Die Werke des international bekannten Architektur- und Makrofotografen Marcel Chassot haben eine magische Wirkung. Sie sind von höchster Intensität. Er hat jetzt seine Fotografien von 1968 bis 2018 in einem Bildband versammelt.
Ein Augenblick ist dann magisch, wenn sich in ihm unterschiedliche Elemente zu grosser Stimmigkeit verbinden. Jeder kennt solche Momente im Leben. Plötzlich passt alles zusammen, und es entsteht ein Hochgefühl. Man weiss, dass man einen glücklichen Moment durchlebt. Dieser Moment wird vorübergehen, und es ist nicht gesagt, dass er wiederkommt.
Der Architekt und der Fotograf
Die Fotografie eignet sich aufgrund ihrer Schnelligkeit dazu, magische Momente festzuhalten. Man denkt an den Schnappschuss oder an die Street Photography. Die Werke von Marcel Chassot aber nähern sich mit wenigen Ausnahmen in einer völlig anderen Weise ihren magischen Augenblicken. In diesen Werken manifestieren sich sorgfältigste Arbeit und Geduld. Der magische Augenblick wird methodisch gesucht. Für seine Architekturbilder betrachtet er die Gebäude wieder und wieder aus jedem möglichen Winkel, aus ständig wechselnden Perspektiven. Aus den unterschiedlichen Positionen heraus setzt Marcel Chassot mit dem Sucher seiner Kamera das fort, «was der Architekt schon begonnen hat. Struktur und Form werden zerlegt und neu zusammengesetzt».
Das Foto aber kann erst dann gelingen, wenn das Licht mit dem Raum absolut harmoniert. Weiss Chassot von Anfang an, wann das der Fall sein wird? Er kommt dem Ergebnis nahe, indem er geduldig unterschiedliche Lichtverhältnisse im Verlauf eines oder mehrerer Tage auf sich wirken lässt. Wenn der Moment kommt, indem sich alles fügt, erlebt er Glück. Um diesen magischen Augenblick zu beschreiben, zitiert er den Physiker Werner Heisenberg, der in Bezug auf seine Forschungen insbesondere im Zusammenhang mit der Quantenphysik schrieb: «In dem Moment aber, in dem die richtigen Ideen auftauchen, spielt sich in der Seele dessen, der sie sieht, ein ganz unbeschreiblicher Vorgang von höchster Intensität ab. Es ist das staunende Erschrecken …, mit dem die Seele sich gleichsam an etwas zurückerinnert, was sie unbewusst doch schon immer besessen hatte.»
Die Sorgfalt im Detail
Etwas fotografieren, was schon innerlich in ihm schlummert: Die daraus resultierende Gestaltungskraft gibt den Bildern von Marcel Chassot ihren unverwechselbaren Charakter. Es sind Feste der Farben und Proportionen, und zugleich vermittelt sich der Eindruck grösster Stimmigkeit. Nie geht es um blosse Effekte, sondern man spürt die sorgfältige Arbeit an jedem Detail. Dabei erfordert jedes Thema eigene Herangehensweisen.
Schön schildert Marcel Chassot, wie er für seine «floralen Strukturen» ein ganzes Arsenal von weissen und schwarzen Vasen verwendet hat, um den Blumen im «Spiel von Licht und Schatten» Hintergründe zu geben, vor denen ihre Schönheit erst recht zur Geltung kommt. Das alles ins Bild zu setzen, erforderte ausgeklügelte Anordnungen der Leuchtkörper, der Halterungen für die Pflanzen und Bodenplatten für die Vasen. Dazu kamen die elektrischen Leitungen. Diese knifflige Zusammenstellung erforderte vom Fotografen während seiner Aufnahmen viel Geschick. Im Bildband befinden sich neben den farbigen Abbildungen zwei Schwarzweissfotos von «floralen Strukturen». Die Wirkung ist ungeheuer stark und regt zu zahlreichen Betrachtungen an.
Die Makroaufnahmen im Abschnitt «Schöne kleine Welt» erregen nicht nur in technischer Hinsicht Staunen. Chassot gilt als einer der besten Makrofotografen überhaupt, und eines seiner Fotos wurde von Leica ausgezeichnet. Man staunt auch darüber, mit welcher Sorgfalt er sich die Kenntnisse von dieser Tierwelt angeeignet hat, denn es ist ganz sicher nicht trivial, diese kleinen Lebewesen aufzuspüren und in eine Umgebung zu setzen, die sich für kunstvolle Aufnahmen eignet. Von sich aus werden sie dem Fotografen den Gefallen nicht getan haben.
Marcel Chassot bezeichnet sich selbst als fotografischen Autodidakten. Das klingt ein bisschen nach Amateur, und vielleicht hat Chassot selbst Spass an dieser Untertreibung. Tatsächlich ist es so, dass schon sein Vater ein leidenschaftlicher Fotograf war und ihn in die Arbeit in der Dunkelkammer einführte. Auch da erlebte Chassot magische Momente, wenn sich im Entwicklerbad die ersten Strukturen auf dem belichteten Fotopapier nach und nach zeigten. Die Kamera legte er schon als junger Mensch nur selten aus der Hand.
Aber beruflich entschied er sich für einen ganz anderen Weg: Volkswirtschaft. Er wurde promoviert, forschte und lehrte viele Jahre am Institut für empirische Wirtschaftsforschung der Universität Zürich. Auch hier sorgten seine Energie, Unbeirrbarkeit und Sorgfalt für Anerkennung und Erfolg. In dem Bildband verbinden sich seine Qualitäten als Künstler und als disziplinierter und beharrlicher Arbeiter: Der Band vereinigt Werke aus fünf Jahrzehnten.
Feine Ironie
Marcel Chassot verfügt aber noch über zwei weitere Eigenschaften, die man auf den ersten Blick im Zusammenhang mit seiner Arbeit im Makrobereich und in der Architekturfotografie nicht vermuten würde. Aber es gibt einen Abschnitt «Menschen im Kaleidoskop». Darin finden sich Aufnahmen auf Strassen und Plätzen, vom Ballett und von Kindern, letzteres angeregt durch seine drei Töchter. In dem Menschenkapitel zeigt sich Chassot nicht nur als Meister des gekonnten Schnappschusses, sondern auch als ein Beobachter, der seine Bilder mit feiner Ironie zu betiteln weiss. Das ist zum Teil sehr amüsant und hat einen Tiefgang, der den Betrachter zum wiederholten genaueren Hinschauen anregt.
Der Band endet mit Bildern vom Zivilisationsschrott, insbesondere von Autofriedhöfen. Das sind auch meisterliche Kompositionen, und hier kann man noch einmal studieren, mit welch grosser Kunst und handwerklicher Meisterschaft Marcel Chassot seine Bilder komponiert. Wenn er diesen Abschnitt mit «Ästhetik des Zerfalls» überschrieben hat, wird er sich auch mehr dabei gedacht haben, als es zunächst scheint. Dieses Kapitel steht direkt im Anschluss an die Architekturfotos: Der Zerfall folgt dem Grossartigen. Aus ästhetischer Sicht lässt sich auch dem Zerfall etwas abgewinnen. Und ist es nicht auch so, dass das architektonisch Grossartige in seiner ganzen Überzeugungskraft in den magischen Augenblicken auch auf die Zeit verweist, die unweigerlich ein Ende markiert? Auch dazu hätte Marcel Chassot etwas zu sagen.
Marcel Chassot: Magie des Augenblicks – 50 Jahre Fotografie 1968–2018, 312 Seiten. 175 Abbildungen, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg 2024, 79.90 Euro