Unser ganzes Leben besteht aus Was-wäre-wenn-Geschichten, im Jargon: aus kontrafaktischen Szenarien. Die Fähigkeit, zwischen dem Faktischen und dem Kontrafaktischen zu unterscheiden, dürfte ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen sein. Alle anderen Tiere nehmen wahr, was ist, wir nehmen auch wahr, was sein könnte. Wir leben immer in alternativen Welten. Das Was-wäre-wenn-Denken ist die Wurzel von Wissenschaft, Technologie, Literatur, überhaupt aller Kreativität und Kultur. Es kann faktenbasiert sein – oft eine Notwendigkeit –, es kann auch ohne Fakten auskommen oder sich gar gegen Fakten richten. Wir nennen dies neuerdings alternative Fakten. In der Politik sind sie meist toxisch, in der Literatur unentbehrlich. Fiktion ist Produktion alternativer Fakten. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass wir Was-wäre-wenn-Szenarien als semireal erfahren. Das heisst, wie unlogisch, absurd, irreal oder surreal sie sein mögen, sie erzeugen reale Gefühle, oft realer als in der Realität. Um mit Musil zu sprechen: Unser Gehirn entwickelt sowohl einen Wirklichkeitssinn wie auch einen Möglichkeitssinn. Es erlaubt uns, die typischste aller menschlichen Fragen zu stellen: Was wäre wenn?
Was-wäre-wenn-Denken in der Bibel
Wir können deshalb beliebig weit in die Vergangenheit zurückkehren, um Beispiele zu finden. Etwa in der Bibel, Genesis 18. Gott will das sündhafte Sodom und Gomorrha zerstören. Abraham fragt: «Willst du auch den Gerechten mit den Ruchlosen wegraffen?». Dann greift er zum kontrafaktischen Argument: Was, wenn es fünfzig Gerechte gäbe? «Das kannst du doch nicht tun, die Gerechten zusammen mit den Ruchlosen umbringen.» Gott lenkt ein: «Wenn ich in Sodom (...) fünfzig Gerechte finde, werde ich ihretwegen dem ganzen Ort vergeben.» Abraham gibt sich jedoch nicht zufrieden. Und was wäre, wenn Gott nur vierzig, dreissig, zwanzig oder zehn finden würde? Müsste er die Stadt nicht auch verschonen? Natürlich ist sich Abraham bewusst, dass der Allwissende die Zahl der Gerechten genau kennt. Sein Argument soll auch gar nicht Gott überzeugen, sondern ist eine kontrafaktische Überlegung: Von welchem Schwellenwert an wäre eine kollektive Strafe gerechtfertigt? Ist sie überhaupt je gerechtfertigt?
Was-wäre-wenn-Denken und Gerechtigkeitssinn
In der Frage nach der Gerechtigkeit spielt das Was-wäre-wenn-Denken oft eine wesentliche Rolle. Der Philosoph John Rawls, dem wir eine der massgebenden Theorien der Gerechtigkeit verdanken, argumentierte im Modus des Was-wenn. Der Gedanke der Gerechtigkeit verlangt von mir, dass ich mir vorstellen kann, was ich sein könnte, nicht bloss, was ich bin. Was wäre, wenn ich aus einer anderen sozialen Schicht, einer anderen Familie, einer anderen Rasse stammte, einer anderen Kultur oder Religion angehörte, kurz, wenn meine gesellschaftliche Position rein zufällig wäre? Habe ich dann nicht auch Anspruch auf gleiche Rechte wie jeder andere? Was, wenn ich in der Lage von Syrien-Flüchtlingen wäre, wenn meine Existenzgrundlage durch die Pandemie zerstört wäre, wenn, wenn, wenn? Der Was-wäre-wenn-Modus fördert Gerechtigkeitssinn, ja, empathische Fantasie, löst uns aus engem «identitärem» Zugehörigkeitsdenken.
Was-wäre-wenn-Denken und Rechtsprechung
Die Rechtsprechung kennt den Was-wäre-wenn-Modus ebenfalls. Betrachten wir den folgenden Deliktfall: Ein Strassenräuber bedroht einen Passanten mit der Pistole. Der Passant wehrt sich, es kommt zu einem Handgemenge, der Räuber erschiesst den Passanten. In der Gerichtssprache handelt es sich beim Schuss um eine direkte Ursache des Todes. Es gibt aber auch eine indirekte Ursache. Und hier stossen wir wieder auf das Was-wenn. Angenommen, der Passant kann fliehen, der Räuber schiesst in die Luft, um den Fliehenden zu stoppen. Stattdessen rennt dieser an der nächsten Strassenecke in ein Auto und stirbt an den Folgen der Kollision. Ist der Räuber schuld an seinem Tod? Sein Schuss war zwar nicht direkte Ursache des Todes, aber – wie es in der Gerichtssprache heisst – die rechtliche Ursache, nach der sogenannten Sine-qua-non-Regel: Es mag Zufall gewesen sein, dass das Auto ausgerechnet zum besagten Zeitpunkt an der Strassenecke auftauchte, aber hätte der Räuber nicht in die Luft geschossen, wäre der Passant nicht in kopflose Pank geraten und somit nicht ins Auto gerannt. Hier spielen natürlich auch Wahrscheinlichkeitserwägungen hinein. Aber aufs Ganze gesehen, hilft das kontrafaktische Argument, dem Täter eine Schuld aufzubürden, ungeachtet der Faktenlage, dass er nicht auf den Passanten schoss. Logisch gesehen ist der Schuss des Räubers nicht eine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung des tödlichen Ausgangs. Auch sie ist justiziabel.
Was-wäre-wenn-Denken und Verschwörungstheorien
Der Drang zum Erzählen ist uns allen eigen. Die Dinge geschehen, aber wir können sie so nicht einfach geschehen lassen. Wir fragen: Warum geschehen sie? Und: Wie hätten sie geschehen können? Die erste Frage zielt auf eine Erklärung ab, die zweite auf eine Erzählung; die erste entspringt dem Wenn-dann-Denken, die zweite dem Was-wäre-wenn-Denken. Beide Arten sind bei jedem Menschen in einem individuellen Verhältnis gemischt vorhanden, und oft kann man sie nicht sauber trennen. Wir erzählen Geschichten, um etwas zu erklären; und wir erklären etwas, indem wir auf das Fallbeispiel einer Geschichte zurückgreifen. Das lässt sich gut bei Verschwörungstheorien beobachten. Was sie attraktiv macht, ist ja gerade ihr erzählerischer Charakter. Statt komplexe faktische Zusammenhänge zu analysieren, bieten sie sich an als kontrafaktische Geschichten: Was wäre, wenn das Coronavirus einem Labor in Wuhan entstammen würde? Was wäre, wenn die Bill-Gates-Stiftung die Forschung genmanipulierter Viren unterstützen würde? Was-wäre-wenn-Geschichten sind oft glaubwürdiger als Was-ist-Erklärungen, weshalb sie leicht einen Zusammenhalt stiften und zu einer Weltsicht auf der Basis von Fakes führen können.
Was-wäre-wenn-Denken und Kosmologie
Die theoretische Physik ist eigentlich ein einziges Was-wenn-Spiel. Sie betreibt es heute im kosmischen Format. Warum ist die Welt so, wie sie ist? – Die Physiker machen einen kontrafaktischen Umweg: Urknall-Modelle schreiben zum Beispiel dem Anfangszustand des Universums eine bestimmte Energiedichte und Expansionsrate zu. Hätte nicht schon am Ursprung des Universums ein ganz bestimmtes Verhältnis von Energiedichte und Expansionsrate bestanden, gäbe es keine Galaxien, Sterne und Physiker, die über dieses Verhältnis rätseln.
Was-wäre-wenn-nicht-Fragen richten sich auch auf die Naturkonstanten, die in den fundamentalen Naturgesetzen auftreten: Gravitationskonstante, Feinstrukturkonstante, Vakuumlichtgeschwindigkeit, Wirkungsquantum, Teilchenmasse. So sind etwa die Massenverhältnisse der Teilchen innerhalb eines Atoms und die Kräfte, die sie zusammenhalten, genau so abgestimmt, dass das Atom stabil ist und trotzdem mit anderen Atomen interagieren und chemische Verbindungen bilden kann. Nur schon eine geringfügige Änderung ihres Wertes hätte dramatische Folgen: Leben, wie wir es kennen, wäre nicht möglich. Also sind auch Naturkonstanten das Resultat einer primordialen Feinabstimmung. Die Physiker geraten hier in eine Erklärungsbredouille. Sie verlangen traditionell Erklärungen nach dem experimentellen Kausalitätsprinzip: Wenn die und die Bedingungen, dann die und die Folgen. Das funktioniert beim Universum nicht. Es ist kein Laborexperiment, in dem sich die Bedingungen klar festlegen und kontrollieren lassen. Vielmehr müssen wir kontrafaktisch denken: Das und das Resultat liegt vor, was könnten die Bedingungen gewesen sein, die dazu geführt haben?
Was-wäre-wenn-Denken und Künstliche Intelligenz
Die Softwaredesigner versuchen heute, das Was-wenn-Denken künstlich intelligenten (KI) Systemen beizubringen. Dieses Vorhaben erweist sich freilich als überraschend hindernisreich. Die Logik der KI-Systeme richtet sich primär nach der Wenn-dann-Struktur: Wenn der Kunde Artikel A kauft, dann kauft er auch Artikel B. Auf der Basis solcher Korrelationen oder Clusters berechnen die Marketing-Algorithmen die Kundenneigungen. Aber sie beantworten nicht die Frage: Warum tut der Kunde das? Um Daten wirklich kausal zu analysieren, braucht es Modelle, die mit kontrafaktischen Fragen umgehen können, sogenannte Bayes’sche Netzwerke. Ihre Logik begnügt sich nicht mehr mit blossen Wenn-dann-Strukturen, sondern wagt sich an Fragen wie: Was wäre, wenn der Kunde Artikel A kaufte, aber nicht Artikel B? Das führt über die blosse statistische Datenanalyse hinaus zur Dateninterpretation: Könnte es sein, dass der Kunde mit dem Kauf von Artikel A gar kein Bedürfnis nach Artikel B hat, dafür aber vielleicht nach Artikel C ?
Mit solchen Fragen betritt die Maschine ein Gebiet, das bislang dem Menschen vorbehalten war: die Hypothesenbildung, die Spekulation, die Phantasie – das Reich des Geistes, traditionell gesprochen. Ich möchte jetzt nicht behaupten, die Technologie der KI-Systeme sei so weit gediehen, dass man ihnen einen künstlichen «Geist» attestieren könnte – einmal abgesehen von der zentralen Frage, ob denn das Geistige allein ein technisches Problem sei. Einige befürchten, dass wir mit den neuen KI-Systemen einen Pandorabüchsenöffner in Händen halten. Andere setzen ihre Hoffnung auf «wohlwollende» künstliche Intelligenz. In beiden Fällen tun wir gut daran, uns nach wie vor auf das Wunderwerk menschlicher Intelligenz zu stützen: auf die Kraft des Kontrafaktischen. Pflegen wir sie.