Nicht nur militärisch hat Hamas trotz erfolgreicher Überrumpelung Israels keine Chance. Im eigenen arabischen Lager verlieren die radikalen Islamisten an Bedeutung. Für Saudi-Arabien, das grosse Zukunftspläne hegt, stören die Extremisten nur noch.
Es ist schrecklich-deprimierend vorhersehbar: Dieser Krieg wird (provisorisch) enden wie alle anderen zuvor zwischen militanten Palästinensergruppen und Israel, und er wird nichts an den grundlegenden Problemen ändern. Israel wird sich über kurz oder lang, auch um den Preis von hunderten Toten und tausenden Verletzten, gegen Hamas behaupten.
Noch mehr Opfer werden die Palästinenser im Gazastreifen zu beklagen haben, noch tiefer werden sie in Not geraten. Dann werden einmal mehr internationale Hilfsorganisationen in Aktion treten, man wird einiges wieder aufbauen, und es wird wieder für vielleicht zwei oder drei Jahre eine Schein-Normalität geben. Und dann bricht der nächste Krieg aus. Alles fast schon programmiert.
5000 Raketen aus dem «Freiluftgefängnis»
Etwas allerdings ist anders als früher: Diesmal konnte die radikalislamische Hamas die israelischen Sicherheitsdienste austricksen, so dass ihre Kämpfer im Blitztempo die Grenzzäune an 29 Stellen (diese Zahl veröffentlicht Israel) aufbrechen und in israelische Ortschaften vordringen konnten. Die Trennlinie zwischen Israel und dem Gazastreifen wurde ja bisher immer als unüberwindbar und der Gazastreifen mit seinen 360 Quadratkilometern (das entspricht ungefähr der Grösse eines mittleren schweizerischen Kantons) und seinen 2,3 Millionen Menschen als «Freiluftgefängnis» geschildert.
Die Mauern dieses «Gefängnisses» sind aber, das bewies der Angriff der Hamas-Aktivisten vom Samstag, zumindest so undicht, dass Material für Waffen und Sprengstoff in gewaltigen Mengen hineingeschmuggelt werden konnte. Bis zum Sonntag sollen, gemäss israelischen Angaben, nicht weniger als 5000 Raketen vom Gazastreifen auf Israel abgefeuert worden sein. Die wurden in den Werkstätten entweder aus Teilen montiert, die von Sympathisanten der Hamas aus einem anderen arabischen Land geliefert worden waren – oder es handelte sich um Waffen, die, schon gefertigt, Iran geliefert hatte.
Iran ist international der bedeutendste Unterstützer von Hamas, und das iranische Regime wird auch verdächtigt, die Hamas-Kommandanten motiviert zu haben, jetzt den Angriff gegen Israel zu beginnen. Iran, so wird das in Israel gerne dargestellt, sei die einzige Macht, auf die Hamas sich verlassen könne; in der palästinensischen Gemeinschaft aber habe die radikale Bewegung keinen echten Rückhalt.
Breite Zustimmung zu Hamas unter Palästinensern
Ein Faktencheck zu diesem Thema ist nicht möglich – weder im Gazastreifen noch im palästinensischen Westjordanland gab es in den letzten Jahren freie Wahlen. Der letzte Urnengang in beiden Gebieten fand 2006 statt, und damals gewann Hamas mit 76 von 132 Sitzen die absolute Mehrheit und damit scheinbar einen Kampf um Akzeptanz gegen die Konkurrenz, die relativ gemässigte Fatah-Fraktion. Im Jahr danach wagte Hamas den Machtkampf gegen Fatah im Gazastreifen und schwang sich in diesem Teil der Palästinensergebiete zur Alleinherrscherin auf.
Ihre Politik ist seither gekennzeichnet von Willkür und Gewalt. Amnesty International prangerte an: willkürliche Verhaftungen, Folter und Hinrichtungen. All das sollte eigentlich Anlass genug sein, um der radikalislamischen Bewegung (Hamas ist ein Akronym von, übersetzt, islamische Widerstandsbewegung, harakat al-muqawama al-islamiya) jegliche Sympathie zu entziehen. Doch so ist es nicht, wie punktuelle Umfragen bei der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland und in Ost-Jerusalem zeigen. Viele Beobachter vor Ort gelangten zur Schlussfolgerung: Wenn es in diesem Gebiet freie Wahlen gäbe, würde die relativ gemässigte Fatah von Präsident Abbas eine Niederlage erleiden, Hamas könnte die Mehrheit erringen.
Die Stimmungslage ist in der aktuellen Situation von Bedeutung. Vorläufig herrscht im Westjordanland das, was der in Ramallah für die Konrad-Adenauer-Stiftung tätige Steven Höfner gegenüber der ARD am Sonntag als «gespenstische Ruhe» kennzeichnete. Sollte es aber in dieser Region des Palästinensergebiets zu gewalttätigen Aktionen gegen die israelischen Streit- und Sicherheitskräfte kommen, dann befände Israel sich in einem Zweifrontenkrieg. Selbst von einem Dreifrontenkonflikt ist man nicht mehr weit entfernt, denn es gab auch bereits einzelne Attacken gegen israelische Positionen von Hizbullah, der schiitischen (übrigens schwer bewaffneten) pro-iranischen Miliz im Süden Libanons.
Gegen die Normalisierungspolitik Saudi-Arabiens
Der von Hamas-Aktivisten lancierte Konflikt verfolgt, so schreibt das der palästinensische Kolumnist Marwan Bishara für «Al Jazeera», drei Ziele: «Erstens Vergeltung und Strafe für Israel für Okkupation, Unterdrückung, illegale Siedlungen und die Entweihung von religiösen Symbolen der Palästinenser (vor allem der al-Aqsa-Moschee in Jerusalem), zweitens Protest gegen die Politik jener arabischen Staaten, die ihre Beziehungen mit Israel normalisieren wollen, und drittens einen Gefangenaustausch erzwingen, um so viele Palästinenser wie möglich aus israelischer Haft freizubekommen.»
Der zweite von Marwan Bishara erwähnte Punkt ist von besonderer Bedeutung: Nach den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Marokko begab sich in den letzten Wochen das wichtigste Land der Region, Saudi-Arabien, auf den Weg zur Normalisierung der Beziehungen mit Israel. Regierungen in der vom Islam geprägten Welt begehen damit, aus der Perspektive von Hamas, Verrat nicht nur an den Palästinensern, sondern am Islam. Sie verzichten damit, so verstehen es die Radikalen, auf Jerusalem, die für den Islam drittwichtigste Stätte.
Marginalisierte Palästinenser
Wird es Hamas gelingen, Saudi-Arabien zu beeinflussen? Wahrscheinlich nicht – der De-facto-Herrscher, Mohammed bin Salman, hat seine eigenen Prioritäten, und davon wird er sich durch radikale Palästinenser nicht abbringen lassen: Er will sein Land in die Zukunft katapultieren, es zu einer politischen und wirtschaftlichen Grossmacht aufbauen, und dafür braucht er Frieden in der mittelöstlichen Region, inklusive die Normalisierung mit Israel. Den gegenwärtigen Krieg wird er als Fussnote bewerten, mehr nicht – egal, wie viele Tote der Waffengang auf der einen und der anderen Seite noch fordern wird.
Die Palästinenser wurden, betrachtet man den ganzen mittelöstlichen Raum, marginalisiert. Ihre Probleme und Nöte gehören nicht mehr zu den Prioritäten der tonangebenden Regierungen. Daran wird auch die vorhersehbare Niederlage von Hamas im Krieg mit Israel nichts ändern.