Die Stimme des Radioreporters überschlug sich geradezu: «Aus dem Hintergrund müsste Rahn schiessen. Rahn schiesst. Tor, Toor, Tooor, Toooor!!!» Es sind noch sechs Minuten zu spielen im Wankdorf-Stadion von Bern. Minuten des Bangens, Zitterns und Hoffens bis zum erneuten Aufschrei des Mannes am Mikrofon: «Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus. Deutschland ist Weltmeister!»
Gerade hatte die DFB-Auswahl um Fritz Walter und die übrigen Recken die als nahezu unschlagbar geltende ungarische Wunderelf mit dem «Flaggschiff» Ferenc Puskas 3:2 besiegt. Es war der 4. Juli 1954. Fast auf den Tag genau vor 70 Jahren. Und der Reporter hiess Herbert Zimmermann. Noch heute erinnern sich nicht wenige (inzwischen natürlich alt gewordene) Zeitgenossen an die legendär gewordene «Stimme von Bern».
Spätere Generationen können sich vermutlich nur sehr schwer vorstellen, was der Sieg beim damaligen Weltchampionat in der schweizerischen Bundesstadt für Deutschland und die Deutschen bedeutete. Vier Jahre zuvor war das wegen der von Deutschen während der Hitler-Zeit verübten, unsäglichen Verbrechen geächtete Land zur WM in Uruguay noch gar nicht zugelassen worden. Und nun dieser Triumph. Dass die aus dem Norden angereisten Kicker-Fans beim Abspielen der Nationalhymne die erste und nicht die offiziell vorgeschriebene dritte Strophe des Deutschlandliedes – also «Deutschland, Deutschland über alles» statt «Einigkeit und Recht und Freiheit» – sangen, fiel erstaunlicherweise nicht sonderlich auf. Aber dass sich der überglückselige Rundfunkreporter im Überschwang der Gefühle dazu hinreissen liess, den prächtig haltenden Torhüter Toni Turek aus Düsseldorf sozusagen in den Himmel zu hieven, sorgte daheim für einen politischen Aufruhr. «Turek, du bist ein Teufelskerl. Turek, du bist ein Fussballgott!»
Unerhörte Gotteslästerung
Was nämlich danach geschah, muss sich für spätere Generationen wie ein schlechter Scherz anhören. Der Kölner Bankier Robert Pferdmenges, ein guter Katholik, CDU-Bundestagsabgeordneter, enger Freund und finanzpolitischer Berater des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, sah in den Zimmermann’schen Jubelrufen eine unerhörte Gotteslästerung und verlangte ein Berufsverbot für den Berichterstatter. Selbst «Papa» Theodor Heuss, der Bundespräsident, (immerhin ein Liberaler) sah sich zu einer Kritik an der Wortwahl des Reporters genötigt. Glücklicherweise hatten diese Vorstösse keinen Erfolg. Trotzdem – heute unvorstellbar …
50 Millionen Menschen, wird berichtet, verfolgten am 4. Juli 1954 diese Reportage aus dem Berner Wankdorfstadion an den Radios. Ich gehörte dazu, als 13-jähriger Bub. Man wollte förmlich hineinkriechen in die Geräte. Fernsehen? Ganze 27’000 Geräte waren seinerzeit in Deutschland angemeldet. Mit einem für heutige Verhältnisse winzigen Bildschirm. Und – vor allem – es war bei weitem nicht überall Empfang möglich. Dort, so es solchen gab, stellten findige Wirte die Winzlinge im Tanzsaal auf und verlangten in der Regel 50 Pfennig Eintritt. Die Stars waren die Radioreporter – wie Ludwig Maibohm (der kleine Dicke vom Bayerischen Rundfunk), Rudi Michel (der Seriöse vom Südwestfunk) und eben Herbert Zimmermann vom damals noch vereinten Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) – die Stimme von Bern.
Verlesen der Wasserstandsmeldungen
Zimmermann, 1917 in Alsdorf bei Aachen geboren, war in der Folge einer schweren Kriegsverwundung 1942 zum (grossdeutschen) Rundfunk versetzt worden. Sozusagen eine Sonderbehandlung des mit dem Ritterkreuz ausgezeichneten Panzeroffiziers. Immerhin durfte er – nach kurzer Gefangenschaft bei den Briten – nach dem Krieg weiter im Radio tätig sein, wenngleich zunächst nur zum Verlesen der Wasserstandsmeldungen und der täglichen, endlosen Listen des Rotkreuz-Suchdienstes mit Namen von vermissten Soldaten.
Doch er machte sich schnell einen Namen im Sport und der Berichterstattung darüber. Sein Freund, Kollege und oftmaliger Zimmergenosse, Rudi Michel, erzählte später einmal in kleiner, fröhlicher Runde, sie beide hätten überhaupt nicht an einen deutschen Sieg geglaubt, Schliesslich hatten die Ungarn im Vorrundenspiel die DFB-Elf noch mit 8:3-Toren vom Platz geschossen. «Was willst Du den Hörern sagen», habe Michel gefragt, «wenn so etwas wieder passiert?». Schon der Weg bis ins Endspiel sei «für uns ein Riesenerfolg», habe die Antwort gelautet.
Bei einem Verkehrsunfall gestorben
Herbert Zimmermanns letzte grosse Reportage war die vom Spiel England gegen Deutschland mit dem legendären «Wembley-Tor» bei der WM 1966 in London. Wenige Monate später, am 16. Dezember 1966, starben er und seine Lebensgefährtin bei einem schweren Verkehrsunfall in Niedersachsen bei der Fahrt zu einem Interview. Die «Stimme von Bern» wurde nur 49 Jahre alt – und im schlichten Familiengrab neben seinen Eltern Meta und Alois in Witterschlick vor den Toren Bonns beerdigt. Doch ausgerechnet jetzt, 70 Jahre nach dem «Wunder von Bern» und in den Tagen der in Deutschland ausgetragenen Fussball-Europameisterschaft, ist die «Legende» beseitigt worden. Oder genauer, es wurde abgeräumt, was von der «Legende» noch sichtbar war – das Grab Herbert Zimmermanns auf dem Friedhof von Witterschlick.
Zum WM-Finale 2014 und noch einmal 2015 hatte der örtliche Sportverein TB Witterschlick den Zuweg zu seinem Vereinsgelände «Auf dem Schurwessel» kurzzeitig in «Herbert-Zimmermann-Allee» umbenannt. Und, so sagt wenigstens der Vereinsvorsitzende Michael Arenz, der Club hätte sich gern weiter um das Andenken Zimmermanns gekümmert und («besonders die Alten Herrn») das Grab gepflegt. Aber von den «verbliebenen Familienangehörigen» sei die Einebnung beantragt worden, und dem habe stattgegeben werden müssen. Berichtet die Witterschlicker Gemeindesprecherin Maryla Günther.
Ja, «der Ströbele»
Familienangehörige? Bekannt ist eigentlich nur ein Nachkomme – Hans-Christian Ströbele. Ja, «der Ströbele» – Bundestagsabgeordneter der Grünen aus Berlin und (lang, lang ist’s her) als Mitbegründer des Sozialistischen Anwaltskollektivs Strafverteidiger von Terroristen der Baader-Meinhof-Bande. Ströbele (gestorben 2022) war Neffe von Herbert Zimmermann. Und – jetzt wird es spannend – Besitzer der Rechte an der berühmten Reportage, von der allerdings nur wenige Schnipsel existieren. Egal, immer wenn (die ARD ist davon extra ausgenommen) ein Sender die O-Tore ausstrahlt, muss er zahlen für einen guten Zweck.
Ströbele hatte drei Geschwister. Wie die mit dem Erbe von und Andenken an Herbert Zimmermann umgehen, ist nicht bekannt. Auf jeden Fall ist die sichtbar gebliebene Erinnerung verschwunden. Doch bei jedem fussballerischen Grossereignis in Deutschland wird jener kurze Filmausschnitt immer und immer wieder ausgestrahlt, der mit dem O-Ton der «Stimme von Bern» unterlegt ist: «Aus dem Hintergrund müsste Rahn schiessen …»