Noch vor acht Jahren mutmasste J. D. Vance, Donald Trump könnte Amerikas Hitler werden. Nun ist der Junior Senator aus Ohio Trumps Vizepräsidentschaftskandidat für die Wahl im Herbst – eine erstaunliche politische Konversion.
Die enthusiastisch begrüsste Ankündigung am Parteitag der Republikaner in Milwaukee, dass Donald Trump den 39-jährigen J. D. Vance zum Vize erkoren hatte, war erst wenige Stunden alt, als auf dem Mail-Konto bereits ein neuer Spendenaufruf Joe Bidens eintraf. Er hasse es, zu fragen, stand da, aber es gebe keinen besseren Zeitpunkt für den Empfänger, seine erste Spende zu tätigen, um ihn und Kamala Harris wiederzuwählen: «Wie kann ein Mann, der Donald Trump und seine Politik als ‘verwerflich’ bezeichnet hat, Donald Trumps (Vize-)Kandidat werden? Indem er jahrelang Donald Trumps extreme MAGA-Agenda abgesegnet hat.»
J. D. Vance hat seine Konversion in einem Interview mit der «New York Times» erläutert. Er habe lernen müssen, dass konservative Trump-Gegner Donald Trump hassten, weil er – genau wie die linke Elite – in ihren Augen eine Gefahr für jene Verhältnisse in Amerika darstellte, von denen sie stets profitiert hatten: «Wie viele konservative und liberale Angehörige der Elite habe ich mir erlaubt, mich stark auf Trumps stilistisches Element zu fokussieren und dabei zu ignorieren, dass er in den Bereichen der Aussenpolitik, des Handels und der Einwanderung eine ganz andere Politik propagierte.»
Kein Gesetz, nur Macht
So habe er, verrät J. D. Vance, 2020 für Donald Trump gestimmt, der ihm 2022 neben dem Milliardär Peter Thiel aus Silicon Valley wesentlich geholfen hat, als Vertreter Ohios in den US-Senat gewählt zu werden. Inzwischen habe er auch realisiert, dass die Vertreter der liberalen Elite alle den Nazi-Juristen und Völkerrechtler Carl Schmitt (1988–1985) gelesen hätten, dem zufolge es «kein Gesetz, sondern nur Macht» gibt.
Die Liberalen hätten sich dafür stark gemacht, alle abweichenden Meinungen zu zensieren: «2020 äusserte sich diese Stimme (im Kopf) absolut tyrannisch. Man durfte nichts mehr sagen. Jemanden zu beleidigen, war ein Gewaltakt. Ich glaube, viele unter uns sagten sich: ‘Wir haben genug davon. Wir machen bei diesem Spiel nicht mehr mit und wir weigern uns, uns überwachen zu lassen für alles, was wir denken und was wir sagen.’»
Autor eines Bestsellers
Noch 2016 hatten selbst Liberale und Linke J. D. Vance nach dem Erscheinen seines Buches «Hillbilly Elegy» gelobt. Die Autobiografie, auch von Netflix verfilmt, erzählt die Geschichte eines Jungen, der unter schwierigen Verhältnissen bei der Grossmutter in einer dem Untergang geweihten Stahlstadt der Appalachen aufwächst, weil seine Mutter drogensüchtig ist. Kritikern zufolge erklärt der Bestseller, weshalb 2016 viele Arbeiterinnen und Arbeiter wirtschaftlich zurückgebliebener Gegenden Donald Trump und nicht wie früher die Demokraten wählten. Hillary Clinton verkörperte deren inzwischen als abgehoben wahrgenommene Politik. Er sei damals, sagt Vance heute, fälschlicherweise nur als Erklärer des Status quo statt als dessen Kritiker gesehen worden.
Er möge Donald Trump persönlich, sagt J. D. Vance. Der Ex-Präsident habe ihn während des Senatswahlkampfs in Ohio angerufen, nachdem eine negative Story über ihn erschienen sei. Er habe ihn gelobt, ihn ermutigt, wie bisher weiterzumachen, und geraten, nicht zu vergessen, dass es «da draussen eine Menge Liebe» gebe: «Er (Trump) ist viel komplexer, als die Medien zuzugeben bereit sind. Die Leute denken, diesen Kerl würden allein persönliche Ressentiments und Machtgier antreiben und dass er nur Präsident werden will, um Amerikas Demokratie zu zerstören. So ist er überhaupt nicht.»
Verfechter der MAGA-Agenda
Auf jeden Fall hat J. D. Vance wie kein anderer aus dem Kreis der Vize-Anwärter in der Vergangenheit am meisten getan, um Donald Trumps Gunst zu gewinnen. So hat er auch dessen MAGA-Agenda vorbehaltlos zu seinem Programm gemacht. Er geht mit der Wahl-Lüge des Ex-Präsidenten einig und sagt, er hätte am 6. Januar 2021, wäre er damals Vizepräsident gewesen, anders als Mike Pence den Urnengang 2020 nicht zertifiziert.
Im Senat unterstützte Vance 2022 einen Gesetzesvorschlag, der landesweit die Abtreibung nach 15 Wochen verbietet. Er bejaht auch Trumps Verschwörungstheorie, Joe Biden habe mexikanische Drogenkartelle ermutigt, Fentanyl, ein synthetisches Opioid, in die USA zu importieren, um republikanische Wählerinnen und Wähler zu töten. Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe seitens von Donald Trump hält er für nichtig.
Kein Freund von Big Business
J. D. Vance beklagt den Einfluss von Big Business und plädiert für eine rigorose Anti-Kartell-Gesetzgebung – nicht unbedingt Stellungnahmen, die ihn bei jenen Republikanern beliebt machen, denen das Wohlergehen der Wirtschaft und «der Fundamentalismus des Marktes» traditionell am Herzen liegt.
«Trumps Aufstieg hat es einer populistischen, aggressiven Fraktion der republikanischen Partei (GOP) erlaubt, sich in wirtschaftlichen Angelegenheiten abzuspalten, und Vance ist einer der Anführer dieser populistischen Fraktion», sagt Bruce Riedl, Vertreter einer Mitte-Rechts-Denkfabrik in New York: «Trump ist in Sachen Wirtschaft wesentlich populistischer und befürwortet freie Märkte weniger als herkömmliche Republikaner und Vance hat sich stark gemacht, um diesen populistischen Flügel der GOP zu unterstützen.»
Ein unbelegter Vorwurf
J. D. Vance, argumentiert ein Leitartikel der «Washington Post», mache genau das, was die Republikaner den Demokraten vorwerfen würden: die Macht zu instrumentalisieren. So hat er jüngst Donald Trumps Ankündigung begrüsst, einen Sonderstaatsanwalt einzusetzen, um Präsident Biden zu verfolgen. Er unterstützt auch Trumps Pläne, den Beamtenapparat in Washington DC zu säubern und das Oberste Gericht zu ignorieren, falls es ein solches Vorhaben als illegal einstufen sollte. Im Senat hat er 2023 einen Gesetzesvorschlag eingebracht, der Englisch in Amerika zur Amtssprache machen würde.
Und nicht ganz im Sinne der Aufrufe zu Versöhnlichkeit nach dem Attentat auf Donald Trump hat Vance Joe Biden ohne jeglichen Beleg vorgeworfen, seine Rhetorik habe «direkt zum Mordversuch an Präsident Trump» geführt: «Es ist die zentrale Prämisse von Bidens Wahlkampf, dass Präsident Donald Trump ein autoritärer Faschist ist, der mit allen Mitteln gestoppt werden muss.»
Gegen mehr Ukraine-Hilfe
Voll auf Trumps Linien liegt J. D. Vance auch in Sachen Aussenpolitik. «Es kümmert mich nicht wirklich, was mit der Ukraine auf die eine oder andere Art geschieht», hat er 2022 in einem Podcast gesagt. Es wäre besser, meint er, Taiwan zu helfen, sich gegen China verteidigen zu können: «Wir tun das nicht, weil wir alle verdammten Waffen in die Ukraine und nicht nach Taiwan liefern.»
Amerikas Denken punkto Ukraine, sagt er im Interview mit der «Times», sei stärker von moralischen als von strategischen Überlegungen geprägt. Ihm zufolge könnte eine Lösung des Konflikts darin bestehen, den jetzigen Frontverlauf mehr oder weniger einzufrieren und gleichzeitig Kiews Unabhängigkeit und Neutralität zu gewährleisten. Dabei könnte seine Zurückhaltung, sich in fremde Händel einzumischen, auch auf seiner Erfahrung als Marineinfanterist im Irak beruhen.
Politisch unerfahren
Eine Mehrzahl von Kommentatorinnen und Kommentatoren in den USA sind sich einig, dass die Wahl von J. D. Vance durch Donald Trump eher auf dessen persönlichen statt auf strategischen Überlegungen beruht, denn anders als etwa der Latino Marco Rubio aus Florida dürfte der Senator aus Ohio nur einen begrenzten Kreis von Wählerinnen und Wählern oder die Wählerschaft bestimmter Bundesstaaten zusätzlich ansprechen. Auch gilt er nach nur eineinhalb Jahren im Senat als politisch unerfahren.
Eher, heisst es, sei es dem Ex-Präsidenten darum gegangen, einen engagierten Nachfolger für seine Agenda zu finden, unter Umständen auch für die Wahl 2028, falls «König» Trump, 2024 gewählt, dannzumal nach zwei Amtszeiten in der Tat zurücktreten würde. Joe Biden hat denn J. D. Vance bereits «einen Klon Trumps» genannt, was dessen Politik betrifft. Auf jeden Fall dürfte Vance kaum viel dazu beitragen, viele Wählerinnen zu gewinnen. So hat er gegen Frauen gewettert, die kinderlos bleiben, denen es deswegen schlecht gehe und die nun auch den Rest des Landes unglücklich machen wollten.
Schlimmer als Trump?
Im «Never Trump»-Lager gibt es auch Stimmen, die J. D. Vance schlimmer finden als Donald Trump. Zwar sei er wie Trump, aber kompetenter, einer, der seinen neoliberalen Hintergrund als Absolvent der Rechtsfakultät der Yale University mit der populistischen Persona eines Kids aus der Arbeiterklasse in Middletown (Ohio) verbinde. Gleichzeitig aber sei es möglich, dass diese Persona eine Täuschung und Vance in Wirklichkeit jemand sei, der um jeden Preis an die Macht und regieren wolle, sobald Trump von der Bühne abtritt.
Vance, meint «New York Times»-Kolumnistin Michelle Goldberg, habe sich selbst überzeugt, dass er mit seinem Aufspringen auf den MAGA-Zug diabolische Kräfte im Lande bekämpfe und er sich um liberale demokratische Werte nicht zu kümmern brauche, die ja seine Gegner bereits verraten hätten. Während Trump impulsiv handle, meint ihr Kollege David French, habe Vance eine Ideologie: «Mehr als jeder andere Politiker hat er etwas dafür getan, aus MAGA-Bedenken und Ressentiments etwa Kohärentes zu zimmern. Er will nicht nur Macht. Er will sie auch nach seinen Vorstellungen ausüben.»