Jeder, der sich von einer Geldanlage einen Gewinn verspricht, sei ein Spekulant. Jeder, dessen Pensionskasse versucht, Altersspargroschen ertragreich anzulegen, sei an der Hatz auf Profit beteiligt. Also sei es doch nur die Gier in uns allen, die Banker dazu zwinge, in Befriedigung unseres Renditetriebs immer absurdere Finanzvehikel zu erfinden, in einer virtuellen Geldwolke von über 600 Billionen Dollar einen ganzen Derivatezoo zu unterhalten. Erstaunlich, dass dieses Lügenmärchen geglaubt wird.
Selber schuld
Als vermeintlich seriöse Schweizer Grossbanken Tausenden von Kleinanlegern, finanztechnischen Laien, vielen Pensionären Lehman-Schrottpapiere andrehten, gab es genug Häme. Selber schuld, mehr Gewinn, mehr Risiko, hätten halt nicht so fahrlässig sein sollen. Die armen Banker seien doch nur Erfüllungsgehilfen der urmenschlichen Gier nach Profit gewesen. Dass sie sich dabei garantiert sichere Extrakommissionen einstrichen, während die mit «Bankgarantie» und «100 Prozent Kapitalschutz» beworbenen Produkte absoffen, sei zwar unschön, aber kein Anlass für Mitleid mit den Verlierern, deren sauer erworbene Spargroschen sich in Luft auflösten.
Kälber und Metzger
Diesen Unsinn verbreiten verantwortungslose, haftungsfreie und völlig amoralische Gierbanker natürlich gerne. Denn er verwechselt Ursache und Wirkung, salviert sie von jeglicher Schuld, macht sie zu reinen Erfüllungsgehilfen des menschlichen Triebs nach Mehr, nach Gewinn, nach Profit. In Wirklichkeit ist es natürlich umgekehrt, und eher trivial. Das kann man in einer einfachen, logischen und nachvollziehbaren Argumentationskette aufzeigen.
Am Anfang ist das Risiko
Jeder Gläubiger, alle, die Geld verleihen, tun das nicht aus Altruismus. Auch der Kleinsparer möchte für seinen sauer erarbeiteten Spargroschen einen Zins bekommen. Zins ist dabei gleichbedeutend mit Risikoprämie. Die Höhe der Risikoprämie widerspiegelt logischerweise die Wahrscheinlichkeit, ob er sein Geld wieder zurückbekommt. Hoher Zins, hohes Risiko, kleiner Zins, kleines Risiko. Trivial.
Sicherer Wertverlust
Der Kleinsparer, der sein Geld nicht unter der Matratze verstecken, sondern einfach sicher anlegen will, verwendet dafür seit Urzeiten in der Schweiz das Sparbuch oder allenfalls Staatsobligationen. Bis vor wenigen Jahren machte er dabei einen bescheidenen Gewinn, oder der Zinsertrag garantierte ihm zumindest den Werterhalt seiner Ersparnisse. Anders gesagt: Er erhielt wenigstens einen Inflationsausgleich. Das hat null und nichts mit Gier oder Spekulation zu tun. Durch die verbrecherische Gratisgeld-Politik der wichtigsten Notenbanken der Welt funktioniert das aber seit rund einem Jahrzehnt nicht mehr. Wer sein Geld sicher anlegen will, verliert dabei Geld, weil die Inflationsrate höher als die Magerzinsen ist, die man auf dem Sparbuch oder bei Eidgenössischen Staatsobligationen bekommt. Also sucht der Sparer eine wenigstens werterhaltende Anlage. Auch das ist keine Gier.
Irren ist menschlich
Die überwiegende Mehrheit der Schweizer Lehman-Opfer, um bei diesem Beispiel zu bleiben, war keineswegs von Geldgier und Renditesucht getrieben. Sie bekamen lediglich soweit korrekt vorgerechnet, dass sie mit den klassischen und sicheren Anlageformen jährlich und kontinuierlich Verluste einfahren, durch Inflation minus sie nicht abdeckender Zinsertrag noch vor Steuern sich ihr Spargroschen scheibchenweise vermindert. Aber schön, fuhr dann der Bankberater fort, dass es dank dem modernen Financial Engineering neue Anlageformen gebe, bei denen das Risiko faktisch herausgerechnet wurde, die bombensicher seien und deshalb auch mit «Bankgarantie» und «100 Prozent Kapitalschutz» versehen. Um was es sich da genau handle, sei etwas kompliziert zu verstehen, aber da könne man dem fachmännischen Rat des Bankberaters doch vertrauen.
Hineingetrieben, nicht hineingerannt
Was für den Kleinsparer gilt, gilt umso mehr für sogenannte institutionelle Anleger, beispielsweise Pensionskassen. Sie sind verpflichtet, einen gewissen Ertrag zu erwirtschaften, um ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können. Ausnahmen bestätigen die Regel, aber es war und ist nun keineswegs so, dass profithungrige PK-Verwalter aus reiner Geldgier dazu übergingen, einen Teil des PK-Vermögens in sogenannte alternative Anlagen, bspw. in Hedgefonds, zu investieren. Sie wurden dazu gezwungen, weil bombensichere Anlagen wie Staatsschuldpapiere heutzutage nicht mehr bombensicher sind und zudem unter dem Strich, nach Abzug der Inflation, ein Verlustgeschäft darstellen.
Wer hat’s erfunden?
Es ist auch nicht so, dass gewinngierige Anleger Banker dazu gezwungen hätten, immer absurdere und undurchschaubare Finanzvehikel zu erfinden. Es ist nicht so, dass Anleger gefordert hätten: Ich will einen derivativen Spread-Ladder-Swap mit Knock-in-Barrier, der als Basket auf zukünftige Zinsschwankungen in Relation zur Windrichtung an der Wall Street und der Höhe der indonesischen Reisernte spekuliert. Alle diese finanziellen Massenvernichtungswaffen, wie sie der Altmeister Warren Buffett nennt, wurden in den Hexenküchen des Investmentbanking ausgebrütet und zum Einsatz gebracht. Nicht, um die Wünsche profithungriger Anleger zu befriedigen, sondern um Kommissionen und Boni in Multimilliardenhöhe zu generieren.
Wer profitiert?
Wenn man die Geldgier des Anlegers als Grundtriebkraft für die völlig ausser Kontrolle geratene virtuelle Derivatewolke unterstellt, dann müsste ja der Anleger daraus entsprechenden Profit gezogen haben. Das ist aber nicht der Fall, im Gegenteil. Nun gibt es natürlich Spielsüchtige, die es immer wieder ins Casino zieht, obwohl sie jedes Mal mit schmerzlichen Verlusten herauskommen. Es wäre aber absurd, eine solche Haltung allen Anlegern, vor allem kleinen, zu unterstellen. Wessen Gier den heutigen Finanzzirkus betreibt und befeuert, ist hingegen völlig klar. Die Gier dessen, der davon profitiert. Und wer ist das schon wieder? Nein, nicht wir alle. Und nein, auch nicht die kleinen Bankangestellten