Diese Tatsache hat die bürgerliche Politik in der Schweiz lange ignoriert. Nun zeigen zwei neue rechtswissenschaftliche Studien umfassenden Handlungsbedarf auf.
Der Washingtoner Think-Tank Global Financial Integrity (GFI) schätzt, dass Entwicklungs- und Schwellenländern jährlich eine Billion Dollar durch unlautere Finanzflüsse verloren geht. Dazu gehören gemäss einer umfassenden Definition, der auch der Schweizer Bundesrat mittlerweile folgt, nicht nur Gelder aus Geldwäscherei und Korruption, also illegale Geldflüsse, sondern auch legale aus der Steuerhinterziehung von natürlichen und der Steuervermeidung von juristischen Personen.
Es geht hier also vor allem auch um Geld, das den Staaten entzogen wird, von diesen aber dringend benötigt würde, um eine ausreichende Finanzierung von Bildung, Gesundheit, sozialer Sicherung und Infrastruktur zu gewährleisten. Für die Finanzierung der Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 der UNO, die sich u. a. die Überwindung der Armut bis 2030 zum Ziel gesetzt hat, bräuchte es weltweit 5000 bis 7000 Milliarden Dollar jährlich. Zum Vergleich: Die gesamte weltweite Entwicklungszusammenarbeit hat aktuell ein Volumen von etwa 160 Milliarden Dollar pro Jahr.
Schweiz in der Verantwortung
Als eines der grössten Finanzzentren der Welt mit der höchsten Pro-Kopf-Dichte an Konzernsitzen spielt die Schweiz in der Bekämpfung der entwicklungsschädigenden unlauteren Finanzflüsse eine sehr wichtige Rolle. 2017 wurden hierzulande gemäss der Schweizerischen Bankiervereinigung ausländische Vermögen in der Höhe von rund 3000 Milliarden Franken verwaltet. Das entspricht einem Viertel aller weltweit im Ausland angelegten („Offshore“-)Vermögen. 25 Prozent des weltweiten Rohstoffhandels werden über die Schweiz abgewickelt, 2016 waren Schweizer Firmen gemäss den Zahlungsbilanzstatistiken der Schweizerischen Nationalbank (SNB) mit 1008 Milliarden Franken an ausländischen Firmen beteiligt und hielten konzerninterne Kredite in der Höhe von 547 Milliarden Franken.
Diese Zahlen zeigen: Das Risiko, dass Konzerne ihre Schweizer Firmensitze für Gewinnverschiebungen von Süd nach Nord und entsprechende Steuervermeidung auf Kosten des Fiskus in Entwicklungsländern nützen, ist gross. Gemäss Schätzungen des Internationalen Währungsfonds gehen den Ländern des Südens dadurch jährlich bis zu 200 Milliarden Dollar an potentiellem Steuersubstrat verloren.
Will die Welt die Ziele der Agenda 2030 in den nächsten zwölf Jahren erreichen, zu denen sich auch die Schweiz verpflichtet hat, ist sie auf die konstruktive und proaktive Mitarbeit der Schweizer Finanz- und Steuerpolitik angewiesen. Die Schweiz hat sich in den letzten zehn Jahren in diesem Bereich zwar zahlreichen internationalen Regulierungsregimen geöffnet und setzt die internationalen Mindeststandards in diesen Bereichen nach langem und zähem Widerstand mittlerweile auch um.
Der Bundesrat und eine Mehrheit des Parlaments blieben aber bisher auf die Frage, wie die Schweiz ihre spezifische Verantwortung als globales Finanzzentrum und wichtiger Konzernstandort für die Erreichung der UNO-Nachhaltigkeitsziele und der entsprechenden Bekämpfung von unlauteren Finanzflüssen wahrnehmen will, fast alle Antworten schuldig.
Postulate, Berichte, Studien
Im Parlament haben seit 2013 mehrere PostulantInnen verlangt, dass das Thema unlautere Finanzflüsse bzw. Steuerhinterziehung zulasten von Entwicklungsländern untersucht werden soll. Schliesslich verfasste das Staatssekretariat für Internationale Finanzfragen (SIF) im Oktober 2016 einen entsprechenden Bericht. Er betonte zwar die Wichtigkeit der Bekämpfung von unlauteren Finanzflüssen zu Gunsten einer nachhaltigen Entwicklung im globalen Süden und wie die entsprechenden bestehenden Engagements der Schweiz im Rahmen der OECD und der gesamten internationalen Zusammenarbeit der Schweiz zu erfüllen seien.
Die Empfehlung konkreter Schritte blieb aber aus. Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats (APK-N) verlangte daraufhin einen Zusatzbericht, der gemeinsam von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) im März 2018 vorgelegt wurde. Dieser fokussierte auf Schweizer Engagements „vor Ort“, also in den Entwicklungsländern, die im Rahmen der technischen Entwicklungszusammenarbeit des Seco stattfinden sollen und vor allem auf Korruptions- und Geldwäschereibekämpfung und die Transparenz von Kapitalflüssen in der Rohstoffbranche in den Zielländern abzielen. Eine Evaluation der Schweizer Steuer- und Finanzpolitik in der Schweiz im Hinblick auf die politische Kohärenz für nachhaltige Entwicklung und ihre negativen Auswirkungen auf die Länder des Südens blieben beide Berichte schuldig.
Zwei rechtswissenschaftliche Studien, die René Matteotti, der Zürcher Professor für Schweizerisches, Europäisches und Internationales Steuerrecht und Rechtsanwalt bei der Zürcher Kanzlei Baker und McKenzie und die Spezialistin für internationales Steuerrecht, Sathi Meyer-Nandi, im Auftrag der Deza kürzlich publizierten, liefern nun wichtige Grundlagen für eine weitere Diskussion zur globalen Verantwortung des Schweizer Finanzplatzes. Matteotti widmet sich in seiner Studie der „Integration der Entwicklungsländer in die schweizerische Politik zur Umsetzung des AIA [automatischer Informationsaustausch, Red.] und der BEPS-Massnahmen [Base Erosion and Profit Shifting, Red]“ und lotet dabei „Herausforderungen und Handlungsfelder“ aus. [1]
Matteotti macht gleich zu Beginn klar, dass die SDGs „nach Überzeugung aller internationalen Organisationen, welche sich mit entwicklungspolitischen Fragen auseinandersetzen, nur erreicht werden können, wenn die Entwicklungsländer ihr Steuersubstrat besser ausschöpfen. Der Fiskalpolitik kommt bei der Verwirklichung der SDG daher eine Schlüsselrolle zu.“ Im Vergleich zum Status quo der Schweizer Steuerpolitik sind vor allem Matteottis Empfehlungen zur Umsetzung des automatischen Informationsaustausches (AIA) mit Entwicklungsländern bemerkenswert. Er empfiehlt der Schweiz sogenannte AIA-Pilotprojekte mit einzelnen Entwicklungsländern, die bisher nicht in den Genuss des AIA-Systems mit der Schweiz kommen: „Bilaterale Pilotprojekte mit ausgewählten Staaten stellen für die Schweiz einen interessanten Weg dar, um ihr entwicklungspolitisches Engagement mit einzelnen Staaten zu vertiefen.“
Bisher hat weder die Deza, noch das Seco oder das Staatsekretariat für Internationale Finanzfragen (SIF) konkrete Schritte in diese Richtung angekündigt, obwohl andere OECD-Länder solche Projekte mit entsprechenden Partnerstaaten bereits seit mehreren Jahren unterhalten. Es ist also zu hoffen, dass die Empfehlungen des Zürcher Professors in Bundesbern auf offene Ohren stossen.
Einen Schritt weiter in Sachen Transparenz von Kapitalflüssen als Matteotti geht Sathi Meyer-Nandi in ihrer Studie mit dem Titel „Swiss Policy Coherence in International Taxation: Global Trends in AEOI [=AIA] and BEPS in Development Assistance and a Swiss Way Forward“. [2] Sie fordert die Schweiz auf, eine öffentliche Berichterstattung für multinationale Konzerne ins Auge zu fassen – ein sogenannntes „Public Country-by-Country-Reporting“ (pCbCR). Sie schreibt mit Blick auf die Stärkung lokaler Zivilgesellschaften und den Aufbau demokratischer „checks and balances“ im Bereich der Steuerpolitik: „Looking at the progressive development with regard to public CbCR in the EU, which will likely also effect Swiss headquartered companies with an EU presence, Switzerland should consider contemplating similar requirements. This would elevate Switzerland to being a progressive first adopter. From a development policy perspective, such move would be highly appreciated.“
Eine langjährige politische Forderung der globalen Steuergerechtigkeitsbewegung hat nun also ihren Weg in den wissenschaftlichen Vorstellungsrahmen des internationalen Steuerrechts gefunden. Auch hier darf man gespannt sein, wie Bundesbern auf diese Horizonterweiterung in einer der politisch einflussreichsten Forschungsgemeinschaften reagiert.
[1] Integration der Integration der Entwicklungsländer in die schweizerische Politik zur Umsetzung des AIA und der BEPS-Massnahmen: Herausforderungen und Handlungsfelder, René Mattioli, Archiv für Schweizerisches Abgaberecht, ASA 86, 2017–2018.
[2] Die Studie ist nach Anmeldung im Shareweb der Deza erhältlich.
- Dominik Gross ist Wirtschaftshistoriker und arbeitet als Verantwortlicher für Internationale Finanz- und Steuerpolitik bei Alliance Sud, der entwicklungspolitischen Arbeitsgemeinschaft von Schweizer Hilfswerken.
- Daniel Hitzig ist Medienverantwortlicher bei Alliance Sud.
- Alliance Sud ist die gemeinsame entwicklungspolitische Arbeitsgemeinschaft von sechs Schweizer Hilfswerken: Swissaid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas, Caritas und HEKS. Sie hat die Rechtsform einer einfachen Gesellschaft.