Tim Guldimann diskutiert mit dem ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck und der Autorin und Verfassungsrechtlerin Juli Zeh
Joachim Gauck stellt klar, dass er «den apokalyptischen Grundton» meines provokativen «Eingangsstatements so nicht teile. Wenn ich das höre, denke ich, was will ich, Selbstmord oder einen Führer. (…) Wenn man die Angst, wie es in Deutschland einige tun, zu einer Nationalkultur erhebt, dann ist Zukunft weit weg. (…) Ich musste über 70 werden, als ich zum ersten Mal mit Blick auf das Land das Wort Stolz in den Mund genommen habe, nicht Stolz, wie die Rechten sagen (…), sondern ich bin stolz auf DIESES so gewordene Deutschland, das sich aus diesem tiefsten Fall heraus zu einer beeindruckenden Form von Rechtsstaatlichkeit, von Rechtstreue der Bevölkerung, von Wahrung der Menschenrechte, von Schaffung von Wohlstand … und von der Friedenspolitik, dass wir überall Freunde haben um uns herum, vom Abschied von preussischer Arroganz.» – Ein stolzer Verfassungspatriot also? – «Ja, und wir brauchen zu diesem Verfassungspatriotismus, der für intellektuelle Menschen ganz wesentlich ist, einen Raum. Tucholsky hat Heimat einmal so benannt: Es gibt Situationen, da sagst du DU zu dem Ort, wo du bist.»
Juli Zeh ergänzt: «Es sind nicht nur die Bäume und die Meere und die Felder, die dieses Gefühl, Du sagen zu können zu seinem Land, befördern, sondern es muss so eine Art stumme, ungeschriebene Vereinbarung noch dazu kommen, die eben nicht in der Verfassung niedergelegt ist (…) so in einer Art vorpolitischem Raum. Es gibt diesen tollen und ganz gruseligen Satz vom Verfassungsrichter Böckenförde: ‘Die Demokratie beruht auf Voraussetzungen, die sie selber nicht schaffen kann‘. (…) Es ist so etwas wie eine stumme Einverständniserklärung, dass wir als Bürger dieses Landes ein sich selbst verwaltendes Kollektiv sind, das irgendwie zusammengehört. Und das ist so etwas wie der Punkt, an dem wir zurzeit spüren, (…) dass so eine Art Erosion einsetzt, dass viele Leute anfangen, sich un-beheimatet zu fühlen. Was darauf aber auf keinen Fall die Antwort sein kann, sind konkurrierende Apokalypseerzählungen (… als) Versuch, sehr komplexe Dinge einfach zu machen. (…) Mit Klima geht das einher, es geht aber auch einher mit der bedrohten Demokratie, (…) die ganz Rechten haben ihre eigene Erzählung, die heisst dann Überfremdung, Umvolkung, oder von liberaler Seite: ‘Die Freiheit ist zu Ende’ (…) Wenn ich eine Apokalypse habe, dann ist die Analyse fertig und dann ist auch die Frage, was muss sich denn tun, schon beantwortet: Die Antwort ist dann: alles und um jeden Preis.»
Für Gauck geht es «um Menschen, die Angst haben, nicht mehr beheimatet zu sein dort, wo sie leben. Dann entstehen Suchbewegungen (…) und dann geht es nach rechts aussen und dort werden dann diese Ängste bewirtschaftet.» In «einer sich fortentwickelnden Moderne ist es eine Unbehaustheit dessen, der behaust sein will, der Verlust des Vertrauten. (…) Man hat zu wenig gearbeitet am ideellen Wert der Dinge und sich stark darauf verlassen, dass dieses Wachstumsversprechen genug Bindungswirkung und Strahlkraft hat.»
Gauck zitiert Wilhelm Busch: «‚Nur was wir glauben, wissen wir gewiss.‘ (…) Das so zu erzählen, dass es eine persönliche wie politische Beheimatung bietet, das ist die Aufgabe derer, die die Zeiten zu deuten haben.» – Dazu Zeh: «Was halt nicht gut ist, wenn man versucht, (…) diesen Glauben an genau dieses Wertefundament in gewisser Weise zu erzwingen oder zumindest zu befördern, indem man ihm eine Feinderzählung gegenübersetzt.» Es brauche «eine positive Erzählung, um den Menschen wieder klarzumachen: Guck doch, wir sind doch eine Rechtsgemeinschaft und es gibt Bedrohungen, wir müssen uns zusammenschliessen, wir müssen das verteidigen.»
Schliesslich gehe es, so Juli Zeh weiter, darum, «uns zu erlauben, einfach mal zu sehen, was gut ist, die Zeitfenster grösser fassen, die humanistische Fortschrittserzählung, nicht die ökonomische, die sich nicht über 20, sondern über 200 oder 300 Jahre erstreckt: Es ist tatsächlich so, so vieles ist besser geworden und es steht nirgendwo geschrieben, dass das jetzt an einen Endpunkt gelangt ist. Es ist ein narzisstischer Reflex zu sagen, wir sind aber die letzten, nach uns kommt nichts mehr, es kann nicht mehr besser werden als das, was wir waren.»
Journal21 publiziert diesen Beitrag in Zusammenarbeit mit dem Podcast-Projekt «Debatte zu dritt» von Tim Guldimann.