TEIL 1: DER ISRAELISCHE DISKURS
Die durch den jahrzehntelangen Krieg geprägten Mentalitäten beider Seiten bewirken, dass sich Israeli und Palästinenser gegenseitig nach ganz bestimmten Mustern - in spezifischen „Diskursen“ - wahrnehmen. Bei den Palästinensern stehen die Leiden im Zusammenhang mit der Enteignung und Vertreibung im Vordergrund, bei den Israeli geht es um Rechtfertigungen für die Expansionspolitik der Regierung. Dadurch ist beiden Seiten der Blick auf das Menschliche im Anderen verstellt.
Die Gründerzeit als Mythos
Den israelischen Diskurs haben wir in Europa so gut wie mit der Muttermilch eingesogen. Er handelt von dem erfolgreichen Aufbau des Staates der Juden im Heiligen Land. Wer die Nachkriegszeit bewusst miterlebt hat, erinnert sich an dies Gründerzeit Israels.
Ein Staat für die Juden sollte entstehen, die für so lange Zeit und mit so fürchterlichen Folgen für sie keinen eigenen Staat besassen. Was lag näher, als dass dieser Staat in der alten Heimat der Juden errichtet werde, wo die Juden doch herkamen? Pioniere hatten schon eine Generation lang, während der Zeit des britischen Mandates über Palästina, für ihn gekämpft und schwere Vorarbeit geleistet.
Araber, wieso denn?
Die Araber wollten sich dem widersetzen. Wer waren sie überhaupt? Wenn es tatsächlich solche Leute in Palästina gab, hatten sie doch jedenfalls so viele andere Länder, in denen sie leben konnten! Dort, so sah man es unproblematisch, sollten sie den Juden für ihren Staat Raum gewähren.
Als die noch junge Uno, sehr knapp, beschloss, das Land Palästina zu teilen und den Zionisten die Hälfte davon als ihren Staat zuzusprechen, die Araber dies aber ablehnten und ihre Heere nach Palästina entsandten, um den neu geborenen und noch gebrechlichen Staat der Juden anzugreifen und "die Juden ins Meer zu werfen", zitterten wir alle um das Geschick dieses Staates und seiner neuen Bewohner.
Der ferne Krieg verlief über Erwarten günstig für das kaum gegründete Israel. Die Araber wurden besiegt und flohen aus dem Land. Dass es grosse und elende Flüchtlingsmassen gab, sah man auf Bildern in der Wochenschau und in den Illustrierten. Das war unschön. Doch man vernahm mit grosser Erleichterung, die Araber seien von sich aus geflohen. Ihre Regierungen hätten sie dazu aufgefordert und ihnen gesagt, sie sollten den arabischen Invasionsarmeen den Weg frei geben. Nach deren Sieg könnten sie nach Palästina zurückkehren.
Diese Propagandalegende wurde viele Jahre lang geglaubt und erst 1959 und 1961 von Khaled Walidi und von Erskine Childers als reine propagandistische Lüge entlarvt. Die Araber waren mit Gewaltandrohung und mit roher Waffengewalt vertrieben worden.
Unkritische Übername von Schönfärberei
Wir in Europa wollten die schöngefärbte Version glauben, obwohl sie eigentlich unwahrscheinlich war, weil sie die Israeli für die Vertreibung der palästinensischen Landeskinder zu entschuldigen schien.
Die Palästinenser wurden sehr lange Zeit, bis zum Jahr 1965, als sie sich politisch zu organisieren begannen, als eine reine Flüchtlingsbevölkerung wahrgenommen. Es gab für sie ein international finanziertes Hilfswerk, UNRWA, und es gab Uno-Beschlüsse, nach denen sie ein Recht haben sollten, in ihre Heimat und an ihre Wohnstätten zurückzukehren oder Kompensation für ihren verlorenen Besitz zu erhalten, falls sie bereit seien, in Frieden mit den Israeli zusammenzuleben. Doch dies schien nicht der Fall zu sein. Die Flüchtlinge selbst und die Politiker der arabischen Staaten redeten viel davon, dass weitere Waffengänge bevorstünden, um "die Scharte auszuwetzen".
Wenn das so war, konnte man es den Israeli doch nicht verübeln, dass sie sich diese Bedrohung so weit wie möglich vom Leibe hielten.
"David und Goliath"
Trotz ihres Siegs über die arabischen Heere im Krieg von 1948 und 1949 wurden die Israeli weiterhin als der kleine David gesehen, der dem grossen und übermächtigen Goliath entgegentrat und - für viele mit Gottes Hilfe, für andere jedenfalls wundersam - sich gegen ihn zu behaupten vermochte.
Israel schritt zum Aufbau. Es brachte die "Wüste zum Blühen". Ohne dass je von den Hunderten von arabischen Dörfern die Rede war, deren Bewohner vertrieben und enteignet worden waren. Sie wurden entweder zerstört oder von israelischen Einwanderern übernommen. Das bebaute Land der palästinensischen Bauern, die den weitaus grössten Teil der Bevölkerung Palästinas ausgemacht hatten, wurde vom israelischen Staat übernommen und an Israeli abgetreten. Die verstreuten Juden in aller Welt wurden heimgeholt, auch jene, die in den arabischen Ländern lebten und sogar die aus Äthiopien.
Es gab den Kibbutz, eine neue Form des Zusammenlebens, die von den Israeli erfunden und entwickelt worden war. Junge Leute aus Europa gingen dort arbeiten. Sie wollten an dem Pionierleben teilnehmen, das möglicherweise, so glaubte man, mithelfen könnte, die europäische Sozialpolitik zu beleben. Die enthusiatischen Helfer wollten auch ihre Solidarität gegenüber den Juden erweisen, die im Weltkrieg so unmenschlich gelitten hatten.
"Bedroht durch die Araber"
Die Drohkulisse, die die arabischen Staaten gegen Israel aufbauten, besonders Ägypten unter dem Militärdiktator Abdel Nasser, wurde sehr ernst genommen. Die Sowjetunion griff zu Gunsten der Araber ein und bewaffnete sie. Israel musste sich in Grossbritannien und in Frankreich mit Waffen versorgen. Ein Krieg brach 1956 aus, nachdem Nasser den Suezkanal zu nationalisieren gewagt hatte. Die israelischen Tanks durchquerten siegreich den Sinai und standen am Suezkanal.
Frankreich und Grossbritannien griffen ein und landeten Truppen auf beiden Seiten des Kanals. Man erfuhr erst später, dass es sich dabei um ein abgekartetes Spiel handelte, das heimlich von den drei Mächten vereinbart worden war, ohne die Amerikaner einzubeziehen. Das war der Grund dafür, dass Präsident Eisenhower die drei Angreifer zum Rückzug zwang und Nasser seine militärische Niederlage in einen politischen Sieg verwandeln konnte.
All das minderte keineswegs die Sympathien der weit überwiegenden Zahl der Europäer gegenüber dem kleinen, mutigen Israel. Weiterhin galten "die Araber" und besonders die arabischen Diktatoren in Ägypten, in Syrien, von 1958 an auch im Iraq, als die bösen, gefährlichen Mächte, die das tapfere kleine Land, "den einzigen demokratischen Staat der Region" zu verschlingen gedachten. Ihre eigene Propaganda unterstrich das ja auch beständig in sehr lauten Tönen.
"Das Nahostproblem" schlechthin
Die Unruhen hörten nicht auf, durch die das tapfere und - wie behauptet wurde - "friedwillige" Israel von seinen gefährlichen grossen Nachbarn bedroht und bedrängt wurde. Als schliesslich Abdel Nasser Miene machte, die Meerenge von Tiran bei Scharm asch-Sheikh zu sperren, welche die einzige Ausfahrt für die israelische Schifffahrt ins Rote Meer und von dort in den Indischen Ozean abgab, und als Nasser kriegerische Drohreden gegen Israel hielt, schlug die israelische Luftwaffe überraschend zu und zerstörte die ägyptische am Boden. Dies war der Auftakt zum „Sechs Tage Krieg“, den Israel durch den Luftüberfall gewann, noch bevor er offiziell erklärt worden war. Die israelischen Truppen standen erneut am Suezkanal, ohne Luftwaffe war die ägyptische Armee in der Sinai-Wüste hilflos.
Im gleichen Siegeszug schlugen die Israeli die syrische Armee und besetzten die syrische Provinz Kunaitra, die sofort umbenannt wurde in Golan. Sie vertrieben auch die jordanische Armee aus den Westjordangebieten, die seit 1949 zusammen mit dem Ostteil Jerusalems, der die Altstadt umfasst, zu Jordanien gehört hatten.
Siegestaumel, Erfolg, Beifall
Dieser gewaltige Sieg kam unerwartet für Israel und für die Aussenwelt. Er wurde in Europa und in Amerika als ein Sieg des Guten über das Böse gefeiert. Er schien eine zweite Geburt Israels zu markieren; aus Kleinisrael war Grossisrael geworden, das sich vom Suezkanal bis zum Jordan erstreckte. Die westliche Aussenwelt bejubelte Israel. Das amerikanische Publikum war möglicherweise noch mehr fasziniert von dem Blitzsieg der israelischen "Verteidigungskräfte", wie sie offiziell heissen, als die Europäer.
Dass auch ein neuer Exodus von Palästinensern aus den Westjordangebieten über den Jordan und aus der syrischen Provinz Kunaitra (die zu Golan umgetauft wurde) nach Syrien zustande kam, wurde kaum zur Kenntnis genommen.
Die Vertreter der arabischen Staaten versammelten sich in Khartum und erklärten dreimal nein; es gebe keinen Frieden mit Israel, kein Ende des arabischen Boykotts, der nach 1949 ausgerufen worden war, und keine Verhandlungen. Die Europäer schüttelten ihre Köpfe ob soviel fanatischer Halsstarrigkeit. Das Prestige Israels erreichte weltweit einen Höhepunkt. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg.
Die USA als der Partner schlechthin
In den folgenden Jahren baute der israelische Staat sein Verhältnis zu den Vereinigten Staaten aus. Ihr Staat wurde im Schachbrett des Kalten Krieges zum "unversenkbaren Flugzeugträger der Amerikaner im Nahen Osten". Eine enge Verschränkung der amerikanischen Wirtschaft und der israelischen entwickelte sich. Besonders intensiv wurde die Zusammenarbeit im Bereich der hochtechnologischen Waffenproduktion.
Geldströme flossen nach Israel. Die Sozialutopie der Kibbuzim aber schmolz im Feuer des Konsumkapitalismus dahin. AIPAC, die israelische Lobby in den Staaten wurde ausgebaut und gewann gewaltigen Einfluss, besonders auf das amerikanische Parlament. Die israelische Diplomatie, israelische Militärs und Geheimdienstspezialisten gewannen Ansehen und Gewicht in Iran und in der Türkei, sie dehnten ihre Aktivitäten bis nach Afrika aus. Prestige und Mythos der israelischen Geheimdienste stiegen meteorisch auf.
Der Eindruck entstand, die amerikanische Nahostpolitik werde weitgehend in Israel entworfen und von Israel bestimmt. Die europäischen Staaten glaubten, sie könnten nicht viel anderes tun, als dem israelisch-amerikanischen Machtgebilde ihren Respekt zu erweisen und sich ehrfürchtig vor ihm zu verneigen. Als De Gaulle einmal fallen liess, "Israel exagère" – „Israel übertreibt“ -, wurde es als eine Weltsensation empfunden, dass sich der französische Staatschef dermassen respektlos und kritisch über das erfolgreichste aller Länder zu äussern wagte.
TEIL 2: DER PALÄSTINENSISCHE DISKURS
Der Gegendiskurs ist jener der Palästinenser, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Er blieb viele Jahrzehnte hindurch unbekannt in Europa. Nur ein paar Menschen aus dem Westen vernahmen ihn, die Gelegenheit hatten, mit Palästinensern zu sprechen und mehr oder weniger direkt an ihrem Flüchtlingsleben teilzunehmen.
Die Balfour-Erklärung von 1917
Die Palästinenser weisen darauf hin, dass ihr Kampf um ihr eigenes Land gegen "die Juden" - manche haben gelernt, vorsichtiger "die Zionisten" zu sagen - schon lange vor der Gründung des Staates Israel begonnen hatte. Für sie ist der Beginn ihrer Israel-Erfahrung die Balfour-Erklärung von 1917, in welcher der britische Aussenminister während dem Ersten Weltkrieg und kurz bevor sich eine britische Armee von Kairo aus zur Eroberung Palästinas aufmachte, den Juden eine "Heimstätte" in Palästina versprach. "Als ob er irgend ein Recht gehabt hätte, über unser Land zu verfügen", wie die Palästinenser betonen.
Die Palästinenser berichten von mehreren Verzweiflungsaufständen gegen die Kolonialmacht und gegen die von ihr angesiedelten Zionisten. Sie wurden allesamt von der britischen Kolonialmacht niedergeschlagen. Die Opfer aus jener Zeit sind noch heute gegenwärtig. Um die grosse Erhebung der Jahre 1935 und 1936 blutig abwürgen zu können, mussten die Engländer Truppen aus Grossbritannien nachschieben.
Gebrochene Zusagen
Zum palästinensischen Diskurs gehört auch das gebrochene Versprechen der Kolonialmacht. Diese sagte kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zu, die Einreise von weiteren Zionisten zu beschränken und am Ende ganz einzustellen. Sie versuchte auch, nach dem Krieg ihr Wort zu halten. Doch der Druck aus Amerika und aus Europa, die jüdischen Flüchtlinge und Überlebenden der Nazilager nach Palästina einreisen zu lassen, wurde zu gross. Er wurde verstärkt durch Terrorakte der Zionisten gegen die Briten und die Palästinenser.
Grossbritannien entledigte sich zuletzt seiner Verantwortung, indem es das Palästinaproblem der neu gegründeten UNO übergab. Dieses Problem war natürlich in der Zwischenkriegszeit von den Engländern durch ihre pro-zionistische Politik selbst geschaffen worden. Daraufhin kam es, primär auf Betreiben der Amerikaner, zum Teilungsbeschluss der Uno, entgegen allen Versprechungen früherer Zeiten, nach denen die Bevölkerung Palästinas von der Mandatsmacht Grossbritannien zur Unabhängigkeit und Selbstbestimmung geführt werden sollte. Die Palästinenser sehen dies als einen Verrat der Engländer gegenüber ihrer Nation.
Vertreibung, Enteignung, Staatenlosigkeit
Dem Verrat folgte der "Diebstahl" ihres Landes, wie sie sich normalerweise ausdrücken, durch die Zionisten mit der abschliessenden Katastrophe der Vertreibung des grössten Teils ihres Volkes aus Palästina. "Wenn die Juden für die Untaten kompensiert werden sollen, die in Europa ihnen gegenüber begangen wurden", so die Palästinenser einhellig, "dann wäre es an Europa gewesen, sie in Europa zu kompensieren. Wir haben mit den europäischen Judenverfolgungen gar nichts zu tun. Warum soll die Sühne uns angelastet werden?"
Die Vertreibung aus Palästina ist die Grundgegebenheit im Leben aller Exilpalästinenser, aller Generationen. Das Streben danach, sie rückgängig zu machen, hat nie aufgehört. Zuerst versuchten die Vertriebenen, ihre "Rückkehr" mit Hilfe der arabischen Staaten zu erreichen. Diese traten in den beiden ersten Jahrzehnten nach der Vertreibung als Garanten auf, welche die Rückkehr erkämpfen würden. Doch ihre Verheissungen wurden unglaubwürdig durch die grosse Niederlage Abdel Nassers im Jahr 1967. Und einige Palästinenser hatten bereits in den Jahren zuvor daran zu zweifeln begonnen, dass die arabischen Staaten sich tatsächlich, nicht nur in Propagandaslogans, ihrer Sache annehmen könnten.
Dies hatte zur Gründung von Selbsthilfeorganisationen geführt, die, ermuntert durch den vietnamesischen Widerstand jener Jahre, ihre Sache selbst in die Hand nehmen wollten. Die Zeit Yasser Arafats und der Seinen begann 1965. Die arabische Staatenwelt trat nur zu gerne die Verantwortung für das weitere Geschick der Palästinenser an diese selbst ab. Die arabischen Politiker unterstützen die Palästinakämpfer verbal, soweit es ihnen in ihre Politik passte, weil deren Anliegen bei ihren Völkern von grossem Gewicht waren.
Hoffnung auf Rückkehr aus eigener Kraft
Kurz nach der schweren Niederlage von 1967 gab es gewaltige Hoffnungswellen, dass es den heldenhaften "Fedayin", Selbstaufopferern, gelingen könnte, die Israeli letzten Endes dazu zu zwingen, Palästina zu räumen. Ein Kampf bei Karame in der Jordansenke, in dem zum ersten Mal palästinensische Kämpfer der israelischen Armee einigermassen erfolgreich Widerstand leisteten, weckte Hoffnung bei der verzweifelten Flüchtlingsbevölkerung. Damals wollten mehr Freiwillige zur PLO stossen, der „Palästinensischen Befreiungsorganisation“, als diese in ihre noch jungen Strukturen aufnehmen konnte.
Ein Nebeneffekt dieser Kämpfe war, dass die Palästinenser sich selbst als eine eigene Nation im Exil erkannten und zu formieren suchten. Zuvor war Palästina, wie Syrien, der Irak, Transjordanien und Libanon eine Region der arabischen Welt gewesen, die ihrerseits jahrhundertelang, bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Teil des Osmanischen Reiches gewesen war.
Auch das Ausland begann, die Palästinenser nicht mehr einfach als Araber einzustufen, sondern spezifisch als Palästinenser zu sehen, obwohl sie nun überwiegend im Exil lebten und viele in Flüchtlingslagern elend dahin vegetierten.
Widerstand auch mit Terrormethoden
Der Widerstand gegen Israel hat nie völlig aufgehört. Er kannte Zeiten heftiger Aktivität und solche von beinahe völliger Grabesruhe. In Israel sorgten die Israeli selbst dafür, dass die dort verbliebenen Palästinenser, ursprünglich nur gegen 120 000, heute durch natürlichen Zuwachs beinahe zehnmal mehr, sich nicht assimilieren konnten, weil sie von ihnen als Fremdkörper behandelt, weitgehend enteignet und in vielen Fällen systematisch erniedrigt und nach Kräften schikaniert und misshandelt wurden.
Doch die Versuche der PLO, einen Guerillakrieg gegen Israel auszulösen, wurden immer wieder von den Israeli erstickt. Wenn sie der palästinensischen Infiltratoren nicht direkt habhaft wurden, schlugen die Israeli auf die Länder zurück, aus denen die Infiltratoren kamen. Sie zwangen durch Schläge ihrer überlegenen Streitkräfte die Regierungen von Jordanien, Syrien und Libanon, selbst dafür zu sorgen, dass die Palästinaflüchtlinge sich in ihren Ländern ruhig verhielten.
Der Bau der Sperrmauer
Weil ein echter Guerillakrieg nicht wirklich zustande kam, schritten die Palästinenser oftmals, statt zu versuchen Kämpfer einzuschleusen, zu Bombenanschlägen. Flugzeugentführungen wurden zur Spezialität einer Sondergruppe, die sich Volksbefreiungsfront Palästinas nannte (PFLP). Doch auch für diese Methoden fanden die Israeli über die Jahre hin wirksame Gegenmassnahmen.
Eine davon war der Bau der Sperrmauer, die nicht auf der Trennungslinie zwischen dem Staat Israel und den von ihm 1967 besetzten Gebieten verläuft, sondern östlich dieser Linie mit tiefen Einschnitten in das besetzte Westjordangebiet, das nach dem Völkerrecht Israel nicht gehört. Die zahlreichen Strassensperren mit Soldaten der Besatzungsarmee, die seit dem Jahr 2000 alles Wirtschaftsleben in den besetzten Gebieten des Westjordanlands abwürgen, wurden von Israel damit gerechtfertigt, dass sie für die Sicherheit ihres Landes notwendig seien.
Leben unter Besetzung
Der Bau von israelischen Siedlungen in den Besetzten Gebieten begann schon kurz nach der Eroberung Westjordaniens. Sie wurden später durch Strassen und Autobahnen, die nur israelische Siedler benützen dürfen, mit dem eigentlichen Israel verbunden. Dazu kommen ständige Eingriffe der israelischen Streitkräfte in die palästinensischen Siedlungsgebiete, um Verdächtige gefangen zu nehmen. Das Ganze wird ergänzt durch ein dichtes Netz von Spionen, die bezahlt oder gezwungen werden, allen Aktivitäten ihrer Landsleute nachzuspüren.
Eine übergesetzliche Notstandsbefugnis, die die Engländer in der Kolonialzeit eingeführt hatten, behielten die Israeli gegenüber den Palästinensern bei. Sie erlaubt ihnen, Palästinenser ohne Gerichtsverhandlung durch "administrativen" Entscheid der militärischen Besetzungsmacht festzunehmen und sie sechs Monate lang - zudem beliebig verlängerbar – ohne jede Begründung gefangen zu halten. Auch die Zerstörung von Häusern, deren Bewohnern sie vorwerfen, mit ihren Feinden, den "Terroristen", in Verbindung zu stehen, vollzogen auf einfachen Befehl der Besetzungsmacht hin, stammt aus dem Arsenal der früheren Kolonialmacht.
Sabotierte Zweistaatenlösung
Die Palästinenser schauen mit Bitterkeit auf die angebliche Zweistaatenlösung zurück, die ihnen 1993 versprochen wurde. Damals hatten sich Arafat und seine Fatah-Bewegung in Anbetracht ihrer finanziellen Nöte und ohne die geringsten Erfolgsaussichten im Kampf gegen Israel dazu überreden lassen, Israel als legitimen Staat anzuerkennen. Sie glaubten, dafür eine Zusage der Amerikaner und der Israeli erlangt zu haben, dass sie in den besetzten Jordangebieten ihren eigenen palästinensischen Rumpfstaat errichten dürften.
Diese Zweistaatenlösung hätte in den fünf auf 1993 folgenden Jahren verwirklicht werden sollen. Doch es kam nicht dazu. Die Israeli hatten den Vertrag so formuliert, dass sein Wortlaut ihnen die Möglichkeit bot, den Palästinensern "weniger" als einen vollen Staat zuzuerkennen. Nach sieben Jahren der Verhandlungen und der periodischen Zwischenfälle stellte sich heraus, dass sie bestenfalls gewillt waren, den Palästinensern sehr viel weniger als einen eigenen Staat zu gewähren: nur gerade eine fragwürdige Teilautonomie in einigen der dicht bewohnten Bevölkerungszentren der Westjordangebiete.
Unehrliche Makler
Die Amerikaner, die als Vermittler zwischen den beiden Vertragsparteien aufgetreten waren und die die einzigen Vermittler waren, die Israel dulden wollte, erklärten jedesmal, wenn die Verhandlungen stockten, weil die Israeli die versprochene Zweistaatenlösung nicht in vollem Masse durchführen wollten, die Palästinenser müssten sich mit den Israeli verständigen, und liessen sie damit ihrem machtmässig weit überlegenem Verhandlungspartner gegenüber im Stich.
Die Palästinenser fühlten sich einmal mehr hintergangen und betrogen. In ihren Augen hatten die Israeli mit amerikanischer Rückendeckung eine neue Methode gefunden, um sich der kümmerlichen Reste von 23 Prozent des plästinensischen Territoriums zu bemächtigen, die den Palästinensern mit den Westjordangebieten verblieben waren.
Jerusalem usurpiert
Westjerusalem wurde zum besonderen Streitpunkt. Die historische Altstadt, die bis 1967 zu Jordanien gehört hatte, wurde von Israel einseitig annektiert. Dazu schlugen die Israeli auch eine weite umliegende Zone auf Kosten der palästinensischen Ansprüche, die sie als grossstädtisches Einzugsgebiet für Jerusalem bezeichneten. Die Enteignung von Ostjerusalem ist für die Palästinenser besonders schmerzlich, weil alle Verkehrswege, die den nördlichen mit dem südlichen Teil der Besetzten Gebiete verbinden, über Jerusalem führen.
Gaza blockiert
Ein Betrug fand in palästinensischen Augen auch in Gaza statt. Die Israeli beschlossen im Jahre 2005 unter Sharon mit grossem Tamtam, aus Gaza abzuziehen. Doch sie gewährten der von Palästinaflüchtlingen schwer überfüllten Enklave keine wirkliche Unabhängigkeit. Sie kontrollierten ihre Grenzen und schlossen sie zu Land und zu Wasser ein. Sogar den Flugplatz von Gaza, den die Europäer finanziert hatten, zerstörten sie, um den Bewohnern des Gazastreifens jeden Weg nach aussen, den sie nicht kontrollieren konnten, abzuschneiden. Ägypten unter Mubarak schloss ebenfalls seine Grenze zu Gaza, und das palästinensische Territorium wurde auf diesem Weg zum grössten Freilichtgefängnis der Welt.
Dass gewisse Bewohner von Gaza zahlreiche selbstgebastelte Raketen ohne Zielmechanismus auf die umliegenden israelischen Gebiete abfeuerten, die nur geringen Schaden anzurichten vermochten, diente den Israeli als Rechtfertigung für ihre Militärschläge auf die Enklave, die Ende 2008 die Form eines vollen Vernichtungskrieges annahmen. Dieser wurde 2012 als reiner Bombenkrieg wiederholt.
Verhandlungen ohne Ende
Die Kämpfe festigten die Herrschaft der von den Palästinensern gewählten Hamas über die Enklave. Hamas trat als Rivalin der Fatah Arafats auf und weigerte sich, wie diese es 1993 getan hatte, Israel als legitimen Staat anzuerkennen. Die Haltung von Hamas fand Beifall bei vielen Palästinensern, die sich durch die versprochene, aber nicht verwirklichte Zweistaatenlösung, der Arafat und seine Fatah-Anhänger zugestimmt hatten, während Hamas sie ablehnte, einmal mehr hintergangen sahen.
Im Gegensatz zu Hamas versuchte Fatah nach dem Tod Arafats, von dem viele Palästinenser nicht ohne ernsthafte Indizien annehmen, dass er von den Israeli vergiftet wurde, weiterhin über eine Zweistaatenlösung zu verhandeln. Doch im Jahr 2010 führte die Weigerung der israelischen Regierung, dem Bau von mehr und mehr Siedlungen auf palästinensischem Land in den Besetzten Gebieten einzustellen, zum Abbruch aller Verhandlungen.
TEIL DREI: SYNTHESE
Die Wahrheit liegt ohne Zweifel irgendwo zwischen diesen beiden gegensätzlichen Darstellungen. Doch sie ist nicht gleich entfernt von beiden. Es lässt sich nachweisen, dass der israelische Diskurs viel systematisch verbreitete Unwahrheiten enthält, die dazu dienten und in vielen Fällen noch dienen, das Vorgehen Israels zur Inbesitznahme des palästinensischen Landes zu beschönigen, beginnend mit dem Slogan vom "Land ohne Volk für das Volk ohne Land" und - vorläufig - endend mit der Behauptung, die Ausdehnung der staatlich geförderten und beschützten Siedlungen in das besetze Westjordanland sei notwendig, um die " Sicherheit" Israels zu gewährleisten.
Der palästinensische Diskurs weist natürlich ebenfalls propagandistische Elemente auf. Doch es handelt sich dabei fast immer um rhetorische Übertreibungen und emotionale Verbalkompensationen für erlittene Niederlagen und offensichtliche Schwächen, vielmehr als um beabsichtigte Irreführung. Diese Entgleisungen sind sehr oft der Ausdruck von Überkompensation der Verzweiflung über Ketten von stets wiederholten Verlusten, Rückschlägen und Enttäuschungen.
Erfolgreiche Tarnmanöver, schädliches Aufbegehren
Die israelische Regierungspropaganda entstellt die Tatsachen, um ihre wirklichen Ziele zu verbergen und sie auch vor den liberaleren Teilen der eigenen Bevölkerung verborgen zu halten. Die Palästinenser und mit ihnen viele andere Araber neigen dazu, ihrer Verzweiflung durch heftige Worte unter Übertreibung oder Entstellung von Sachverhalten vorübergehende Erleichterung zu verschaffen.
Ihre propagandistischen Entstellungen haben den Israeli gewaltig genützt; sie haben grosse Teile der Welt von der Gerechtigkeit der israelischen Sache überzeugt. Die emotionalen Entladungen, die zu bedeutenden Teilen den arabischen und palästinensischen Diskurs bestimmen und oft von unrealisierbaren Drohungen begleitet sind, haben den Palästinensern und allen Arabern sehr geschadet, weil sie die Behauptungen der Israeli zu bestätigen scheinen, dass diese nur handelten, um "sich selbst zu verteidigen", nicht etwa um anderer Leute Land in Besitz zu nehmen.
Die einzige Gemeinsamkeit
Die Meinungen, die sich beide Seiten voneinander bilden und die sie in der Welt zu verbreiten suchen, haben nur eines gemeinsam. Die Israeli und die Palästinenser zeigen sich nicht in der Lage, die Leiden zu erkennen, die sie der Gegenseite angetan haben und - gegenwärtig besonders im Falle der Israeli - immer weiter antun. Dies ist zweifellos eine Folge der gegeneinander gerichteten Kriegsmentalität, die auf beiden Seiten besteht und stets weiter modert. Sie bewirkt, dass der Gegner nur als ein solcher gesehen wird und nicht als ein Mitmensch ins Auge gefasst werden kann, dem Unrecht geschieht.
Diese Kriegsmentalität müsste sich ändern, bevor ein echter Frieden entstehen kann. Sie kann sich erst ändern, wenn beiden Seiten eine längere Periode friedlichen, nicht durch Gewaltmassnahmen bestimmten, Zusammenlebens ermöglicht wird. Die heute bestehende, seit der Balfour Erklärung andauernde und immer nur zunehmende Kriegsmentalität ist im Falle der Palästinenser in erster Linie eine Sache der in Restpalästina und im Exil lebenden Bevölkerung, die ihres Landes und ihrer Nationalität beraubt wurde und diesen Umstand seit 60 Jahren täglich zu spüren bekommt.
Ohne Sinn, ohne Alternative
Die Kriegsmentalität ist im Falle der Israeli weitgehend verursacht durch eine Politik der israelischen Regierung, die darauf ausgeht, alles Land Palästinas bis an den Jordan für den Staat Israel zu annektieren, mit der Ausnahme der am dichtesten von Palästinensern besiedelten Enklaven, den vorgesehenen "Bantustans". Die seit 1997 herrschenden israelischen Rechtsregierungen möchten die grosse Masse der palästinensischen Bevölkerung der Westjordangebiete und Gazas nicht in den von ihnen begehrten "grossisraelischen" Staat aufnehmen, weil sie vermeiden wollen, dass am Ende die Palästinenser die Mehrheit der Bevölkerung Israels bilden. Deshalb versuchen sie die palästinensische Bevölkerung der Westjordangebiete und Gazas in beschränkt autonome Enklaven einzuschliessen, die als nicht zu Israel gehörig klassifiziert und behandelt werden.
Alles übrige Land gedenken sie einem Grossisrael einzuverleiben, das vom Mittelmeer bis zum Jordan reichen soll. Ihr expansives nationalistisches Ziel kann die israelische Regierung nur verfolgen, wenn sie unter den Israeli und den Palästinensern die erwähnte Kriegsmentalität aufrechterhält und beständig nährt. Sie versetzt sich dadurch in die Lage, der eigenen Bevölkerung und weitgehend auch der Aussenwelt ihre expansive und gewaltorientierte nationalistische Zielsetzung als eine unvermeidliche politische Notwendigkeit zu schildern, für die es keinerlei Alternativen gebe.