternen? Auch Matteo Renzi will. Doch er ist nicht nur in seiner eigenen Partei umstritten, viele von den Cinque Stelle lehnen ihn energisch ab. Möglich wäre auch eine Kandidatur des früheren sozialdemokratischen Ministerpräsidenten (und Renzi-Nachfolgers) Paolo Gentiloni.
Lange wurde spekuliert, Salvini könnte etwas zurückkrebsen. Dann würden sich die Lega und die Cinque Stelle erneut finden. Doch eine Reparatur des bisherigen Bündnisses gilt nach Contes heutiger Rede als ausgeschlossen. Beppe Grillo, der Mitbegründer der Cinque Stelle, bezeichnete Salvini als „nicht glaubwürdig“.
„Technische Regierung“?
Sollte der Ministerpräsident (oder ein anderer) nicht bald eine Parlamentsmehrheit finden, könnte Staatspräsident Mattarella als Übergangslösung eine „technische Regierung“, die aus Fachleuten besteht, einsetzen. Diese hätte dann die Aufgabe, den Budgetentwurf auszuarbeiten, den Italien der EU einreichen muss.
Viele halten, um die Wogen zu glätten, eine solche Regierung aus Fachleuten für die zurzeit beste Lösung. Italien hat mit technischen Regierungen teils gute Erfahrungen gemacht.
Salvini hat sich überschätzt
Und Salvini, ist er jetzt kaltgestellt? Keineswegs. Doch der starke Mann hat sich überschätzt. Seine Allüren und seine Arroganz gehen immer mehr Leuten auf die Nerven. Die Meinungsumfragen haben ihn übermütig gemacht. Zwei Wochen lang lümmelte er sich auf Italiens Stränden, präsentierte seinen nackten Oberkörper, trank einen Mojito nach dem anderen, liess sich mit schönen Frauen ablichten und beleidigte, verhöhnte und demütigte seine Gegner. Seine mussolinische Forderung nach „voller Macht“ hat doch einige erschreckt. Nach der Rede von Conte sagte er: „Ich würde alles nochmals genauso machen.“
Ruhe wird er nicht geben. Im Gegenteil. Er wird sich darauf berufen, dass die Lega die stärkste Partei ist. Sie von der Macht zu verdrängen, sei undemokratisch. Schon sprechen Lega-Vertreter von einem „Staatsstreich“.
Der Märtyrer
Sollte er von der Macht verdrängt werden, werde er „auf die Plätze gehen“ drohte er. Konkret heisst das, er will das Volk aufwiegeln. Wird ihm das gelingen, wird er dann noch stärker als bisher? Schon präsentiert er sich als Märtyrer, dem verweigert wird, Italien zu retten.
Von einer künftigen Regierung, wie sie auch immer aussehen mag, sind keine Wunder zu erwarten. Salvini wird keine Gelegenheit auslassen, sie aus der Opposition zu brandmarken und sich als Heilsbringer zu empfehlen.
Italien geht unstabilen Zeiten entgegen
Nicht ausgeschlossen aber ist auch, dass die Zeit des Matteo Salvini langsam zu Ende geht. Sein ständiges Trommelfeuer ermüdet. Aber wie lange der Salvini-Hype noch andauert, vermag niemand zu prognostizieren.
Was jetzt auch immer geschieht: Italien geht unruhigen, unstabilen Zeiten entgegen. Doch gerade jetzt bräuchte der Null-Wachstum-Staat eine stabile Regierung, um die lahmende Wirtschaft anzukurbeln – und das fehlende Vertrauen in das Belpaese zurückzugewinnen.