Die Theorie der internationalen Beziehungen unterscheidet zwischen Real- und Idealpolitik. Kissinger war Realpolitiker, weil für ihn nur die realen Machtverhältnisse zählen. George W. Bush dagegen war Idealpolitiker, weil er die Welt nach seinen Vorstellungen gestalten wollte.
In einem grundlegenden Vortrag über eine europäische Friedensordnung vor der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik, kürzlich in der Aula der Uni Bern und auf Deutsch gehalten, versuchte sich unser Aussenminister in der Kunst, beides zu verbinden.
Europa braucht die Schweiz
Für Burkhalter hat die schweizerische OSZE-Präsidentschaft 2014 klar gezeigt, dass Europa schweizerische Beiträge nötig hat, was Sicherheit, Vermittlung und friedenserhaltende Initiativen anbelangt. Dass dies auch innenpolitisch solide verankert sei, zeige die hohe Zustimmungsrate von 78% der Schweizer, welche laut einer Umfrage der ETHZ solche Beiträge unterstützen.
Wie soll das aber real stattfinden? Primär via die OSZE und indem zunächst das - in 1990er Jahren vorhandene, aber seit Beginn des 21. Jahrhunderts wieder abhanden gekommene - gegenseitige Vertrauen in Gesamteuropa wiederhergestellt werden müsse. Eine unter der schweizerischen Präsidentschaft eingesetzte Expertengruppe, geführt vom deutschen Spitzenbeamten Ischinger, formuliert entsprechende Vorschläge, welche insbesondere die Verbindlichkeit von OSZE Strukturen und Beschlüssen verstärken sollen.
Neutralität für die Ukraine
In der Diskussion auf spezifische Punkte dazu angesprochen, sieht Burkhalter einen allgemeinen, internationalen Neutralitätsstatus für die Ukraine. Auf der Krim, im Moment in einem völkerrechtswidrigen aber international kaum beeinflussbaren Status Quo gefangen, seien einzelne OSZE-Organe aber bereit, den Rechten einzelner Bevölkerungsgruppen dort, so den Krimtartaren, mehr Nachdruck zu verleihen. Eine insgesamt doch eher idealpolitische Vorstellung zukünftiger europäischer Sicherheit und der schweizerischen Möglichkeiten, diese positiv beeinflussen zu können. Ob dies auch der Sicht jener Länder entspricht, welche von russischer Aggression direkter betroffen sind als die Schweiz, muss offen bleiben.
Auf die russische Politik unter Putin ging Burkhalter eher realpolitisch ein. Historisch müssten hier die Wurzeln der Ukrainekrise beachtet werden, welche in die Zeit unmittelbar nach 1990 zurückgingen. Das Vorrücken des Westens, via tatsächliche oder versprochene Mitgliedschaften in EU und Nato für einzelne osteuropäische Staaten sehe in der Sicht Moskaus nicht vertrauensbildend aus. Nötig sei jetzt, eine tragfähige Sicherheit mit Russland zu entwerfen, wofür zweitens der politische Wille aller nötig sei. Dies müsse drittens durch die OSZE und viertens auf allen Ebenen - kontinental, regional, lokal – gleichzeitig geschehen.
EU-Sanktionen übernehmen
Auf konkrete schweizerische Beiträge angesprochen, unterstrich Burkhalter, zentral sei, dass die Schweiz tätig werde. Wie sie das tue sei dann eher zweitrangig, so etwa ob eine Beschaffung von Lufttransportkapazität für die Schweizer Armee, zur logistischen Meisterung von friedenserhaltenden Massnahmen, im schweizerischen Alleingang oder im Verbund mit Österreich geschehe. Letzteres hat bekanntlich Verteidigungsminister und SVP-Politiker Ueli Maurer vor kurzem vorgeschlagen.
Wem dies noch etwas wenig spezifisch erschien, erhielt dann insbesondere mit Bezug auf schweizerische Teilnahme an internationalen Sanktionen gegen Russland eine recht klare, zweifelsohne eher realpolitische Antwort. An sich mache die Schweiz bei Uno-Sanktionen automatisch mit, nicht aber bei solchen der EU. In der Realität würden wir auch EU-Sanktionen weitgehend übernehmen, weil dies an den zwei Kriterien Völkerrechtswidrigkeit durch die boykottierte Partei sowie umfassenden schweizerischen Interessen gemessen werden müsse.
Burkhalters letzte Bemerkungen gingen dann über Europa hinaus. Anlässlich des letzten ‘Shangri-la Dialogue’, der wichtigsten informellen Sicherheitskonferenz im Grossraum Asien-Pazifik, habe die Schweiz an der OSZE orientierte Vorschläge für asiatische Sicherheitsstrukturen eingebracht, mit Blick auf die zunehmenden Spannungen im südchinesischen Meer. Ein idealpolitischer Schlusspunkt also für eine schweizerische Politik welche primär angebotsorientiert erscheint. Ob die internationale Nachfrage dem entspricht?