Wie alle anderen Weltgegenden wird auch Europa von der Pandemie heftig durchgeschüttelt. Gesundheitspolitik fällt noch weitgehend in die Kompetenz der Mitgliedstaaten der EU, die Wirtschaft nicht. „Brüssel“ spricht bei der Bewältigung der tiefsten Wirtschaftskrise seit dem 2. Weltkrieg ein gewichtiges Wort mit. Die Schweiz wird zuhören müssen.
Karlsruhe lag falsch
Das kürzliche Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) in Karlsruhe, dass Staatsanleihenskäufe der Europäischen Zentralbank EZB teilweise verfassungswidrig seien und damit Deutschland daran nur unter Auflagen teilhaben kann, war nach Ansicht vieler Kommentatoren juristisch falsch. Das BVerfG ist nicht zuständig, sondern das höchste europäische Gericht (EuGH). Wie im Journal21 bereits ausgeführt, https://www.journal21.ch/kopfloses-gericht, hat Deutschland als Mitglied der EU einen Teil seiner entsprechenden Souveränität an die Union abgegeben. Und hat damit anerkannt, dass die Urteile des EuGHs auch für Deutschland und deutsche Staatsbürger gültig sind. Souveränitätsgewinn durch Souveränitätsverzicht nennen das führende Staatsexperten, eingeschlossen in der Schweiz.
Wie die Basler Professorin für Europarecht Christa Tobler vor kurzem in der NZZ festgestellt hat, ist Recht „gegossene Politik“, es passt sich der gelebten, demokratisch beschlossenen Wirklichkeit an. Bekanntlich unterliegt auch die schweizerische Bundesverfassung (BV) den Wandlungen in der Zivilgesellschaft. Man denke nur an das Frauenstimmrecht, dessen Verweigerung jahrzehntelang im Einklang mit der BV erschien, welche später aber, in einer völligen Umkehrung und entsprechend einer grundlegenden Wandlung in der Gesellschaft, als Instrument zur Schleifung der letzten Verweigerungsbastion in Appenzell gedient hat.
Die Antwort von Merkel
Die deutsche Bundesregierung ihrerseits muss Karlsruhe antworten, allerdings ist die Art der Antwort politischer, nicht rechtlicher Natur. In ihrer gewohnten Art, Grundsatzentscheide nüchtern via praktische Sachlösungen zu fällen und zu kommentieren, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die für Europa positive Antwort ihrer Regierung bereits erteilt. Dies in Form der deutsch-französischen Initiative für einen EU-weiten Rettungsfonds („recovery fund“), der von der EU-Kommission aufgenommen, präzisiert und erweitert worden ist.
Danach wird die EU als Institution Darlehen am internationalen Markt aufnehmen und diese sowohl als direkte Zuschüsse wie auch als Darlehen den Mitgliedsländern zur Bekämpfung der pandemiebedingten Wirtschaftskrise zur Verfügung stellen. Der entsprechende Schuldenabbau wird über Jahre hinweg via EU-Gemeinschaftsbudget erfolgen. Allenfalls werden auch neue Abgaben zur Finanzierung beigezogen.
Nichts Neues
Dies ist keine „Vergemeinschaftung“ von Staatsschulden einzelner EU-Mitgliedsländer, sondern eine weitere Massnahme der EU, wie sie bereits in der Vergangenheit im Sinne des gesamteuropäischen Ziels der Organisation erfolgt sind. So etwa der Eurorettungsschirm ESM im Rahmen der Eurokrise. Es trifft zu, dass beim „recovery fund“ die Konditionen der Hilfe weicher ausfallen als bei früheren solchen Gelegenheiten, aber auch hier ist sie von Zweck und Zeit her beschränkt.
Die „Vier Geizigen“
Diese weichen Konditionen haben die „Vier Geizigen“ (Österreich, Holland, Dänemark und Schweden) zum Anlass genommen, ihre Opposition gegen direkte Finanzhilfe (sogenannte „grants") via Brüssel anzumelden. Bei Niederschrift dieser Zeilen ist der Ausgang dieses Seilzeihens innerhalb der EU noch ungewiss.
Wäre ich ein Spieler, würde ich mein Geld nicht auf Kanzler Kurz setzen, den Anführer der Vier. Zuviel steht auf dem Spiel, auch in historischer Perspektive, wie das symbolische – den Umständen entsprechend virtuell inszenierte – Nebeneinander von Macron und Merkel bei der Ankündigung ihres Vorschlages deutlich machte. Die deutsch-französische Achse rollt immer dann, wenn der Einsatz für Europa besonders hoch ist. Nichts deutet darauf hin, dass sie dieses Mal aufgehalten werden könnte.
Wie würde die Schweiz als EU-Mitglied handeln?
Schliesslich die interessante Frage, wie sich die Schweiz als EU-Mitglied hier verhalten hätte. Wäre sie unter Führung des europhoben Kassenwartes Ueli Maurer zum Lager der Geizigen gestossen? Oder hätte sie als direkter Nachbar von drei Nachbarländern, welche den Fonds begrüssen, sich auf die Seiten jener geschlagen, welche eine wirtschaftliche Erholung in der gesamten EU, eingeschlossen ihres Südens, als höchstes Ziel anerkennen?
Die gesamte EU ist der weitaus wichtigste Wirtschaftspartner der Schweiz. Zudem: Wichtige Beschäftigungs- und Wachstumsmotoren der Schweiz im Grenzgebiet sind zwingend auf prosperierende Nachbarschaft angewiesen. Dazu zählen das Dreiländereck Hochrhein mit Basel als Zentrum, der Grossraum „Lémanique“ mit Genf als Zentrum, der Grossraum Lombardei mit dem gewichtigen Seitenwagen Tessin sowie die Bodenseeregion, wo vier Länder zusammentreffen, eingeschlossen Liechtenstein mit seiner weit überproportional zur Grösse liegenden Wirtschaft.
Nicht hypothetisch
Hypothetisch dürfte die Frage, auf welche Seite sich die Schweiz schlagen würde, deshalb nur im Moment sein. Es ist abzusehen, dass alle Teilnehmer am europäischen Binnenmarkt, eingeschlossen die Schweiz, an der einmalig gewaltigen Aufgabe der aktuellen Krisenbewältigung mitwirken müssen. So wie anlässlich der Osterweiterung der EU rasche Aufholhilfe an die neuen osteuropäischen Mitglieder, damit Teilnehmer am Binnenmarkt, im Interesse aller waren. Und sich damit auch alle an diesen Kohäsionsfinanzierungen beteiligen mussten.