Als amerikanische Navy Seals in einer Nacht vor drei Monaten im pakistanischen Abbottabad Osama bin Laden töteten, veröffentlichte das Weisse Haus eine Aufnahme, die Präsident Barack Obama, umgeben von den engsten Mitgliedern seines Kabinetts, in einem Raum des Weissen Hauses zeigte. Das Bild, das um die Welt ging, zeigte eine Reihe angespannter Minen und starrer Blicke auf ein fernes Geschehen, das der Betrachter nur erahnen konnte. Nun hat das Weisse Haus ein Foto publiziert, das einen sichtlich geschockten Präsidenten, den Hörer am Ohr, einsam an einem Pult sitzend zeigt.
Die vom „New Yorker“ Anfang Woche publizierte Aufnahme vom vergangenen Freitag dokumentiert jene Momente, in denen Barack Obama bei einer Telefonkonferenz erfährt, dass beim Absturz eines amerikanischen Armee-Helikopters in Afghanistan 38 Menschen getötet worden sind - unter ihnen 20 Navy Seals des Seal Team 6, zwei weitere Seals, drei Fluglotsen der Air Force, sieben Soldaten der afghanischen Armee, ein ziviler Übersetzer, die Mitglieder der Helikopter-Crew sowie ein Hundeführer und sein Tier. Noch nie zuvor während des zehnjährigen Krieges in Afghanistan hatten die USA an einem einzigen Tag mehr Opfer zu beklagen als in diesem Fall. Seit 2001 sind am Hindukusch 1725 Amerikaner gefallen.
Mutmassungen über einen Abschuss
Erste Berichte deuteten darauf hin, dass es den Taliban gelungen war, den Transporthelikopter des Typs CH-47 Chinook mit einer Granate aus einer Panzerfaust abzuschiessen – mutmasslich dank eines Glückstreffers, den Kampfpiloten einen „golden BB“ nennen. Obwohl die schwerfälligen und langsamen Chinooks mit ihren zwei Rotoren im Tiefflug gute Ziele abgeben, ist es den Taliban bisher nur relativ selten gelungen, Helikopter abzuschiessen. Wenn trotzdem Helikopter oder Flächenflugzeuge über Afghanistan abgestürzt sind, dann lag das jeweils an Pilotenfehlern, schlechtem Wetter oder Materialschäden. Ungleich mehr Verluste hatten die sowjetischen Besatzer zwischen 1979 und 1989 beklagen: Den afghanischen Mudschaheddin gelang es seinerzeit, nicht zuletzt dank Lenkwaffen des Typs FIM-92 Stinger, die ihnen die CIA zugespielt hatte, mindestens 333 Helikopter und 118 Kampfjets vom Himmel zu holen.
Inzwischen ist laut einzelnen wohl mit Vorsicht zu geniessenden Quellen in westlichen Geheimdienstkreisen auch der Verdacht geäussert worden, es könnte sich beim Absturz des Helikopters um das Werk eines Selbstmordattentäters handeln, dem es gelungen sei, sich in die Reihen der Afghanen einzuschmuggeln. Zumindest haben die Taliban diese Taktik in Afghanistan wiederholt mit Erfolg angewandt, so zum Beispiel auch im Fall jenes jordanischen Doppelagenten, der sich im Dezember 2007 auf einer entlegenen CIA-Basis im Osten des Landes in die Luft sprengte und sieben amerikanische Agenten tötete – der schlimmste Verlust an Menschenleben für den Geheimdienst seit dem Bombenanschlag auf die US-Botschaft in Beirut 1983.
An ihrer These, so die Geheimdienstler, würde auch der Umstand nichts ändern, dass die Taliban zugegeben hätten, den amerikanischen Helikopter in der Nacht auf Samstag abgeschossen zu haben. Die Aufständischen täten das unter Umständen, um die wahre Ursache des Absturzes zu vertuschen. Jedenfalls scheint festzustehen, dass die Navy Seals anderen Elitesoldaten der US-Armee zu Hilfe eilen wollten, die sich im abgelegenen Tangi Tal in der Provinz Wardak, 90 Kilometer südwestlich von Kabul, mit Einheiten der Taliban ein heftiges Feuergefecht lieferten, bei dem acht Aufständische getötet wurden. Anscheinend ist der Helikopter dann beim Landeanflug abgestürzt. Kurz nach dem Absturz landete ein zweiter US-Helikopter unbehelligt in der Nähe der Unglücksstelle. Dessen Insassen versuchten, die Leichen der getöteten Soldaten sowie Trümmer des Chinook zu bergen. Der zweite Helikopter flog mehrere Stunden später aus dem Tal, die ausgebrannten Überreste des Chinook im Schlepptau.
Keine Bin Laden-Killer unter den Getöteten
Unter den getöteten Soldaten des Seal Team 6, hiess es aus dem Pentagon, würden sich keine Seals befinden, die am 2. Mai an der Operation gegen Osama bin Laden in Pakistan teilgenommen hätten. Verantwortliche in Washington bemühten sich am Wochenende trotzdem um Schadensbegrenzung: Der Absturz und dessen Folgen würden den Einsatzwillen und die Moral der Truppe keinesfalls beeinträchtigen. Seals seien gehärtet und professionell genug, um solche Tiefschläge wegzustecken. Einsätze wie jener im Tangi Tal seien Routine, ja unter Umständen sogar noch riskanter als die Operation in Abbottabad. „Es gibt keine Gemeinschaft mit mehr Zusammenhalt als die Navy Seals“, teilte ein früherer stellvertretender Verteidigungsminister mit.
Insgesamt haben Nato-Angaben zufolge alliierte Sonderkräfte in Afghanistan zwischen April und Juli dieses Jahres 2832 Operationen durchgeführt, bei denen sie 2941 Aufständische festnahmen und 834 Personen töteten – sehr zum Missfallen des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai, der argumentiert, nächtliche Aktionen würden die Bevölkerung erzürnen und entfremden. Nato-Kommandanten dagegen halten fest, solche Operationen wären für Zivilisten weniger gefährlich als relativ ungenaue Luftangriffe. Der Nato zufolge gehen 80 Prozent solcher Nachteinsätze über die Bühne, ohne dass ein einzelner Schuss fällt. Fakt bleibt, dass die Zahl ziviler Opfer in Afghanistan im ersten Halbjahr im Vergleich zur selben Periode des Vorjahres um 15 Prozent gestiegen ist. Gemäss einem Uno-Bericht sind, Taliban ausgenommen, in den ersten sechs Monaten 2011 insgesamt 1462 Afghanen getötet worden, wobei die Uno vier Fünftel der Todesfälle den Aufständischen ankreidet.
Kaum eine gezielte Aktion der Taliban
Sollte der US-Helikopter abgeschossen worden sein, so gibt es zumindest vorläufig keine Anzeichen darauf, dass die Taliban wussten, dass sich Mitglieder des inzwischen berühmten Seal Team 6 an Bord des Chinook befanden. Normalerweise empfehlen so genannte „fusion cells“ der Nato, in denen Hunderte von Analysten eine Unmenge von Daten auswerten, die Ziele von Geheimoperationen - im Tangi Tal einen Kommandanten der Taliban namens Sheen Marouf, der sich mit seinen Männern angeblich in einem Gehöft der Stadt Joi Zareen befand.
„Wir haben Amerikas beste Soldaten getötet; wir haben eines unserer grössten Ziele erreicht“, liess sich ein Sprecher der Aufständischen in einem Telefoninterview mit der „Los Angeles Times“ vernehmen: „Das zeigt, dass unsere Bemühungen nicht zu stoppen sind.“ Indes sehen fundamentalistische Afghanen den Absturz des Helikopters, an dessen Bord sich Navy Seals befanden, dem Vernehmen nach als gerechte Rache Gottes für die Tötung Bin Ladens. „Es ist klar, dass sich Gott auf Seiten der Muslime befindet und Gott hat sie für ihre Tat bestraft“, zitiert das US-Blatt einen 25-jährigen Prediger namens Habibullah in Kabul: „Das zeigt Amerikas Schwäche gegenüber den Taliban.“
Wenig Hoffnung für mehr Sicherheit in Afghanistan
In der Tat verheisst der jüngste Absturz (oder die Explosion) eines amerikanischen Helikopters wenig Gutes für die Zukunft Afghanistans. Eigentlich sollte sich dort die Sicherheitslage im Hinblick auf den geplanten Abzug der ausländischen Truppen ständig verbessern, sollten einheimische Sicherheitskräfte, in deren Ausbildung und Bewaffnung die USA Milliarden von Dollar investiert haben, allmählich jene Aufgaben übernehmen, die Nato-Truppen bis erfüllt haben. Erst vor einigen Monaten sind die Amerikaner aus ihrem einzigen Vorposten im schwer zugänglichen Tangi Tal abgezogen. Aber auch dort, unweit von Kabul, scheint es den Afghanen nicht gelungen zu sein, das entstandene Sicherheitsvakuum auszufüllen.
Dagegen haben der International Crisis Group zufolge die Taliban ihre Stellung in den Provinzen rund um die afghanische Hauptstadt stärken können. Gemäss dem Vize-Gouverneur der Provinz Logar sind die Taliban dieses Jahr zwar weniger zahlreich als früher, dafür aktiver. Derweil nennt ein Sprecher des nationalen Sicherheitsrates in Washington den jüngsten Absturz des Chinook zwar „tragisch“, warnt aber davor, dessen Bedeutung für Amerikas Strategie in Afghanistan „überzubewerten“. Diese sieht vor, die Truppen bis Ende 2014 schrittweise abzuziehen. Noch aber kostet der Krieg am Hindukusch die Nation 120 Milliarden Dollar im Jahr. Auch Amerikas oberster Generalstabschef Mike Mullen ist überzeugt, dass die amerikanischen Truppen in Afghanistan wie gewohnt weiter kämpfen werden: „Ich bin mir sicher, die Gefallenen hätten das so gewollt, und wir werden das auch mit Sicherheit tun.“
(Quellen: „New Yorker“, „Los Angeles Times“, „Washington Post“, „New York Times“, „Guardian“, „Independent“, „newsnetz“, Agenturen)