Amerikas Bundesverwaltung, noch nie für ihre Sensibilität bekannt, unterscheidet zwischen «entbehrlichen» und «unentbehrlichen» Beamten. Weil sich Anfang Woche Repräsentantenhaus und Senat in Washington DC nicht auf einen Budgetkompromiss einigen konnten, sind 800‘000 «entbehrliche» Bundesbeamte zwangsbeurlaubt worden, während 1,3 Millionen «unentbehrliche» Beamte sowie 1,4 Millionen Angehörige der US-Streitkräfte weiter arbeiten.
Entbehrliche und Unentbehrliche
Als weitgehend «entbehrlich» gelten zum Beispiel die Mitarbeiter der Weltraumbehörde NASA (zu 97 Prozent), des Ministeriums für Wohnungs- und Städtebau (zu 95 Prozent), des Umweltschutzamtes (zu 94 Prozent) oder des Handelsministeriums (zu 87 Prozent). Im Pentagon werden immerhin noch rund die Hälfte aller 800‘000 zivilen Angestellten freigestellt; ähnlich im Gesundheitsministerium: 52 Prozent von 78‘198 Beamten. Der National Park Service schliesst mehr als 400 Nationalpärke und Museen, unter ihnen Yosemite in Kalifornien, Alcatraz in San Francisco oder die Freiheitsstatue in New York.
Als eher «unentbehrlich» dagegen gelten die meisten Mitarbeiter der Geheimdienste und der Nationalbank, die Beamten des Justizministeriums (zu 85 Prozent) oder des Transportministeriums (zu 67 Prozent). Auch das Aussenministerium arbeitet lediglich mit leicht angezogener Handbremse, wovon allerdings die Botschaften im Ausland nicht betroffen sind. Anders als in früheren Fällen sollen Visumsanträge weiterhin ohne Verzug bearbeitet werden.
Betroffene werden teils noch bezahlt (Soldaten), teils arbeiten sie vorerst ohne Salär (Zivilisten). Eine halbe Million Mitarbeiter der Post erfüllen ebenfalls weiterhin ihre Aufgabe. Wie lange der Zwangsurlaub und die unbezahlte Tätigkeit dauern, ist offen. Der letzte Shutdown, unter Präsident Bill Clinton, dauerte 1995/96 drei Wochen. Indes hat es in den 70er-Jahren sechs solcher Betriebseinstellungen gegeben, die alle länger als eine Woche anhielten.
Blockade der Tea Party
An sich könnte der Shutdown jeden Tag dank gesunden Menschenverstands beendet werden. Doch dass im stolzen US-Kongress plötzlich Vernunft einzieht, ist wenig wahrscheinlich. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ein Verfassungszusatz garantiert, dass die 535 Abgeordneten und Senatoren im US-Kongress ihren Lohn weiterhin erhalten, obwohl sie eigentlich ihre Arbeit nicht machen. Ein amerikanischer Bundespolitiker verdient 174‘000 Dollar im Jahr.
Zumindest vorläufig haben Amerikas Querköpfe politisch wenig zu befürchten. Vor allem die Republikaner (aber nicht nur sie) haben in den einzelnen Staaten die Wahlkreise so clever gezogen, dass die Wiederwahl ihrer Vertreter jeweils praktisch gesichert ist. Konkurrenz droht nicht von der gegnerischen Partei, sondern von Betonköpfen aus den eigenen Reihen, im Falle der Republikaner aus der Tea Party. Die Furcht vor einer Niederlage in der parteiinternen Vorwahl lässt Republikaner, mitunter auch widerwillig, nach rechts rücken.
Die republikanischen Fundamentalisten verweigern sich in Washington DC jeglichem Kompromiss. Ihnen geht es nicht um das Wohl der Nation, sondern allein um das Durchsetzen ihrer abstrusen Vorstellungen. Unter diesen ist in erster Linie kein Platz für eine nationale Krankenversicherung, wie sie Barack Obama in der ersten Amtszeit als sein wichtigstes Vorhaben lanciert hat. Also tun sie alles, um die Gesundheitsreform zu Fall zu bringen – um jeden Preis, auch um den der Lähmung des Staatsapparates. Der Shutdown wiederum trifft nicht den Präsidenten, sondern normale Bürger, denen, wie zum Beispiel den Kriegsveteranen, Leistungen versagt bleiben.
Politische Terroristen und verwöhnte Kinder
Amerikas Republikaner, schreibt Michael Tomasky in «The Daily Beast» provokativ, seien nicht Geiselnehmer, sondern «politische Terroristen». Sie anders zu nennen wäre naiv. «Wenn Geiselnehmer ihre Forderungen erfüllt sehen, so lassen sie ihre Geisel frei», argumentiert der liberale Kolumnist: «Wer aber glaubt heute noch, dass die Republikaner ihre Geisel je freilassen werden? Nein – falls die Demokraten zu verhandeln bereit sind, werden ihre Forderungen nie aufhören.» Jede wichtige Gesetzesvorlage wäre ein Anlass mehr für unerhörte Forderungen.
Dabei stört es laut Tomasky die Republikaner nicht, wenn sie an Beliebtheit einbüssen – solange das auch Barack Obama widerfährt. Letzten Meinungsumfragen zufolge billigt heute nur noch jeder zehnte Amerikaner die Arbeit der Politiker im Kongress. Sieben von zehn Befragten machen die politische Kultur in Washington DC – genauer gesagt «politische Führer, die nicht zusammenarbeiten» – für Amerikas Wirtschaftsmalaise verantwortlich.
Das Hickhack und der Stillstand in der Hauptstadt, so die Bürgerinnen und Bürger, seien schlimmer als strukturelle Wirtschaftsprobleme wie das Outsourcing, die wachsende Lohnschere oder steigende Gesundheitskosten. Teilnehmer einer von CNN mit in Auftrag gegebenen Umfrage finden, Amerikas gewählte Volksvertreter würden eher wie «verwöhnte Kinder» denn als «verantwortungsbewusste Erwachsene» agieren.
Michael Tomasky bezichtigt die Republikaner sogar der Mentalität von politischen Selbstmordbombern sowie des totalitären Denkens. Sie würden sie sich vor dem Untergang nicht fürchteten, solange sie auch Barack Obama mit herunterziehen könnten: «Genau so denken Selbstmordattentäter. Ich werde zwar sterben, aber einige Ungläubige mit in den Tod nehmen. Für sie (die Republikaner) und ihre Basis ist Obama der schlimmste aller Ungläubigen und Obamacare (die Gesundheitsreform) der grösste Frevel. Was immer sie tun können, um den Präsidenten schlechtzumachen, halten sie für eine gute Sache.»
Vernebelung mit System
Es gebe zudem, schliesst der Kolumnist, keine sicherere Methode, um sich nach einem Verbrechen unbemerkt und ungestraft davonzustehlen, als den politischen Gegner genau jener Delikte zu bezichtigen, die man selber begeht. So habe etwa John Boehner, Mehrheitsführer der Republikaner im Abgeordnetenhaus, am Wochenende gesagt, der Senat (den die Demokraten kontrollieren), werde die Nation wissentlich an den Rand des Abgrunds einer Regierungslähmung führen, falls er den Forderungen der grossen Kammer nach einem Aufschub von Obamacare nicht zustimme.
«Man braucht nicht einmal (George) Orwell gelesen zu haben, um zu erkennen, dass dies quasi-totalitäre Aussagen sind, die auf Vernebelung und der Gutgläubigkeit der Öffentlichkeit beruhen», so Michael Tomasky: «Jene, die vernebeln, wissen nur zu genau, dass die meisten Amerikaner nicht innehalten werden, um zu realisieren, wie skandalös ihr Standpunkt ist.»
Die Republikaner würden versuchen, ein Gesetz rückgängig zu machen, das von einer Mehrheit verabschiedet und vom Obersten Gericht bestätigt worden sei, als sei das die normalste Sache in der nationalen Politik, als sei das erst mal eine akzeptable Taktik. Sie wüssten auch, dass etliche Amerikaner (obwohl nicht alle) dumm und denkfaul genug seien, um die Schuld am Shutdown in Washington DC beiden Parteien zu gleichen Teilen anzulasten.
Auswirkungen des Shutdown
Derweil ist in Washington DC, von jubilierenden Republikanern abgesehen, die Stimmung nicht die allerbeste. Gemäss Ökonom Stephen Fuller dürften die Hauptstadt und ihre Agglomeration jeden Tag 200 Millionen Dollar an Einnahmen verlieren, solange die Lähmung der Bundesverwaltung anhält: «Die nationale Wirtschaft wird vom Shutdown nicht viel merken, es sei denn, er dauere drei oder vier Wochen. Für die Region Washington aber ist das ein Tsunami.»
Dabei sind bei Fullers Schätzung die Einbussen im Tourismus nicht mit berücksichtigt: So sind etwa alle Museen der Smithsonian Institution sowie andere Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt wie der National Zoo, die Kriegsgedenkstätten oder die nahen Schlachtfelder aus der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs geschlossen. Zur Konsternation vieler Kinder ist selbst die «panda cam» des Zoos abgeschaltet worden, eine Kamera, dank der sich im Internet das Aufwachsen eines noch namenlosen weiblichen Baby Pandas beobachten liess.
Der Ökonom schätzt, dass unter den 377‘000 Bundesbeamten, die in oder um Washington DC leben, 60 Prozent «entbehrlich» sind und auf Zusehen hin nichts verdienen werden. Stephen Fuller mutmasst ausserdem, dass 20 Prozent jener Unternehmen, die Dienstleistungen für die Regierung erbringen, von der Lähmung der Bundesverwaltung betroffen sind. Diese Firmen setzten im vergangenen Jahr dank Regierungsaufträgen rund 75 Milliarden Dollar um.
Washingtons 32‘000 städtische Angestellte jedoch sollen weiter arbeiten, obwohl die Hauptstadt aus historischen Gründen unter der Aufsicht des Kongresses steht. Anders als beim Shutdown 1995/96 soll dieses Mal die Müllabfuhr ungestört funktionieren, sollen städtische Büros wie etwa die Motorfahrzeugkontrolle oder die Bauabteilung offen bleiben. Der demokratische Bürgermeister Vincent Gray hat für diesen Fall extra 144 Millionen Dollar zurückgestellt, um der Stadt mindestens noch zwei Wochen der Normalität bescheren zu können. Noch ist unklar, ob das Weisse Haus einer solchen Lösung zustimmen wird.
Aufblühender Galgenhumor
Kein Wunder auch, dass in Washington DC der Galgenhumor blüht. Die lokale «Post» hat Leserinnen und Leser aufgefordert, der Zeitung mitzuteilen, wie man die Nichtstuer im Kongress bestrafen könnte. Abgeordnete und Senatoren sollten auch nicht mehr bezahlt werden, meint ein Hoteldirektor. Wenn er seinen Job nicht mache, würde er ihn verlieren.
Ein IT-Aufseher fordert, den Parlamentariern Strom, Wasser, Air Condition sowie das Internet abzustellen. Ähnliches befürwortet eine Mutter dreier Kinder, die verlangt, den Politikern im Kongress die Fernsehkameras, «die Nabelschnur für ihren Ehrgeiz, ihre Egos und ihre Theatralik», vorzuenthalten. Ein Anwalt indes schlägt vor, den Politikern die Augenlider festzukleben und sie zu zwingen, sich ein 24-stündiges Webinar anzuschauen, welches das Leben von Hirn verzehrenden Süsswasserparasiten dokumentiert. Eine Französischlehrerin schliesslich rät der «Washington Post» auf «frankophile» Weise: «Köpfe ab.» Die ironische Replik des Blattes: «Mais oui.»
Quellen: «The Washington Post»; «The New York Times»; «The Daily Beast», «Time»