Dreimal weilt Goethe in der Schweiz, und dreimal erklimmt er den St. Gotthard, diesen „helvetischen Sinai“, wie der Literat Peter von Matt ihn bezeichnet. Immer von Norden her: 1775, 1779 und 1797. Jede Reise ist für ihn eine Flucht; er will sich selbst finden.
Schicksalsberg
Es geht Goethe stets ums Gleiche: dem „Rätsel der eigenen Existenz“ begegnen – in verschiedenen Lebensphasen. „Man reist nicht, um anzukommen, man reist, um zu reisen“, so seine Erkenntnis. Man reist zu sich selbst, in die eigene Innenwelt. Der Gotthardpass wirkt metaphorisch: Hier trennen sich Wasser, Wetter, Welten. Der Gotthard – ein Wendepunkt. Das ist er auch für Goethe. Dreimal endet hier seine Reise, dreimal kehrt er um. Geografisch wie existenziell.
Der Gotthard lässt ihn nicht los. Firne und Felsen fesseln ihn. Dieser „heilige Berg“ ist so etwas wie Goethes Schicksalsberg. In der urgewaltigen Gotthardlandschaft, diesem „königlichen Gebirge“, fallen ihm Motive und Szenen zu. Hier befindet sich auch der Schauplatz jener bekannten Sage, die Goethe zum Leitmotiv seiner Tragödie Faust I macht: Fausts Wette mit Mephisto und der Einsatz seines Seelenheiles. Das kühne Schöllenenbrücklein konnte nach menschlichem Ermessen nur mit höllischer Hilfe erbaut worden sein – eben: ein Teufelswerk. Und für diesen Teufelspakt forderte der Fürst der Finsternis die Seele des Ersten, der sie überquerte. Die witzigen Urner schickten der Sage nach einen Geissbock über den Steg. Noch 1831, als Goethe seinen „Faust II“ fertigstellt, zehrt er vom Gotthard. Ein bewegtes langes Leben lang.
Auch Goethes zweite Schweizer Reise von 1779 führt zu diesem Wallfahrtsort. Sie verläuft dramatisch und „hätte gut die letzte des damals Dreissigjährigen sein können, und der Werther sein einziges bekanntes Werk“, schreibt der Schriftsteller Adolf Muschg. (1)
Ein Fürstendiener sucht sich selbst
Goethe bricht mit seinem jungen Dienstherrn, Herzog Carl August von Sachsen-Weimar, zu einer Bildungsreise auf, innerlich gedrängt von der Frage: Was soll ich als Minister in Weimar? Er reist inmitten seiner Weimarer Lebenskrise, auch diesmal auf der Suche nach Emanzipation von seiner Rolle als Fürstendiener. Beide sind deshalb inkognito unterwegs. Goethe als ein gewöhnlicher Herr Weber.
Der Weg führt von Frankfurt nach Basel und Bern ins Berner Oberland. Dann an den Genfersee und das ganze Wallis hinauf – mit dem St. Gotthard als Ziel. Und immer wieder die bange Frage: Wie gelangt man im Winter durchs grosse Gebirge auf den Gotthard? Und das samt Gepäck!
Am 11. November 1779 kommen Goethe, Herzog Carl August und ihr Reitknecht Blochberg, genannt Jäger Hermann, von Brig her ins Goms. Mit ihren zwei Pferden und einem Maulesel überwinden sie die Talstufen bei Grengiols und nach Fiesch und steigen hoch in die weite, breite Obergommer Talkammer mit ihren „mannigfaltig gebogenen Hügeln“ und den schönen, nahrhaften Matten. Hier „liegen hübsche Örter, die mit ihren dunkelbraunen hölzernen Häusern gar wunderlich unter dem Schnee hervorgucken“, schreibt der Dichterfürst abends ins Tagebuch und fügt bei: „Wieder einen glücklichen und angenehmen Tag zurückgelegt!“ (2)
Goethe und sein Gefolge übernachten in Münster, im Hotel „Zum Goldenen Kreuz“. Das „Croix d’Or et Poste“ ist heute der älteste Walliser Gasthof. Am folgenden Tag ziehen sie in aller Frühe weiter. In Oberwald entlassen sie den Mauleseltreiber, verpflichten einen Führer und als Gepäckträger einen gross und stark aussehenden Mann, wie Goethe in seinen Notizen bemerkt und beifügt: Er scheint „die Stärke und Tapferkeit eines Rosses zu haben“. Zu fünft überqueren sie die Furka und kommen „bei einbrechender Nacht“ erschöpft im Urserental an – im einsamen Kapuzinerhospiz von Realp.
Die ödeste Gegend der Welt
Hier notiert und rubriziert Goethe seine Impressionen. Der Weg führt den kleinen Trupp zuerst durch „das beschneite Amphitheater der hohen Gebirge“ und dann in einer eindrücklichen Tour de Force über die tief verschneite Furka, immer mit dem Ziel, auf kürzestem Weg den Gotthard erreichen. Nach Oberwald „hatten wir noch einen betretenen Fusspfad, bald aber verlor sich dieser, und wir mussten im Schnee den Berg hinaufsteigen. […] Nunmehr [sahen wir] den Rhonegletscher vor uns. Er ist der ungeheuerste. Er nimmt den Sattel eines Berges in sehr grosser Breite ein, steigt ununterbrochen herunter bis da, wo unten im Tal die Rhone aus ihm hervorfliesst. An diesem Ausflusse hat er, wie die Leute erzählen, verschiedene Jahre her abgenommen; das will aber gegen die ungeheure Masse gar nichts sagen. […] Wir gingen ganz nahe daran hin.“
Eindrücklich skizziert Goethe das Einsame und Verlassene der winterlichen Furka: „Es war ein seltsamer Anblick, wenn man einen Moment seine Aufmerksamkeit von dem Wege ab und auf sich selbst und die Gesellschaft wendete: in der ödesten Gegend der Welt und in einer ungeheuren, einförmigen, schneebedeckten Gebirgswüste, wo man rückwärts und vorwärts auf drei Stunden keine lebendige Seele weiss, wo man auf beiden Seiten die weiten Tiefen verschlungener Gebirge hat, eine Reihe von Menschen zu sehen, deren einer in des andern tiefe Fussstapfen tritt, und wo in der ganzen glatt überzogenen Weite nichts in die Augen fällt als die Furche, die man gezogen hat. Die Tiefen, aus denen man herkommt, liegen grau und endlos im Nebel hinter einem.“
Die neun- bis zehnstündige Tour über die Furka ist „ein eigentlicher Feldzug gegen alle Elemente, die sich ihnen entgegenstellen“, schreibt Goethe später und fügt bei: „Es ist die ärgste Strapazz, die ich je ausgehalten.“ „Ein Schindluder“ sei die Furka, jammert Goethes Reitknecht Blochberg. Novemberkälte, Nebel, Schneefall, Lawinengefahr, knietiefes Einsinken, Marsch über vierzig Kilometer, zweitausend Meter Höhendifferenz. Goethe, sein Herzog und ihre kleine Kolonne versteigen sich dabei in alpine Gefilde, in denen sie Gott eher zu versuchen als zu suchen scheinen. (3)
Im Domizil der Kapuzinerpatres von Realp finden die erschöpften Bergpilger glücklich Unterschlupf. Anderntags geht es zur Passhöhe des Gotthard. Im Blick auf das Erlebte gleicht der Aufstieg aus dem Urserental fast schon einem Sonntagsspaziergang.
Die grosse Ruhe
Goethe schätzt beim Gehen die grosse Stille, die grosse Einsamkeit. Er sucht diese Magie, will das Gebirge als Landschaft in sich aufnehmen, auf die stumme Gegenwart der Berge hören. „Über allen Gipfeln ist Ruh’“, so beginnt sein Gedicht „Wandrers Nachtlied“.
Die erhabene Ruhe über den Gipfeln ist ein Nachhall auf Goethes Eindrücke vom grossen Schweigen in den Bergen. Nicht umsonst spricht er von „der unglaublichen Ruhe, in welcher die kleinen Kantone hinter ihren Felsen versenkt liegen“. Diese Landschaft lässt ihn nicht los. Er besucht sie wieder – 1797, kurz vor dem Untergang der Alten Eidgenossenschaft.
(1) Adolf Muschg (2017): Der weisse Freitag. Erzählung vom Entgegenkommen. München: Verlag C.H. Beck oHG, Umschlag.
(2) Goethes Schweizer Reisen (1958), hrsg. von Paul Stapf. Einleitung von Ernst Merian-Genast. Basel und Stuttgart: Birkhäuser Verlag, S. 90. Die folgenden Zitate stammen aus dem gleichen Werk.
(3) Adolf Muschg (2004): Von einem, der auszog, leben zu lernen. Goethes Reisen in die Schweiz. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 29