„Primitiv“, als Begriff in Zusammenhang mit Kunst gebraucht, kann man heute nur noch mit Anführungszeichen verwenden; Zeichen, die der Leserschaft zu verstehen geben sollen, dass man es nicht so meint, dass man das als „primitiv“ Bezeichnete im Gegenteil ganz unprimitiv, also raffiniert oder kunstvoll elaboriert verstanden haben möchte. Zu solchen akrobatischen Akten verpflichtet uns heute die political correctness, der es mitunter um Wortklaubereien zu gehen scheint – Sprachbefehle allein können ja tatsächliche Diskriminierungen nicht aus dem Weg räumen.
Die Kunst, um die es in den zwei Ausstellungen in Paris geht, von denen die Rede sein soll, ist anfangs des 20. Jahrhunderts entstanden. Die Inspiration, der sie zu verdanken ist und die geografische Situierung dieser Inspiration – Afrika zum einen, die Südsee zum anderen – machten, dass die zeitgenössischen, jedenfalls die positiv reagierenden Interpreten jener Kunstmanifestationen, arglos und selbstverständlich von den primitiven Quellen sprachen, aus denen die europäischen und amerikanischen Künstler schöpften, die übrigens auch selber, wenn sie sich schriftlich äusserten, bedenkenlos vom Einfluss des Primitiven in ihren Werken berichteten.
Gesucht: das Ursprüngliche
Das Ursprüngliche, Naturhafte, das Archaische und auch das Unzivilisierte wollten die Dadaisten aus der afrikanischen Kunst beziehen und für eigene Werke nutzen. „Dada Africa“ heisst die Ausstellung in der Orangerie (bis Februar 2018); sie beruht, um ein paar Schaustücke und um grössere Texte ergänzt, auf einer Ausstellung, die 2016 im Herzen des Dadaismus, in Zürich, im Rietberg Museum gezeigt wurde.
Nicht so sehr das Spielerische, Lustige, Infantile der Dada-Bewegung wird ins Zentrum der Ausstellung gerückt als vielmehr das Provokative, Zivilisationskritische, Dekonstruierte, um einen erst in den 60er Jahren aufkommenden, hier passenden Begriff zu benutzen. Das Verzweifeln an der Zivilisation, die den Ersten Weltkrieg nicht verhindern kann, spielt eine wichtige Rolle und als Reaktion die „Entdeckung“ Afrikas in Bild, Plastik, Musik, Tanz und Sprache, eine die Kolonisation kritisierende Begegnung, möglichst auf Augenhöhe. Frankreich mit seinen ausgeprägten kolonialen Interessen in Nord- und Westafrika zeigt in der Orangerie das doppelte Gesicht Afrikas in jener Zeit: einerseits sichtbar im starken Einfluss, den Kunst und Kultur des schwarzen Kontinents auf Künstler wie Picasso, auf Literaten wie den Begründer der surrealistischen Bewegung André Breton, auf Museumskuratoren, Galeristen und Sammler ausübten; anderseits manifest in der kruden Realität, die zum Beispiel darin bestand, dass Tausende von Senegalesen als Scharfschützen rekrutiert und ausgebildet wurden, um für Frankreich in den Krieg zu ziehen und zu sterben – ein ausserhalb Frankreichs wenig beachteter Fakt der Kriegsgeschichte, der in der Ausstellung dokumentiert wird.
Gauguin ein Alchemist?
Bis zum 22. Januar widmet der Grand Palais in Paris Paul Gauguin eine umfassende Ausstelllung, die den auf den ersten Blick befremdlichen Titel „Gauguin l’alchimiste“ trägt. Was hat Gauguin mit der Alchemie zu tun? Einer im Mittelalter florierenden Wissenschaft oder Pseudowissenschaft, der es um Chemie, ums Mischen von Stoffen ging, um das Entdecken des „Steins des Weisen“ oder, profaner, um den Versuch, Gold zu fabrizieren?
Die Ausstellung zeigt viele der berühmten Gauguin-Gemälde (die meisten aus dem nahe gelegenen Orsay-Museum entlehnt) und wegen ihnen stehen die Besucher vor dem Eingang des Museums, und später vor jedem Bild, Schlange. Aber die Ausstellungsmacher zielten höher, nahmen Gauguin, der sich – in Briefen und Erklärungen oft nachgewiesen – als Gesamtkünstler verstand, beim Wort. Er liess sich von allem inspirieren, von Farben, Formen, von Stein und Holz und Ton, von Musik und eben auch stark von der Kultur jener Südseebewohner, bei und mit denen er jahrelang lebte.
Als Künstler und Handwerker (als Kunsthandwerker) baute sich Gauguin sein Haus, schnitzte, bildhauerte, brannte dekorative und zum Gebrauch bestimmte Gefässe oder Skulpturen und hielt in den verwendeten Motiven Zwiesprache mit der symbolisch aufgeladenen, stark mythisch geprägten Welt der Eingeborenen. Der Alchemist Gauguin versuchte französische, europäische Tradition mit tahitianischer Primitivkunst zu verschmelzen, um dessen teilhaftig zu werden, was für ihn wie für viele seiner Zeitgenossen als Paradies galt. Ein Paradies, das in Wahrheit schon damals ein verarmtes, ein verlorenes, ein in mancher Beziehung krankes Insel-Ghetto war, was Gauguin am eigenen Leibe erfahren sollte.
Man kann im Grand Palais, wenn man Glück hat und sich einen Weg durch die mit Handys bewaffneten, fotosüchtigen neuen Kunstexperten zu bahnen vermag, Gauguins wunderbare Szenen, Porträts, Landschaften betrachten. Oder man konzentriert sich auf die weniger belagerten plastischen Objekte und versucht herauszufinden, was der Alchemist gefunden, verwendet, was ihm an den primitiven Vorbildern fasziniert – und was er selbst an Ursprünglichem daraus geschaffen hat.