„Der Besuch der alten Dame“ wurde am 29. Januar 1956 in Zürich uraufgeführt. Das ist lange her. Derzeit, so scheint es, hält sich die alte Dame, Frau Claire Zachanassian, die dank ihrer Heirat mit einem superreichen armenischen Ölmagnaten selber superreich geworden ist, immer noch oder wieder in Güllen auf, dieser Kleinstadt, in der die Tragikomödie spielt.
Die Macht der Versuchung
Frau Zachanassian ist die grosse Hoffnung der Güllener. Sie stellt ihnen eine Milliarde in Aussicht. Eine Milliarde! Aber nicht einfach so, nicht einfach als bedingungslosen Zustupf. Sie will etwas dafür. Sie will Rache an jenem Güllener, der sie, als sie selber noch in Güllen wohnte und Kläri Wäscher hiess, geschwängert, seine Vaterschaft geleugnet und die Schwangere ins Unglück, in die Prostitution getrieben hatte.
Der Deal, den Frau Zachanassian, geb. Wäscher, anbietet: Eine Milliarde gegen den Tod des Schwängerers Alfred Ill, der in Güllen einen wenig erfolgreichen Krämerladen führt.
Kommt nicht in Frage, antworten die Güllener und verweisen auf ihre Werte, Überzeugungen, humanitären Traditionen, auf Goethe und Schiller. „Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt“, verkündet Güllens Bürgermeister theatralisch. Doch die Versuchung ist mächtiger. Die Güllener beginnen sich zu verrenken, korrigieren ihre Überzeugungen, justieren ihre Werte, buckeln und kriechen vor der reichen Claire Zachanassian und bedrängen, gestützt auf ihre revidierten Moralvorstellungen, den einstigen Schwängerer Ill, er möge sich seinem Schicksal fügen, schliesslich gehe es um das Wohl der Allgemeinheit, um die Milliarde.
Die Verrenkungen unserer Elite
Folgt man den Wortgefechten, die hier und jetzt in unserem helvetischen Güllen zur USR III ausgetragen werden, wähnt man sich mitten in einer Aufführung von Dürrenmatts Tragikomödie. Es geht zwar nicht um einen Schwängerer oder eine rachsüchtige Dame. Wohl aber um Geld. Und man verrenkt sich wie einst in Güllen, man baut einen Werkzeugkasten, wie man das bodenständig nennt, und legt neues Werkzeug hinein, das dafür sorgen soll, dass das fremde Geld der Zachanassians und Konsorten unseren heimatlichen Boden ja nicht verlässt.
Was es mit den Patentboxen, der zinsbereinigten Gewinnsteuer, der Dividendenteilbesteuerung oder der Input-Förderung, also diesen wundersamen Werkzeugen, genau auf sich hat, verstehen zwar die wenigsten. Aber das spielt auch keine Rolle, Hauptsache, das Geld bleibt, wo es ist, und zieht womöglich noch mehr an.
Das „gute“ und das „böse“ Fremde
Die Vehemenz, mit der die Befürworter der USR III auf die Barrikaden steigen, wirft ein eigenartiges Licht auf unser Land. Beflissen, beinahe servil, streicht man den Multis, den mobilen und globalen Investoren um den Bart, kümmert sich um ihr Wohl und Wehe, tastet ab, welche Steuern sie goutieren und wann der Punkt erreicht sein könnte, an dem ihre Zuneigung kippt.
Als stünden unsere Bundesräte, der Finanzminister, die Finanzdirektoren und die so genannt gutbürgerlichen Politiker vollständig im Bann der grossen, internationalen Marktleader. So viel Fremdenfreundlichkeit ist gewöhnungsbedürftig.
Willfährigkeit und Anpassung
Die Vehemenz – garniert mit Drohungen an die USR III-Kritiker, ein Nein führe geradewegs in die Katastrophe – offenbart aber auch die Abhängigkeit vom grossen fremden Geld. Eigentlich wäre zu erwarten, die rechtsnationalistische AUNS, die das Postulat der Unabhängigkeit des Landes in ihrem Namen führt, würde ihre Stimme gegen so viel Willfährigkeit und Anpassung erheben. Doch hat jemand ein Wörtchen des Widerspruchs von dieser Seite gehört?
Tragikomisch – oder echt „güllerisch“ – mutet die SVP an, deren Exponenten zuoberst auf den Barrikaden und am lautesten für die USR fechten. Die Partei ist nicht dafür bekannt, dass sie dem Fremden gewogen wäre. Flüchtlinge? Lieber keine. Fremdarbeiter? Abbauen. Fremde Richter? Des Teufels. Internationale Konzerne, Rohstoffmultis, hoch mobile Holdings? Das ist etwas ganz anders: Das ist das „gute“ Fremde. Klopft das „gute“ Fremde an, verkümmert das patriotisch und mythisch überhöhte SVP-Bild der Schweiz merkwürdig flink zu einem „attraktiven Standort“. Und der unbändige Unabhängigkeitswille unserer Patrioten wird auch etwas leiser, obwohl gerade dieses „gute“ Fremde nicht selten und ziemlich robust diktiert, wo es auf dem Standort lang gehen soll – ganz ähnlich wie die alte Dame zu Besuch in Güllen.