Je nach Jahreszeit und Wetter versammeln sich im Park am Guangqumen-Tor in Peking 40 bis 60 Rentnerinnen und üben sich bei lauter bis dröhnender Musik unter Anleitung eines Vortänzers und einer Vortänzerin im Gruppentanz. Beine werden unisono im Takt traditioneller Musik oder auch Popsongs bewegt, Arme geschwenkt und Körper verrenkt. An Feiertagen führt die Gruppe dann unter reger Anteilnahme des werten Publikums ihre Tanzkünste vor, traditionell gekleidet und bunte Fächer schwenkend. Was im Guangqumen-Park morgens und abends fast täglich abläuft, wiederholt sich mitten im Stadtzentrum im lieblichen Ritan-Park sowie auf hunderten von andern öffentlichen Flächen und Parkanlagen in der 22-Millionen-Metropole Peking.
100 Millionen Tänzerinnen
Der Tanz der alten Damen auf öffentlichem Grund ist in den letzten Jahren in ganz China zu einem Massen-Phänomen geworden und heisst „Guang Chang Wu Da Ma“ (wörtlich: Tanz älterer Frauen auf öffentlichen Plätzen). Nach Schätzungen der Sonnen-Tageszeitung aus dem südlichen Shenzhen vollführen rund 80 Millionen alte Frauen landesweit diese die Gesundheit und das seelisches Wohlbefinden mehrenden Übungen. Das Zentrale Staatsfernsehen CCTV geht gar von 100 Millionen Seniorinnen aus, die öffentlich das Tanzbein schwingen.
Nun regt sich, ebenfalls landesweit, Widerstand. In den Medien wird das Thema kontrovers und mit viel Herzblut abgehandelt. Was meist kritisiert wird, sind Lärm-Immissionen, denn die aus alten, billigen Lautsprechern und Abspielgeräten scheppernde, oft überlaute Musik stört am Abend die Anwohner. Obwohl Chinas Städte viel öffentlich zugänglichen Raum und gut gepflegte Parks haben, wird – so ein weiterer Kritikpunkt – der Platz knapp. Auch soll es immer wieder zur Behinderung des Auto- und Veloverkehrs kommen.
„Störung der öffentlichen Ordnung“
Einige Lokalregierungen haben bereits gehandelt. Guangzhou (Kanton), die Hauptstadt der boomenden Südprovinz Guangdong, will ein Gesetz erlassen, das „Ruhezonen“ ohne Lärm und Musik festlegen soll. In Xi’an, der Hauptstadt der nördlichen Provinz Shaanxi, wird mit 200 Yuan (umgerechnet 28 Franken) Busse belegt, wer auf Strassen, Plätzen und Parks zu viel Lärm erzeugt. Einige Dama-Gruppen sind selbst aktiv geworden. So tragen nach Presse-Berichten in der 35-Millionen-Metropole Chongqing in Zentralchina Tänzerinnen drahtlose Kopfhörer. Für die Zuschauer sind die sich bewegenden Alten ohne jegliche Musik dann doch eher bizarr anzusehen. An vielen Orten wurde aber auch zwischen Damas und von Lärm betroffenen Anwohnern diskutiert und ganz ohne Behörden eine für alle tragbare Lösung gefunden.
Bereits ist es an vielen Orten aber auch zu handfesten Auseinandersetzungen gekommen. Die Polizei schlichtet je nach Umständen bei „Störung der öffentlichen Ordnung“ mit mehr oder weniger Gewalt. Recht wirksam erwies sich meist auch der Einsatz der Feuerwehr. Nach der kalten Dusche war oft nullkommaplötzlich der kommunale Friede wieder hergestellt. Eine unter Anwohnern beliebte Methode wiederum, den Tanzmusik-Lärm zu eliminieren, ist das Werfen von mit Wasser gefüllten Plastiksäcken auf die Vortänzer, und wenn das nicht wirkt auf alle alten Damen.
Wissenschaftliche Choreographie
Eine von der Ost-Chinesischen Universität und der Rechts-Tageszeitung durchgeführte Umfrage in der Finanz- und Wirtschaftsmetropole Shanghai zeigt, dass mehr als die Hälfte der Befragten der Ansicht ist, dass öffentlicher Gruppentanz zu „Lärm-Verschmutzung“ und „Verkehrsstaus“ führe. Bei solchen Umfrage-Werten ist in China, wie anderswo (so auch in der Schweiz), der regulierende Staat nicht mehr weit. Die Kultur- und Sportbehörden waren also gleich zur Stelle und zu allem bereit.
Ein Gremium mit Sportlehrern, Choreographen, Tänzern, Gerontologen und einem breiten Sortiment von weiteren „Experten“ nahmen sich der Sache an. Die „Allgemeine Sportverwaltung“ des Reichs der Mitte sowie die zuständigen Bürokraten im Kulturministerium erliessen darauf zwölf offizielle Tänze, die in allen 31 Provinzen und den vier direkt der Regierung unterstellten Städte Peking, Shanghai, Chongqing und Tianjin in den nächsten Monaten eingeführt werden sollen. Zu korrekter Unterweisung der „wissenschaftlich choreographierten“ Tänze erhalten die Dama-Gruppen ein eigens zu diesem Zweck produziertes Video.
„Wir tanzen, was immer wir wollen“
Ein Sturm der Entrüstung unter den engagierten alten Damen fegte übers Land, unterstützt nicht selten von kämpferischen Presse-Kommentaren, aber auch einem Shitstorm auf dem Internet. Die Botschaft der Alten ist klar: „Wir tanzen, was immer wir wollen, dass geht die Regierung überhaupt nichts an“ oder „wir können unsere eigenen Tänze kreieren, das haben wir in der Vergangenheit getan und werden es auch in der Zukunft tun“. Eine ältere Frau, die das Demonstrations-Video der Behörden sich angeschaut hat, äusserte sich eindeutig: „Junge Leute zwischen zwanzig und dreissig tanzen uns etwas vor, wir aber sind fünfzig, sechzig oder gar über siebzig Jahre alt, wir halten da nicht mehr mit, und im übrigen sind die zwölf Standard-Tänze zu kompliziert“.
Die Behörden, vom vehementen Echo überrascht, schlugen bald sanftere Töne an. In den Medien – so die Bürokraten – sei übersehen worden, dass die zwölf Standard-Tänze keineswegs obligatorisch seien. Da „wissenschaftlich erarbeitet“, seien die vorgeschlagenen Choreographien aber der Gesundheit und dem allgemeinen Wohlbefinden dienlich. Klar sei freilich auch, fügte ein Beamter des Kulturministeriums hinzu, dass zum Wohle aller Richtlinien ausgearbeitet werden müssten über Lautstärke der Musik, über Zeitrahmen und Orte der Übungen.
Alte sind in China Alte
Die Kontroversen um die Tanzgruppen der alten Damen haben einen ernsthaften Hintergrund. Die chinesische Gesellschaft altert in schnellem Tempo. Die mittlere Lebenserwartung hat sich seit der Gründung der Volksrepublik 1949 mehr als verdoppelt und beträgt heute 74,5 Jahre. Nach offiziellen Statistiken befinden sich heute bereits über 200 Millionen Chinesinnen und Chinesen oder gut 15 Prozent der Bevölkerung im Ruhestand. Die Zahl wird sich in den nächsten 30 Jahren mehr als verdoppeln. Die Renten sind schmal und die Finanzierung in Zukunft um einiges schwieriger als in den entwickelten Industriestaaten. Anders ausgedrückt: China wird alt bevor es reich wird, die Schweiz hingegen war reich bevor sie alt wurde.
Die Alten werden im übrigen in China immer noch Alte genannt und nicht mit dem euphemistischen Ausdruck „Senioren“ ruhig gestellt. Meister Kong (Konfuzius) nämlich lehrt, die Alten und die Eltern zu ehren. Doch auch dieses konfuzianische Gebot geht im rapide sich entwickelnden, urbanen China langsam verloren. „Die alten Leute sind heute in China besser gebildet als früher und wollen das Alter kreativ gestalten“, sagt Du Peng, Vorsteher des Instituts für Gerontologie an der Pekinger Renmin-Universität. Ihre emotionalen Bedürfnisse und ein Zugehörigkeitsgefühl in den grossen, anonymer werdenden Städten könnten die Alten zum Beispiel in den spontan sich bildenden Dama-Tanzgruppen finden.
„China ist schön“
Im Guangqumen-Tor in Peking wird derweil weiter getanzt. Nach eigener Choreographie. Die alten einheitlich bunt gekleideten Damen lächeln, während sie sich lieblich-anmutig bewegen, die einen mit roten, die andern mit grünen Fächern in der Hand. Zwei aktuelle Gassenhauer – der „Kleine Apfel“ und „China ist schön“ - tönen mit unterdessen dezenter eingestellter Lautstärke über den Platz. Wie die Damas am Guangqumen beispielhaft demonstrieren, geht es in der Rentnerfrage nicht nur um Geld, sondern noch viel mehr um Gefühle, Kreativität, soziale Zugehörigkeit und körperliches Wohlbefinden.