Es gibt zwei Arten von Illusionen. Wenn wir die Sonne als riesigen Kreis am Horizont auf- oder untergehen sehen, haben wir eine falsche Vorstellung. Die wahrgenommene Grösse der Sonne ist eine Illusion.
Die Illusion im anderen Sinn ist eine Idee, von der wir wünschen, sie sei wahr. Mörderisch wird die Illusion, wenn wir von ihr derart überzeugt sind, dass sie sich nicht als falsch herausstellen kann. Im Gegenteil. Je mehr sie sich als falsch herausstellt, desto gewalttätiger verlangt sie nach Durchsetzung. Ich verfolge hier kurz drei Beispiele solcher Durchsetzung. Wenn ich sie an bekannten Politikern festmache, dann habe ich nicht primär die Personen im Visier, sondern deren Ideengezücht, das eine Tradition der Entmenschlichung bewahrt und weiterführt.
Die Psychodynamik der Demagogie
Mörderische Illusionen brauchen ein Brutklima des Enttäuschtseins, der Erniedrigung, der Bedrohung. Das führte der britische Psychoanalytiker Roger Money Kyrle bereits in den 1930er Jahren exemplarisch vor. Er besuchte Versammlungen der Nazis und beobachtete die Psychodynamik bei Reden von Hitler und Goebbels. Er stellte dabei einen einfachen Steigerungs-Dreischritt fest: Selbstmitleid–Verfolgungswahn–Grössenwahn. Money Kyrle bezeichnet die Zuhörerschaft als «Monster». Und er beschreibt das Crescendo des manischen Aufputschens: «Während zehn Minuten hörten wir vom Leiden Deutschlands seit dem Krieg. Das Monster schien sich einer Orgie von Selbstmitleid hinzugeben. Dann folgten in den nächsten zehn Minuten die schrecklichsten Explosionen gegen Juden und Sozialdemokraten als den einzigen Urhebern dieses Leids. Selbstmitleid machte Hass Platz; und das Monster schien im Begriff, mörderisch zu werden. Aber der Ton änderte sich noch einmal. Nun hörten wir zehn Minuten lang vom Aufstieg der Nazi-Partei, von kleinen Anfängen zu einer überwältigenden Macht. Das Monster wurde nun, vergiftet vom Glauben in die eigene Allmacht (…), sich seiner selbst bewusst.»
Trump, der Nachahmer
Die amerikanische Jornalistin Gwynne Guilford folgte den Fusstapfen von Money Kyrle in Wahlveranstaltungen der amerikanischen Republikaner 2016. (1) Sie fand den Dreischritt triumphal bestätigt. Donald Trump spielte meisterlich mit den Wünschen seines Gefolges, sich als Teil eine übermächtigen Ganzen: sich «real» zu fühlen.
Trump begann auf dem Register von Enttäuschung, Verlust, Bedrohung: «Unser Land ist in ernsthaften Schwierigkeiten. Wir haben keine Siege mehr (…) (Die Chinesen) lachen über uns als Einfaltspinsel. Sie schlagen uns im Geschäft.» Dann suchte er im zweiten Schritt die Schuldigen: «Wenn Mexiko seine Leute schickt, schickt es nicht die Besten (…) Es schickt Leute mit einem Haufen von Problemen, und diese Leute bringen ihre Probleme zu uns. Sie bringen Drogen. Sie bringen Kriminalität. Sie sind Vergewaltiger (…) Und all dies kommt nicht nur von Mexiko, sondern von überall her aus dem Süden (…) und es kommt wahrscheinlich – wahrscheinlich – aus dem Mittleren Osten.» Schliesslich öffnete der Überbringer schlechter Nachrichten seinen Wundermittelkoffer: «Nun braucht unser Land (…) einen wirklich grossen Führer (…), einen Führer, der ‘The Art of the Deal’ schrieb, der unsere Jobs zurückbringt, unser Militär (…) Wir brauchen jemanden, der dem Markenzeichen USA wieder zu Grösse verhilft: Make America Great Again (MAGA).» Gehörte der Mob, der 2021 das Kapitol in Washington stürmte, zur Vorhut der MAGA-Bewegung?
Bannon, übergeschnapptes Hybrid aus «Leninist» und «Darth Vader»
Trump sei nicht Grossmachtswahn à la Hitler unterstellt. Er dürfte – zum Glück - ein zu windiger Politiker sein, um seine «Ideologie» mit aller Gewalt durchzusetzen. Steve Bannon, sein Einflüsterer im Wahlkampf 2016, scheint zumindest in seiner Gedankenwelt unzimperlicher zu sein. Ihm schwebt die gewaltsame Restauration der «westlichen Zivilisation» vor, ein nationalistischer, «aufgeklärter» – sprich unregulierter – Kapitalismus mit jüdisch-christlichem Wertefundament. Natürlich gilt es zuerst die Schuldigen zu benennen – die «Elite», die «Schickeria, die Investmentbanker und die Typen von der EU». Dass der Konflikt mit diesen Schuldigen kriegsmässige Ausmasse annehmen könnte, stört Bannon nicht. Im Gegenteil. Er, übergeschnapptes Hybrid aus einem «Leninisten» und «Darth Vader», sieht hier den Weg der revolutionären Gewalt, um endlich der neuen Zivilisation, der «vergessenen» Mittelschicht Amerikas Platz zu machen.
Putin, Führer ins «historische» Russland zurück
Mit ebendieser Gewalt sucht der russische Präsident die westliche Zivilisation zu besiegen. Vor der Attacke Russland auf die Ukraine 2022 hielt Putin eine langatmige Rede an die Nation, worunter er insbesondere «unsere Landsleute in der Ukraine» zählte, also den annektierten ukrainischen Südosten plus die Krim. (2)
Auch hier zunächst die Evokation der Demütigung: «Man stellt sich die Frage: Armut, Perspektivlosigkeit, Verlust des industriellen und technologischen Potentials – ist das etwa diese sogenannte Entscheidung für die westliche Zivilisation, mit der man jetzt schon seit Jahren Millionen Menschen für dumm verkauft und zum Deppen macht, indem man ihnen Milch und Honig verspricht?» Die Urheber sind schnell identifiziert: eine korrupte Schicht von ukrainischen Oligarchen: «Die staatlichen politischen Institutionen wurden permanent neu zugeschnitten, immer so, dass es den entstehenden Clans zum Vorteil gereichte, deren materielle Interessen denen des ukrainischen Volks entgegengesetzt waren.» Im Hintergrund wirken natürlich die Unterstützer NATO und USA – die «westliche Zivilisation». Schliesslich der Befreiungsschlag, das Ultimatum: «Von denen, die in Kiew die Macht an sich gerissen haben und sich an sie klammern, fordern wir, dass sie die Kampfhandlungen unverzüglich einstellen. Andernfalls lastet die gesamte Verantwortung für ein mögliches weiteres Blutvergiessen voll und ganz und ohne Einschränkung auf dem Gewissen des auf dem Territorium der Ukraine herrschenden Regimes. Ich bin mir sicher, dass ich mir bei den heute getroffenen Entscheidungen der Unterstützung der Bürger Russlands, aller patriotischen Kräfte des Landes, gewiss sein kann». (3) Nebenbei bemerkt: das typische Charakteristikum von autoritären Regimes ist die präemptive Befreiung von der Verantwortung eigener Taten.
Russland muss nicht bloss vom ukrainischen Filz gereinigt werden, sondern von allem, was sich nicht in die «patriotische» Illusion integrieren lässt. Russische Propaganda spricht heute von «sanitären Zonen», die man durch Bombardierung ukrainischer Städte wie Charkiw einrichten wolle. (4) Entlarvender Sprachgebrauch. Sanitäre Zonen schützen vor Kontamination, vor Schädlingen, Krankheitskeimen. Bei den Nazis war das Ghetto eine solche Zone. Nun gehört auch eine ukrainische Stadt dazu. Der Fortschritt der Entmenschlichung ist unaufhaltsam.
Ein grosses Omelett braucht viele Eier
Drittes Reich, MAGA, das historische Russland. Das Leitmotiv all dieser schönen Illusionen – es gibt mehr als diese drei – lautet, wie schon Lenin wusste: Für ein grosses Omelett muss man viele Eier zerschlagen. Der Wunsch, dass die Illusion wahr sei, übertrumpft in der Regel den Realitätssinn. Bannon ist (zur Zeit) weg vom politischen Fenster. Aber sein Gedankengebräu köchelt wohl in vielen Köpfen. Auch im Brägen des Chefredaktors einer schweizerischen Wochenzeitung. Putins Problem dürfte sein, dass er seine megalomane Rechnung ohne eine grosse Zahl von «Bürgern Russlands» macht. Was verschlägt es? Scheitert die Illusion an der Realität, dann hat die Realität der Illusion angepasst zu werden. Und zwar mit allen Gewaltmitteln. Sie stehen megatonnenweise zur Verfügung. Die Geopolitik macht die Erde zu einem einzigen gigantischen Waffenlager. Zu Diensten von Illusionen.
1 https://qz.com/645345/inside-the-trump-machine-the-bizarre-psychology-o…
2 https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/putin-rede-21.2.2022/
3 https://www.nzz.ch/international/ukraine-krieg-russische-besatzer-schaf…
4 https://www.nzz.ch/feuilleton/sergei-gerasimow-warum-die-russen-charkiw…