Man hört selten von den Hazara. Wenn die internationale Presse sich ihrer animmt, ist es fast immer nur, weil sie wieder einmal massakriert worden sind.
Heimat in Afghanistan
Dies ist auch gegenwärtig wieder der Fall. Die Hazara haben viele Verfolgungen erlitten. Ihre Heimat ist das Zentrum Afghanistans auf der Südseite des Hindukusch. Dort gibt es mehr als eine Million von ihnen. Ihre Hauptstadt, Bamian, liegt vor Felsenklippen, in die einst die riesige Buddha Statue gehauen war. Seit 2001 ist davon nur noch die Nische übrig.
Die Taleban haben nicht nur gegen das "Götzenbild" des Buddha gewütet, sondern auch gegen die Hazara. Denn diese sind Schiiten, und sie haben das Unglück, dass sie Gesichtszüge tragen, an denen man ihre Zugehörigkeit zu ihrem Volk sofort erkennt. Ihre runden Köpfe mit starken Kinnbacken und geschlitzten Augen weisen darauf hin, dass sie mindestens teilweise von den mongolischen Völkern abstammen, die unter Dschingis Khan im 13. Jahrhundert sowohl China wie auch die islamische Welt überschwemmten. Die Hazara sprechen ihre eigene Sprache, einen persischen Dialekt mit mongolischen Lehnwörtern.
Immer wieder Opfer von Machtkämpfen
Nicht nur die Taleban haben sie verfolgt, sondern vor ihnen schon viele afghanische Herrscher aus dem Volk der Paschtunen, die in Kabul regierten. Im 19. Jahrhundert hatten sich die Hazara wiederholt gegen die Herrschaft von Kabul erhoben, und ihre Aufstände waren immer erneut mit grösster Brutalität niedergeschlagen worden.
Dies hat zur Auswanderung geführt. Viele Hazara flohen in das britische Indien und haben sich dort in erster Linie in Quetta niedergelassen, der Hauptstadt von Balutschistan, die heute zu Pakistan gehört. Andere ihrer Gemeinschaften sind nach Iran geflohen und haben sich in der schiitischen Pilgerstadt Meschhed und in den Dörfern rund um sie herum niedergelassen.
Eine Riesenkolonie in Quetta
Quetta lag auf dem Weg der Hazara Pilger nach Meschhed. Dort ist über die Jahre und über die vielen Verfolgungen hinweg eine Gemeinschaft der Hazara entstanden, die heute eine halbe Million Menschen umfassen soll. Ganze Stadtquartiere sind von den Hazara bewohnt. In Quetta haben die jüngsten Hazara-Massaker stattgefunden. Verantwortlich für sie sind Selbstmordattentäter der pakistanischen Fanatikergruppe, die sich Lashkar e Jangvi nennt, "Kriegsarmee" oder "Heer des Kampfes".
Schiitenvertilger
Diese Gruppe gibt es schon seit 1980. Sie ist zur Zeit des islamisch ausgerichteten Militärherrschers Zia ul-Haqq entstanden. Der "Kampf" gegen die Schiiten, die den sunnitischen Fanatikern in Pakistans als "Ungläubige" gelten, wurde ihre Spezialität.
In Quetta haben sie am 9.Januar und zum zweiten Mal am 16. Februar vernichtende Bomben gezündet, die erste war eine Doppelbombe zuerst in einer dicht besuchten Billard-Halle, dann als viele Menschen dort hineilten, eine zweite. Zusammen verursachten sie 96 Todesopfer und Hunderte von Verletzten. Der Bombenanschlag vom Februar wurde auf einem dicht belebten Markt ausgelöst. Er kostete 84 Hazaras das Leben und forderte 169 Verletzte.
Jahrelange Verfolgung
Diese beiden waren nur die schwersten Anschläge in zwei Jahren der Verfolgung, welche die Hazara von Quetta zu erleiden hatten. Sie begann mit der Ermordung von Einzelner, die sich als Führer der Gemeinschaft hervorgetan hatten: Politiker, Professoren, Geschäftsleute. Es folgten Morde beliebiger Personen aus der Hazara-Gemeinschaft, etwa indem Autobusse von Bewaffneten angehalten wurden und diese alle Hazara-Passagiere erschossen. Dies soll, wie die Hazara versichern, manchmal nur wenige Meter von Militärbasen entfernt vorgekommen sein. Die Militärs seien nicht eingeschritten.
Es gab auch Anschläge auf schiitische Moscheen, zuletzt auch diesen Februar mit 24 Todesopfern. Die Hazara von Quetta sagen, sie lebten seit etwa zwei Jahren "unter Belagerung". Viele vermeiden es, soweit möglich, ihre Wohnungen zu verlassen.
Ein drastischer Schritt
Nach dem ersten Anschlag vom Januar reagierten die Hazara auf die Attentate und auf die beständige Lebensgefahr, in dem sie leben müssen dadurch, dass sie sich weigerten, ihre Toten zu beerdigen, bis der Staat gegen die Mörderbanden aktiv werde. Sie forderten, der Gouverneur von Beluchtistan, der in Quetta residiert, solle ersetzt werden, und die Armee statt der Polizei habe die Verantwortung für die Sicherheit zu übernehmen. Demonstrationen fanden auch in anderen Orten Pakistans statt, um Solidarität mit den Hazara von Quetta zu zeigen.
Die Regierung ging auf die Wünsche ein. Ein neuer Gouverneur mit erweiterten Vollmachten wurde ernannt, und die Grenzschutztruppen, Einheiten, die zur Arme gehören, nicht zur Polizei, sollten die Verantwortung für die Sicherheit in der balutschischen Hauptstadt übernehmen. Doch es geschah nichts weiter, und kurz darauf fand der zweite Anschlag statt.
Greift die Regierung ein, oder tut sie nur so?
Erneut weigerten sich die Hazara, ihre Toten zu begraben. Grosse Menschenmassen kamen in Quetta zusammen, um zu protestieren. Diesmal griff die Regierung durch. 170 Personen wurden gefangen genommen. Unter ihnen befindet sich auch Malik Ishaq, der Gründer und frühere Chef der Fanatiker-Organisation. Malik Ishaq hatte zehn Jahre im Gefängnis verbracht. Er war 2011 entlassen worden. Als ein pakistanischer Journalist ihn nach seiner Entlassung fragte, was er nun zu tun gedenke, antwortete er, seine Organisation und er selbst gedächten "die gute Arbeit" fortzusetzen, die sie begonnen hätten.
Seine jüngste Verhaftung sei so vorgegangen, erklärte ein anderer pakistanischer Journalist, dass eine schwer bewaffnete Polizeieinheit seine Wohnung umstellt habe. Sie habe dann mit ihm verhandelt, und am Ende habe er sich ergeben.
Nach der pakistanischen Sicherheitsgesetzgebung können Verdächtige drei Monate lang ohne spezifische Anklage festgehalten werden.
Die Macht der Terroristen
Die Toten wurden begraben. Doch die Hazara sind skeptisch. Sie sagen, sie hätten des öfteren erlebt, dass Mitglieder von Lashkar e Jangvi verhaftet worden seien, nur um etwas später wieder frei gelassen zu werden.
Die pakistanischen Beobachter sagen, die Gruppe der Fanatiker besitze viel Macht, obwohl sie in Pakistan seit 2001 und in den USA seit 2003 offiziell verboten ist.
Sie soll in Mustang, Beluchistan, ein militärisches Ausbildungslager betreiben. Von dort aus greife sie auch immer wieder Autobusse mit schiitischen Pilgern an, die von Pakistan zu den heiligen Städten der Schia nach Iran reisen.
Politik durch Bluttaten
Im vergangenen Dezember brachten ihre Bewaffneten die 15-Millionen-Stadt Karachi zu einem völligen Stillstand, weil einer ihrer Anführer dort in einer Schiesserei verwundet worden war.
In den Grenzprovinzen nach Afghanistan sollen sie mit der "Bewegung der Pakistanischen Taleban" (TTP) zusammenarbeiten. Sie gelten als Mitverantwortliche für den Mordanschlag von 2007, dem die Politikerin Benazir Bhutto erlag.
In der grössten Provinz Pakistans,in Punjab, haben sie eine politische Bedeutung, weil ihre Aktivisten in der Lage sind, in Wahlen grosse Massen von Stimmen für die Politiker zu mobilisieren.
Nützlich für die Armee
Die Geheimdienste der Armee sollen sich der Mitarbeit ihrer Kämpfer und Aktivsten bedienen. Sie seien nützlich für sie in dem Ringen gegen die bewaffenten Belutchistan Nationalisten, die sich Pakistan lossagen wollen, und könnten auch in Indien und in Kaschmir Verwendung finden.
Über den innerpakistanischen Aspekt hinaus sind die Aktivitäten von Lashgar e Jangvi von Bedeutung, weil sie in den Rahmen des "Krieges" der Sunniten gegen die Schiiten fallen, den die saudische Regierung anführt. Er hat eine tiefe Spaltung zwischen den beiden islamischen Konfessionen im arabischen Raum mit sich gebracht, und es besteht wenig Zweifel, dass die Saudis auch bereit sind, in Pakistan Gruppen zu protegieren, die gegen die Schi'a "kämpfen" wollen.
Wer bedroht wen?
Iran gilt in saudischen Augen als die Gegenmacht, die versucht, überall die bestehenden Machtverhältnisse zu verändern und die Schiiten auf Kosten der Sunniten zu fördern.
Dies geschehe sowohl in den Ländern sunnitischer Majorität und schiitischer Minderheiten, wie Pakistan, Afghanistan, Saudi Arabien selbst und auch Syrien und Jemen, wenn man, wie die Saudis, abweichende Formen des Schiismus mit einbezieht. Es geschehe aber auch in den Staaten schiitischer Majoritäten, wie dem Irak, Libanon und Bahrain, wo die Schiiten erst kürzlich mit iranischer Unterstützung eine Führungsrolle übernehmen konnten, wie in Libanon und im Irak, oder wie in Bahrain sie zu erlangen versuchten.
Gesuchte Konfrontation
Ihr eigenes Land sehen die Saudis gerne als den Vorkämpfer des Sunnismus in der ganzen islamischen und besonders in der arabischen Welt.
Diese saudische Sicht "ihres" Islams, der gefährdet sei durch die Schiiten, ist weitgehend ein neues Konstrukt. Die beiden Konfessionen haben normalerweise friedlich zusammengelebt.
Wenn dies nun weniger und weniger der Fall ist, liegt die Ursache darin, dass es mehr und mehr fanatische und blutrünstige Gruppen auf beiden Seiten des konfessionalen Grabens gibt, die durch Betonung der bestehenden Unterschiede und die Behauptung, die Gegenseite suche die eigene Religionspartei zu vernichten oder mindestens zu dominieren, aufgehetzt werden und Kampfpositionen gegeneinander beziehen.
Gruppierungen wie die Lashgar e Jangvi mit ihren weithin sichtbaren Bluttaten tragen entscheidend dazu bei, dass sich auf beiden Seiten die Wahrnehmung der Gegenkonfession als blutige, lebensgefährliche Feinde ausbreitet und in den Köpfen festsetzt.