In der Erzählung «In der Strafkolonie» schildert Franz Kafka eine Hinrichtungsmethode von ausgesuchter Grausamkeit: Die Verurteilten werden an einen Apparat geschnallt, der ihnen mit einer ätzenden Flüssigkeit das Urteil auf den Leib schreibt. Wenn sie – um die sechste Stunde – die Schrift entziffert haben, und zwar «mit ihren Wunden», dann sterben sie, aber nicht ohne eine Art von Erlösung erlangt zu haben.
Dies zumindest glaubt ein verbliebener Anhänger des Verfahrens, der auch berichtet, man habe in früherer Zeit Kinder bei den Exekutionen zusehen lassen und sie dabei so positioniert, dass sie dem Sterbenden in die Augen sehen konnten. Damit, so der nunmehr bröckelnde Glaube, hätten sie der Wonnen der Entleibung teilhaftig werden können.
In dieses höllische Szenario packt Kafka eine in den menschlichen Kulturen weit verbreitete Vorstellung, nämlich die, dass Opfer und Qual sich auszahlten. Denn nur durch sie sei Erlösung – wovon auch immer – zu gewinnen. Diese Vorstellung ist auch Thema im Film «The Man Who Sold His Skin» der Tunesierin Kaouther Ben Hania.
Der faustische Pakt
Ans Leben geht es dem Protagonisten dabei freilich nicht; ans Lebendige aber schon. Sam ist ein Syrer, der durch unbedachte Äusserungen ins Räderwerk der Justiz geraten und vor Assads Schergen in den Libanon geflohen ist. Dort lernt er den belgischen Avantgarde-Künstler Jeffrey Godefroy kennen, bekannt dafür, Wertloses in teure Kunst zu verwandeln. Diese Begegnung öffnet Sam einen Ausweg aus der Flüchtlingsmisere, denn Godefroy bietet ihm an, aus ihm ein Kunstwerk zu machen, indem er ihm ein signiertes Schengen-Visum auf den Rücken tätowiert.
Sam weiss das zwar noch nicht, aber was er da eingeht, ist ein faustischer Pakt. Sam will nur raus, raus aus dem Lager im Libanon, raus aus dem rechtlosen Flüchtlingsstatus. Brüssel ist das Ziel seiner Träume, weil dort seine Geliebte Abeer lebt, die von der Familie mit einem Botschaftsbeamten zwangsverheiratet wurde. Mit einem eingeritzten Visum auf dem Rücken und einem gültigen in der Tasche darf er schliesslich ausreisen, ganz offiziell, mit dem Flugzeug. Er ist jetzt ein Kunstgegenstand – und Waren, so witzelt Godefroy, können in unserer Welt freier zirkulieren als Menschen.
Gelackte Leere
Doch die Freiheit hat ihren Preis: Da ist nicht nur die schmerzhafte Prozedur, der sich Sam hingebungsvoll wie ein Opferlamm unterzieht. Auch sein Leben in Brüssel wird den Erwartungen ganz und gar nicht entsprechen. Zwar residiert er in einem Hotel der Luxusklasse und ernährt sich von Kaviarbrötchen, aber an Abeer kommt er nicht heran, denn die ist in ihrer Zwangsehe gefangen.
Zudem verhindert seine vertragliche Verpflichtung praktisch jedes Eigenleben. Tag für Tag hat Sam zu den Öffnungszeiten im Königlichen Museum zu erscheinen, um dort seinen Rücken zur Schau zu stellen. So schreitet er jeweils im blauen Seidenmantel durch exquisit ausgeleuchtete Hallen zu seinem Ausstellungsort, mitten hinein in den Wirbel des eitel-selbstbezüglichen Kunstbetriebs. In diesem Marionettentheater scheinen sich alle wohlzufühlen, das gebildete Publikum, die Agenten und Kuratoren, die ganze Schickeria eben mit ihren erlesenen Kleidern und Anzügen. Nur Sam spürt die Leere, leidet unter der Entmenschlichung, die ihn umfängt.
Als sein Rücken bei einer Kunstauktion für fünf Millionen Euro versteigert wird, ist es genug. Sam rastet aus, reisst seine Kopfhörerkabel aus der Gürteltasche, als wäre es ein Zünder, und löst damit Massenpanik im Saal aus. Das ist das Ende der Vorstellung, aber noch ist Sam nicht aus der Geschichte heraus, Verträge sind schliesslich einzuhalten. Es wird eine symbolische Opferung nötig sein, um ihn als Mensch wieder auferstehen zu lassen.
Von Menschen und Waren
Sam verfällt dem Versprechen einer Erlösung durch die abgehobene Kunstwelt. Doch nun auferlegt ihm seine Körperlichkeit, das Trägheitsmoment der Existenz, den Status als Mensch zweiter Klasse und fesselt ihn an einen Ort, wo er nicht sein will. So gilt es diese Schwere abzuwerfen, den Körper hinter sich zu lassen, indem man ihn einer schmerzhaften Beschriftung unterzieht und in der Folge seine Ansprüche negiert.
Nur unter dieser Bedingung kann Sam jene Bewegungsfreiheit ergattern, die für uns Westler selbstverständlich ist. Dass die Inschrift auf seinem Rücken ausgerechnet den Freipass nach Europa darstellt, gehört zu den Ironien dieses raffinierten Films. Doch Sam wird enttäuscht – nicht anders als wohl auch die Verurteilten in Kafkas Erzählung. Aus der Erlösung wird nichts, der Preis ist zu hoch, das Freiheitsversprechen eine Chimäre. Ohne Anspruch auf den eigenen Körper sieht Sam sich selbst zuletzt als lebenden Toten.
Man kann den Film der Tunesierin Ben Hania als Parabel lesen, die das Verhältnis zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten beleuchtet. Die einen wissen schon gar nicht mehr, mit welchen exzentrischen Kapriolen sie die Zeit totschlagen sollen, die andern müssen auf unseren Märkten ihre Arbeitskraft, oft genug sogar ihre Körper verschachern, wenn sie überleben wollen.
Doch es gibt auch noch eine andere Lesart: Die äusserst eindrückliche Figur des Flüchtlings, der sich zum Kunstwerk modeln lässt, regt zum Blick in den Spiegel an. An Sams Widerstand gegen die Verdinglichung entzündet sich nämlich die Frage, was genau die Gesellschaften des Westens aufgegeben – geopfert – haben, um sich reibungslos in der Bewegungs-, Konsum- und Marktfreiheit einzurichten, in Freiheiten, die hohl sind, weil sie letztlich alle zu ökonomischen Faktoren erniedrigen.
Zu sehen am Zürich Film Festival in der Reihe «Neue Welt Sicht: Tunesien». Spieltermine:
- Dienstag, 28. September, 21.00 Uhr, Kosmos 1
- Donnerstag, 30. September, 18.30 Uhr, Kosmos 1
- Freitag, 1. Oktober, 18.00 Uhr, Arthouse Le Paris
Im Kino:
- Aarau: ab 14. Oktober
- Baden-Wettingen: ab 14. Oktober
- Basel: ab 14. Oktober
- Bern: ab 14. Oktober
- Dübendorf: ab 14. Oktober
- Luzern: ab 14. Oktober
- Meiringen: ab 25. Oktober
- Olten: ab 15. Oktober
- Pfäffikon: 25. und 26. Oktober
- Solothurn: ab 28. November
- Uster: 31. Oktober und 1. November
- Zürich: ab 14. Oktober