Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnet eine Standardisierung vieler Lebensbereiche, die ihre Wurzeln letztlich in der Arbeitswelt hat. Sie ist die Folge technischer Entwicklungen und der zweiten Industriellen Revolution. Spätestens Fords Fliessband erfordert eine weitere Aufsplitterung der Arbeitsabläufe sowie deren präzise Definition, welche die Beschäftigten gänzlich austauschbar macht. So erzwingen die industriellen Fertigungsprozesse letztlich die Anpassung der Menschen an die Maschinerie. Schlagend hat das Charlie Chaplin in «Modern Times» ins Bild gesetzt, indem er seinen Tramp in eine Fabrik steckte und dort vom Räderwerk verschlingen liess.
Negation des Besonderen
Die Industriearbeit jener Zeit tilgt ihrem Wesen nach alles Individuelle; sie funktioniert nur reibungsfrei, sofern die Regel stets den absoluten Vorrang vor dem Besondern hat. Damit bildet sie ein Paradigma für das, was der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Buch «Die Gesellschaft der Singularitäten» (2017) ((https://www.journal21.ch/gesellschaft-der-singularitaten)) als «Logik des Allgemeinen» bezeichnet hat. Diese Logik allerdings bleibt nicht auf die Arbeitssphäre beschränkt. Sie greift in den industrialisierten Gesellschaften über auf die Bereiche des Alltags wie etwa die Lebensplanung und sogar die Freizeitgestaltung.
Als Komplemente zur Arbeitsorganisation spiegeln diese Felder zumindest teilweise deren Eigenheit – nämlich weitgehende Berechenbarkeit – wider; zudem tragen standardisierte Produkte Gleichförmigkeit auch in den Konsum hinein, wo die Einzelnen eigentlich eine persönliche Wahl hätten. Und nicht zuletzt fördert die Disziplinierung am Arbeitsplatz innere Haltungen wie einen Hang zur Stereotypie oder das Bedürfnis nach möglichst engen Konventionen. Für Menschen, die damals im weiten Feld der Industriearbeit beschäftigt waren, zeigte sich der individuelle Spielraum also äusserst begrenzt – und das galt durchaus auch für die mit den weissen Krägen.
Der individualistische Einspruch
Doch das ist nicht die ganze Miete; denn die «Logik des Allgemeinen» herrschte auch damals nicht unwidersprochen. Kritik erwuchs ihr vor allem aus der Kultursphäre, wo Künstler, Literaten oder Philosophen Einspruch erhoben gegen die Anpassungszwänge bzw. gegen die Entfremdung, denen die Einzelnen unterworfen waren. Dieser Einspruch richtete sich im Übrigen nicht nur gegen die Verfügung über Menschen, sondern generell gegen rationale Kontrolle sowie den technischen Zugriff auf die Welt. Im Kern stand ein radikales Postulat: Letztlich zielte die Vision darauf, das Verhältnis von Regel und Fall von Grund auf umzukehren.
Es war Nietzsche, der diesen individualisierenden Protest auf den Weg brachte. Bei Freud akzentuierte er sich zur Vorstellung vom Menschen als einem Wesen, das in den kulturellen Setzkästchen prizipiell nicht aufgeht. Und er bildet letztlich auch den gemeinsamen Nenner von so unterschiedlichen philosophischen Richtungen wie Heideggers Existenzialontologie oder der Kritischen Theorie.
Beide Schulen entwerfen denn auch je ihren utopischen Fluchtpunkt: Heidegger mit der unverwechselbaren Einzigartigkeit des Einzelnen, Adorno mit der Vorstellung vom Nichtidentischen, einem Wirklichen, das sich der zweckrationalen Erfassung grundsätzlich entzieht. Inmitten einer flächendeckenden Standardisierung formiert sich also in der Kultursphäre ein Gegenentwurf, eine «Logik des Singulären» (Reckwitz), welche alternative Perspektiven auf die Welt eröffnet und sich insofern auch mit einem politischen Anspruch verbindet.
Reformpädagogik
Konkret fassbar wird diese utopische Perspektive vor allem in der Reformpädagogik. Dort geht es primär darum, von der Planierung der Einzelnen abzulassen, d. h. von Erziehungsformen, die alle über den gleichen Kamm scheren und durch permanenten Drill die individuellen Unterschiede auszumerzen versuchen. Ob in den Waldorfschulen nach Rudolf Steiner (1861–1925) oder bei Maria Montessori (1870–1952), in beiden Bildungskonzepten steht nicht mehr die finale Funktionalität der Zöglinge im Zentrum, sondern die freie Entwicklung von deren individuellen Anlagen.
Aus reformpädagogischer Sicht ist die Verpflichtung auf allgemeinverbindliche Standards abzulehnen, denn sie verstümmelt die Menschen, erstickt ihre Kreativität, um sie als Rädchen ins Getriebe der bürgerlichen Gesellschaft einzufügen. Diese wird als erdrückender Monolith gesehen, ihre Anpassungszwänge erscheinen als Sinnbild für Unfreiheit schlechthin und die Individualisierung gilt als Mittel, die Macht des schlechten Allgemeinen zu brechen. So ist diese Pädagogik ein zutiefst emanzipatorisches Projekt, das antritt, einen neuen Menschen zu schaffen: einen Menschen, der sich nicht mehr hinter Konventionen verstecken muss, weil er sich in seiner Einmaligkeit und Besonderheit annehmen kann.
Vorspiel in der Romantik
Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts prallen also in den Industriestaaten konträre soziale Logiken zusammen. Doch diese Konfrontation ist da keineswegs neu; sie hat sich vielmehr schon hundert Jahre zuvor abgezeichnet, nämlich in der romantischen Kritik am Anspruch der Aufklärer, die Welt ein für alle Mal in vernünftige Regie zu nehmen. Tatsächlich begriffen bereits die Romantiker das schöpferische Individuum als Gegenpol zu den Zwängen des Allgemeinen. Dementsprechend haben sie den Künstler gegen den Philister ausgespielt, den kreativen Einzelnen gegen den Herdenmenschen, der sich vernunftgeleitet dem Anpassungsdruck fügt, um schliesslich in der eigenen Nüchternheit zu versauern.
Schon hier ist in der Präferenz für das Individuelle ein emanzipatorischer Anspruch angelegt, auch wenn die romantischen Projektionen im Zeitalter der Restauration vorwiegend tröstlich-kompensatorischen Charakter hatten und zunächst einmal folgenlos blieben. Doch am Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie neu entdeckt, dabei entschieden radikalisiert und damit zum Antrieb einer Gegenkultur, welche in der Folge die Wertvorstellungen in den westlichen Gesellschaften von Grund auf umkrempeln sollte. War diese individualistische Rebellion anfänglich noch weitgehend Sache einer «jeunesse dorée», so schwoll sie durch die Jahrzehnte zu einer Grundwelle an, die in der Generation nach 1945 eine kritische Masse erreichte und schliesslich die «Logik des Allgemeinen» vom Thron fegte.
Das Muster des juvenilen Übergangs
Dabei trug diese Gegenkultur praktisch durchwegs die Züge einer Jugendbewegung; schon die Romantiker hatten sich in erster Linie an die Jungen gerichtet, in denen sich die sozialen Zwänge noch nicht verfestigt hatten und die entsprechend für neue Ideen offen waren. In der Tat ist die individuelle Absetzung ja ein notwendiges Stadium in der menschlichen Entwicklung. Alle müssen sich in der Adoleszenz von ihren Primärfamilien ablösen, um sich auf einen weiteren sozialen Rahmen hin zu orientieren. Dazu brauchen sie jedoch eine Phase der Selbstbezogenheit, in der sie die kindlichen Rücksichten zurückfahren und deutlich Abgrenzung markieren. Genau das ist es ja, was Eltern an den Teenagern nervt, die eben noch ihre braven Kinder waren.
Diese Abnabelung, sofern sie denn gelingt, erfahren Jugendliche als eine persönliche Emanzipation. Sie setzt nämlich Bindungsenergien frei, die plötzlich für eigene Projekte zur Verfügung stehen und deren Fliessen nicht selten einen fast manischen Rausch auslöst. Die hohe Intensität gerade dieses Gefühlszustands kann allerdings auch dazu führen, dass sich der junge Mensch an Gruppen und Meinungen fixiert, in die er mehr oder weniger zufällig hineingeraten ist.
So rufen eigentlich alle Bewegungen, die mit einem alternativen bis revolutionären Anspruch auftreten, das psychische Muster des juvenilen Übergangs ab, welches den Fokus vom Herkommen auf ein unbestimmtes Neues verschiebt. Und diesen Bewegungen braucht es keineswegs zwingend um die Emanzipation ihrer Anhänger zu gehen. Sekten tun es durchwegs, radikalisierte politische Gruppierungen sämtlicher Couleur ebenso, und die Faschisten in Italien und Deutschland waren Meister darin. Selbst die Rattenfänger der Konsumkultur setzen auf die Verführungskraft, die von der Vorstellung ausgeht, sich durch einen eigenen Akt von andern zu unterscheiden – selbst wenn es sich nur um die Wahl eines Markenartikels handelt.
Kulturrevolution im Westen
Seit der Aufklärung ist im Westen die Idee der Emanzipation mit dem Eintreten für individuelle Freiheit verknüpft. Wenn die Macht von einem eindeutigen Zentrum ausgeht und die Menschen im Namen eines gesellschaftlichen Ganzen zu homogenisieren versucht, dann bieten die mündigen Einzelnen dazu das natürliche Gegengewicht.
Doch genau diese Bedingung ist seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts nicht mehr umstandslos gegeben; denn es kam – nicht zuletzt im Gefolge von 68 – zu einem Umsturz auf der Ebene der sozialen Logiken. Wie Reckwitz etwa aufzeigt, verlor da das Allgemeine seinen Vorrang, und die «Logik des Singulären», die als Gegenkonzept bisher underground war, übernahm das Zepter.
Das heisst natürlich nicht, dass die «Logik des Allgemeinen» nun verschwunden wäre. In der Produktionssphäre sowie in den globalen ökonomischen Spielregeln bleibt sie weiterhin bestimmend. Aber auf der Oberfläche der Alltagskultur ging das Zeitalter von Konvention und Standardisierung zu Ende. Hier erhob sich der Individualismus selbst zu einer Art Norm, wodurch er allerdings die Funktion einer utopischen Alternative verlor.
Konvention mit negativem Vorzeichen
Unter der «Logik des Allgemeinen» wird der Einzelfall an einem gegebenen unveränderlichen Muster gemessen, und was dem nicht entspricht, ist zu verwerfen. Für die Menschen bedeutet das, sich den Konventionen anzupassen, alles Abweichende von sich wegzuschneiden und all jene auszugrenzen, welche das entsprechende Opfer verweigern. So entsteht eine Gesellschaft der konfektionierten Identitäten, in der Opportunismus und Duckmäusertum jede Eigenheit auslöschen. Das Schreckbild einer Welt, die unter der Knute eines mausgrauen «Man» steht und unter den Zwängen des Immergleichen erstarrt ist.
Davon versprach die individualistische Revolte über fast ein Jahrhundert hinweg Erlösung; doch genau die bleibt der real existierende, konkurrenzgetriebene Individualismus der Gegenwart schuldig. Und zwar darum, weil auch er die Einzelnen nicht wirklich zu sich selbst kommen lässt, sondern ihnen die permanente persönliche Differenzierung zwingend vorschreibt. So stellt er im Grunde nichts anderes dar als eine Konvention mit negativem Vorzeichen: Alle haben jetzt unausgesetzt ihre Eigenheit zur Schau zu stellen, um sich Respekt zu sichern – ein Programm, das seinem Wesen nach konsumistisch ist, weil es weitgehend über materielle Marker verläuft, über Produkte und Dienstleistungen nämlich, die einen vom Durchschnitt abheben sollen.
Das Perfide dabei: Diese allgemeine Jagd nach exquisiter Besonderheit lässt sich durchaus als lustvoll erfahren. Sie spricht nicht zuletzt das juvenile Abgrenzungsbedürfnis an und kann Freiheitsgefühle auslösen, die durch ihre Intensität rasch einmal süchtig machen. Der Spass ist allerdings nicht billig und dauert nur so lange an, als man ihn sich leisten kann. All denjenigen, deren ökonomische Spiesse zu kurz sind, bleibt ohnehin nur der Kater.
Teile und herrsche
Wirklich fatal ist aber etwas anderes: Unter der «Logik des Singulären» wird das Allgemeine an sich abgewertet. Das schlägt dann auch durch auf das Verhältnis, das wir zu Konzepten wie Objektivität, Faktizität oder Wahrheit unterhalten. Die heute verbreitete, teils obsessive Skepsis gegenüber der Wissenschaft ist von daher kein Zufall. Viele wollen vor allem eines: nicht mehr Durchschnitt sein, also nicht länger an gemeinschaftlichen Vorstellungen teilhaben. Da hilft es dann, in Schutzimpfungen übergriffige staatliche Zwangsmassnahmen zu sehen, obskuren Ernährungslehren oder neuesten Verschwörungstheorien anzuhängen. Auch alternative Fakten haben etwas Originelles. Hauptsache, man steckt nicht im Mainstream.
Sogar ein Grundpfeiler der demokratischen Ordnung kommt darüber ins Wanken: der Mehrheitsentscheid. Wer zur Mehrheit gehört oder sich contre coeur auf deren Meinung verpflichten lässt, hat nach der singularisierenden Logik immer schon seine Besonderheit verraten. Die lässt sich weit besser pflegen in Nischen, seien das politische oder private. Genau das führt in letzter Konsequenz zu zwei Phänomenen, die derzeit beunruhigen: zum Rückzug vieler aus dem öffentlichen Raum und zur Zersplitterung der Parteienlandschaft, welche den Handlungsspielraum der Parlamente verengt. Die könnten so – wie einst im Nazi-Jargon – als Schwatzbuden und damit überflüssig erscheinen.
Die verordnete Zwangsdifferenzierung, die uns aktuell als ultimative Freiheit verkauft wird, spielt in Tat und Wahrheit die Einzelnen gegeneinander aus und vereinzelt sie. Tief eingesenktes Konkurrenzdenken verhindert nicht nur die Bildung breiterer Solidaritäten, sondern zersetzt auch das Gespür für Verbindlichkeit, die den Augenblick überdauert. Beides wäre aber Voraussetzung für ein entschiedenes politisches Handeln, das sich zukunftsgerichtet den Herausforderungen der Gegenwart stellen könnte. So haben wir zwar einen Jahrmarkt der fast unbegrenzten individuellen Freiheiten, und trotzdem will kein rechtes Glück aufkommen. Denn über dem Tanz lastet für viele der Schatten realer Ohnmacht.
Ohne Alternative
Dass die traditionellen Volksparteien allerorts erodieren, wird einem Mangel an Visionen zugeschrieben, der Unfähigkeit, den Wählern Perspektiven aufzuzeigen. Für dieses Manko allerdings gibt es einen tiefen strukturellen Grund in der geistigen Verfassung der postindustriellen Gesellschaften, nämlich den Umstand, dass zentrale Konzepte der Gegenkultur von der marktliberalen Ideologie gekapert wurden. Über dieser unfreundlichen Übernahme ist die Differenz zwischen Realität und Utopie in sich zusammengebrochen, an der sich die Menschen über mehr als ein Jahrhundert hinweg orientieren konnten. Es gibt quasi kein Draussen mehr.
Ein Indiz für diese Verklumpung bildet die Leichtigkeit, mit der heute reformpädagogische Methoden in Bildungskonzepte integriert werden, welche junge Menschen für den Arbeitsmarkt fit trimmen sollen. Individualisierung ist zwar das Motto, doch es geht längst nicht mehr darum, die Einzelnen zu sich selbst zu bringen; Ziel ist vielmehr, durch eine Optimierung der individuellen Lernprozesse eine Effizienzsteigerung bei der Ausbildung zu erreichen. Was also einst emanzipatorisch angedacht war, dient aktuell der Funktionalisierung der Menschen.
In der herkömmlichen bürgerlichen Gesellschaft konnten alle, die unter den Anpassungszwängen litten, einen utopischen Leitstern finden, der Aufbruch versprach. Heute ist dieser Leitstern auf den Boden der Realität heruntergeholt, gewissermassen gebannt in die Virtualität einer Projektion, die den Besuchern des Planetariums täglich vorgespielt wird. Den Menschen, die sich in der «Gesellschaft der Singularitäten» als Verlierer fühlen, fehlt schlicht die Aussicht auf ein Anderes, welche Hoffnung wecken könnte. Wer aber keine Alternative sieht, wählt in aller Regel das ganz Falsche, in diesem Fall oft das Vorgestrige: autoritär-patriarchale Muster, religiöse Fundamentalismen oder die braunstichige Vorstellung von der Volksgemeinschaft. Es scheint in der Tat nur die Wahl zu geben zwischen einem perspektivlosen Status quo oder dem grossen Sprung zurück.
Der grüne Horizont
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Ziemlich unerwartet ist zwischen den Fronten der Liberalen und der Reaktion eine neue Kraft aufgetaucht, die dazu beitragen könnte, das fatale Patt zu durchbrechen. Die Umweltbewegung steht dem selbstbestimmten Individuum grundsätzlich offen gegenüber, sieht es aber als Teil eines grösseren Ganzen und entsprechend zu Rücksichten verpflichtet. Es wäre zu wünschen, dass die grüne Welle die Potentiale der juvenilen Absetzung auf eine neue Richtung hin mobilisieren und die Menschen für einen Individualismus gewinnen kann, der nicht den Kampf aller gegen alle bedeutet, der auch nicht mehr auf der schonungslosen Ausbeutung von Menschen wie der Natur basiert.
Das zumindest wäre eine neue Utopie, die eines ernüchterten Individualismus, der sich nicht länger am Taumel des Augenblicks berauscht, sondern bereit ist, Grenzen zu akzeptieren, ohne aber die Gesellschaften gleich einer neuen Kollektivierung zu unterziehen. Dieser Individualismus liesse Empathie zu genau wie Solidarität. Vor allem aber würde er sein Handeln an vernünftiger Einsicht orientieren, d. h. auf Nachhaltigkeit ausrichten. Es wäre ein Dritter Weg, angelegt auf eine Balance zwischen dem Allgemeinen und dem Singulären. So wäre er vielleicht in der Lage, die globale Öffnung mit der Begrenztheit des Planeten in Einklang zu bringen.