Die Demonstranten verlangen, dass die Militärführung auf die Macht verzichtet, die sie sich im vergangenen Januar selbst genommen hat. Die Zusammenstösse zwischen den Sicherheitskräften und den Demonstranten haben bereits zu über 30 Toten und über 1'500 Verletzten geführt, und sind noch nicht zu Ende. 37 Revolutionsgruppen haben sich nach der grossen Massendemonstration vom vergangenen Freitag dazu entschlossen, den Befreiungsplatz erneut zu besetzen. Die Militärführung wollte dies nicht zulassen und sorgte dafür, dass die Polizei am Samstag gegen sie vorging.
Volksmobilisierung durch Polizeibrutalität
Dies geschah in einer dermassen brutalen Art und Weise, dass es den Revolutionsgruppen gelang, erneut grosse Massen von Demonstranten dazu zu bewegen, auf die Strassen der Innerstadt zu ziehen, um die Revolution zu retten. Die Bilder, über Mobiltelephone aufgenommen und übers Internet verbreitet, spielten erneut eine entscheidende Rolle. So kam es zu Strassenschlachten von einer Heftigkeit, die sich mit jener des 28. Januars vergleichen lässt, jenes Tages, an dem die Erhebung gegen Präsident Husni Mubarak ihren blutigen Höhepunkt erreichte.
Was sich am Wochenende in Kairo abgespielt hat, lief auch in den anderen Zentren des Landes ab, so dass die Bewegung das ganze Land erfasste. Die Demonstrationen dauern noch an.
Wann gehen die Offiziere ?
Die Hauptforderung der Demonstranten ist ein klarer Fahrplan für die Machtübergabe der Militärführung an eine zivile Autorität. Sie fordern den sofortigen Rücktritt der Regierung, damit diese durch eine zivile Autorität ersetzt werde, welcher die Revolutionäre vertrauen können. Die bisherige Regierung hat sich als reine Sachwalterin der Offiziere erwiesen.
Vor allem aber fordern die Demonstranten eine Beschleunigung des Wahl- und Verfassungsprozesses, der am 28. November beginnen soll. Sie verlangen dessen Abschluss im kommenden Frühling, so dass vor Mai 2012 eine Präsidentenwahl stattfinden kann. Danach müssten die Offiziere in ihre Kasernen zurückkehren.
Sind die Wahlen noch durchführbar?
Doch die grosse Frage ist gegenwärtig, ob die Wahlen angesichts der Unruhe und der Unsicherheit im Lande überhaupt durchgeführt werden können. Die Militärs sagen vorläufig "ja", die Wahlen würden durchgeführt werden. Doch eine Pressekonferenz, die angesagt war, um die endgültige Organisation dieses Urnengangs in allen Details bekannt zu geben, musste angesichts der Unruhen abgesagt werden.
Die politischen Parteien wissen, dass von den Wahlen sehr viel, wenn nicht alles abhängt. Nur die Wahlen können eine auf ihnen beruhende Legitimität schaffen, die jener entgegenzutreten vermöchte, welche die Armeechefs sich selbst angemasst haben.
Zusammenbruch der Glaubwürdigkeit der Offiziere
Anfänglich war die "vorübergehende" Machtergreifung der Armeeführung mit einer zwar bloss informellen, aber spürbaren Billigung der Bevölkerung geschehen, weil die Armee bei den patriotisch gesonnenen Ägyptern ein bedeutendes Kapital an Volkstümlichkeit und Beliebtheit besass. Doch diese Legitimität des Militärs ist geschwunden. Es wurde zu klar, dass die Armeeführung eine Stellung oberhalb der noch zu schaffenden Demokratie anstrebt. Sie zeigte, dass sie gedenkt, sich selbst eine Sonderposition über dem Parlament zu sichern, und auch dass sie gewillt ist, die Ausarbeitung der noch zu schreibenden Verfassung zu beeinflussen, wenn diese nicht ihren Erwartungen entsprechend ausfallen sollte. Die vorgeschlagene Grundsatzerklärung für die Verfassung machte dies unübersehbar.
Militärregime ohne Wahlen?
Doch wenn nun die Unruhen dermassen überhand nehmen, dass die Wahlen nicht durchgeführt werden können, erreichen die Militärs ihr Ziel ebenfalls, allerdings auf einem gefährlicheren und blutigeren Weg, als sie ihn vorgesehen hatten. Wenn die Wahlen entweder hinausgeschoben oder überhaupt gestrichen werden, bleiben die Offiziere die einzige Macht im Lande, und sie könnten sich möglicherweise durchsetzen, indem sie die Proteste mit Gewalt niederschlagen.
Dass sie auf diesem Wege tatsächlich Stabilität und Legitimität für ihre Macht erreichen, ist unwahrscheinlich. Die Unruhen würden über kurz oder lange wieder aufleben, und das Wirtschaftsleben Ägyptens weitgehend zugrunde gehen. Es drohte weiteres Chaos. Vielleicht käme es dabei auch zu Desertionen von Soldaten wie gegenwärtig in Syrien.
Die Gefahr des Zusammenbruches
Dieses katastrophale Szenario suchen die Parteien abzuwenden. Doch die Revolutionsgruppen scheinen bereit, das Risiko hinzunehmen, dass eine derartige Entwicklung eintritt. Für sie hat "ihre" Revolution absoluten Vorrang. Wenn sie scheitert, sehen sie auch keine Zukunft für Ägypten. Also sind sie bereit, einen Zusammenbruch zu riskieren.
In der gegenwärtigen Lage können entweder die Offiziere nachgeben und einen Zeitpunkt für ihren Abtritt von der Macht ansetzen, oder die Revolutionäre können gezwungen oder überredet werden, ihre Demonstrationen einzustellen und den langen Übergangsprozess der Militärs hinzunehmen. Doch wahrscheinlich wird weder das eine nach das andere geschehen. Die Offiziere werden darauf aus sein, auf unbegrenzte Zeit an der Macht zu bleiben, und die Revolutionsgruppen werden sich gezwungen sehen, dies hinzunehmen, um den Wahlprozess nicht abzuwürgen.
Doch wenn es zu Wahlen kommt, wird es nach dem Zustandekommen einer gewählten Versammlung zu einer neuen Kraftprobe kommen, in der erneut die Offiziersführung aufgerufen und aufgefordert werden wird, ihrer Macht zeitliche Grenzen zu setzen.