Drei Krisen erschüttern im Moment Europa und damit die EU: Griechenland einschliesslich der Eurokrise, die Migrationskrise und die Vertrauenskrise in VW. In allen drei spielt Deutschland, gegenwärtiger Klassenprimus in Europa, die Hauptrolle. Berlin ist dabei oft unter heftige Kritik geraten. Was zeigt aber eine nüchterne Analyse?
Griechenland
Griechenland ist lediglich ein, wenn auch gewichtiger Teil der Eurokrise, hat allerdings im Gegensatz zum Rest von Südeuropa die Lehre aus seiner leichtfertigen Verschuldung mit Euro-Manna bislang noch nicht gezogen. Dies wird sich in der Folge der letzten Wahl nun hoffentlich ändern. Sie hat gezeigt, dass Griechenland im Euroraum bleiben will - weniger als 10 Prozent der Wähler waren für „Drachme-Parteien“. Offensichtlich wird dem neuen Besen Syriza noch immer vertraut. Aber allen Parteien fehlt die nötige Basis in der Zivilgesellschaft, um neben der Austerität auch die tiefgreifende Reformagenda im dritten Unterstützungspaket der EU umzusetzen.
Auf Tsipras wartet nun - hier sind tatsächlich die abgegriffenen Wendungen aus der griechischen Sagenwelt am Platz - die herkulische Aufgabe, den Augiasstall des traditionellen Klientelstaates Griechenland mit seiner wuchernden Korruption und dem massenhaften Steuerbetrug auszumisten. Ob Athen nun endlich die „Lagarde-Liste“ mit den griechischen Steuerbetrügern in Genf ensthaft in Angriff nimmt, wird ein Gradmesser der Reformehrlichkeit sein. Apropos: Ebenfalls auf dem Prüfstand befindet sich hier die neue helvetische Glasnostpolitik auf internationaler Finanz- und Fiskalebene.
Migrationsproblem
In der Eurokrise verdient Berlin die Note "gut". Wer, wenn nicht Deutschland mit seinem wirtschaftlichen Gewicht und seinen grundsätzlich bereits erledigten Hausaufgaben wie den Harz-Reformen, war in der Lage, der galoppierenden Staatsverschuldung in Südeuropa, ohne Investitionsgegenwert, einen Riegel zu schieben? Internationale Kritik, auch von namhaften Ökonomen in den USA, verkennt, dass ohne Reformen in Griechenland neues, gutes Geld in alte schlechte Kanäle, und nicht zu den wirklich Bedürftigen geflossen wäre.
Komplexer fällt die Bewertung mit Blick auf die erneut in Europa dominante Haltung Berlins bezüglich der politischen Flüchtlinge und Wirtschaftsemigranten aus dem der Schengenzone benachbarten Balkan, aus dem Mittleren Osten und aus Afrika. Aber auch hier verdient Berlin grundsätzlich eine positive Note. Die spontane, herzliche Aufnahme der Vorhut der gegenwärtigen Welle von Migranten in München und in andern deutschen Städten korrigierte etwas das globale Bild der hartherzigen Reichen in Europa. Man kann sich den internationale Aufschrei vorstellen, hätte an deutschen Landesgrenzen dieselben Bilder dominiert wie sie von Orban und Fico an der ungarischen und slowakischen Grenze zu verantworten sind.
Sicherheitspolitik
Natürlich werden nun dringend Lösungen notwendig, um Umfang und Regellosigkeit des Migrantenstromes Herr zu werden. Hier, und nicht an der grundsätzlichen deutschen Aufnahmebereitschaft von Migranten liegt der Hauptgrund, warum Berlin in diesem zweiten Punkt keine uneingeschränkt gute Note verdient. Deutschland sollte endlich auch politisch eine europäische Hauptrolle übernehmen, um die für die Lösung des Migrationsproblems notwendige harte Sicherheitspolitik in Gang zu setzen. Das bedeutet wirtschaftliche und finanzielle sowie militärische Zwangsmassnahmen gegen die jüngste Riesenkrake der grenzüberschreitenden Kriminalität: die Drahtzieher und Profiteure der Migration.
Nun bemüht sich Brüssel als ausführendes Organ der gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik der EU seit einiger Zeit, eine Uno-Resolution zustande zu bringen, die ein militärisches Vorgehen gegen Schlepper im Mittelmeer erlaubt. Das blieb bislang offensichtlich ohne Erfolg, weil afrikanische Staaten blockieren. Dazu gehören wohl jene, welche vom Menschenhandel direkt - Korruption auch auf höchster Ebene wie beispielsweise in Eritrea - oder indirekt durch Verminderung des Bevölkerungsdruckes profitieren, indem sie um die an sich notwendigen Reformen scheinbar herumkommen.
Koalition der Willigen
Hier wird die Notwendigkeit einer „Koalition der Willigen“ offensichtlich, welche zur Not auch ohne ausdrückliche Resolution tätig wird. Dieser Koalition sollten sich alle europäischen Länder nach Massgabe ihrer Mittel anschliessen.
Die beiden traditionellen europäischen Militärmächte Frankreich und Grossbritannien haben bislang gezögert, mit harten Massnahmen die Migrationskrise und speziell ihre Ursachen zu bekämpfen. Paris hat immerhin mit der Freigabe von ISIS-Zielen für Luftangriffe auch in Syrien und nicht nur im Irak einen ersten Schritt geran. Beide Länder verhalten sich indes bei der Aufnahme von Migranten eher skandalös.
Frankreichs Premierminister Manuel Valls hat an einer grossen TV-Diskussion eben kategorisch ausgeschlossen, dass Paris über sein Kontingent an der ersten europäischen Verteilung von 120’000 hinaus weitere Migranten aufnehmen werde. Dies ungeachtet der Tatsache, dass sich bekanntlich ein Vielfaches dieser ersten Gruppe bereits in Europa befindet.
Der VW-Skandal
Eine insulare, zunehmend europaferne Spur verfolgt Cameron in London. Kürzlich hat er die Aufnahme eines ersten Kontingents von syrischen Flüchtlingen angekündigt. Das stammt allerdings ausschliesslich aus Lagern im Mittleren Osten. Als wüsste er nicht, dass sich das dringendste Problem in Calais und nicht im Libanon stellt.
Schlechter fällt die Zensur für Deutschland mit Blick auf den skandalösen Abgasbetrug von VW aus. Wolfsburg hat damit nicht nur seiner eigenen Marke, sondern auch der deutschen und darüber hinaus der europäischen Glaubwürdigkeit schwersten Schaden zugefügt. Das gilt für die technologische Fertigkeit, aber auch für die Umweltpolitik anbelangt.
Wie konnte eine solche Dummheit passieren mit einem Aufsichtsrat, dem nicht nur kurzfristigem Gewinn verpflichtete Manager, sondern auch Vertreter der Gewerkschaften und des Staates angehören? Das grundsätzlich zu Recht gepriesene deutsche Modell der Mitbestimmung hat hier kläglich versagt.
Vieles deutet darauf hin, dass der VW-Betrug sich weder auf die Marke noch auf Deutschland beschränkt. Falls dies zutrifft, hätte mit der Automobilindustrie innerhalb von rund zehn Jahren die dritte globale Wirtschaftssparte - nach der Finanzindustrie mit ihren Krisen und der Energieindustrie mit ihren Umweltskandalen - ihr öffentliches Vertrauenskapital verspielt. Ganz offensichtlich läuft in der Welt des Managements einiges grundsätzlich falsch. Hier werden staatliche Massnahmen nötig sein, da der Markt zur Selbstregulierung nicht fähig zu sein scheint.
Bei genauem Hinsehen verdient Deutschland als „chef de file“ in Europa zwar eine gemischte, insgesamt aber durchaus genügende Note. Solange andere europäische Grossmächte weder willens noch fähig zu sein scheinen, ihrem Gewicht entsprechende gesamteuropäische Verantwortung zu übernehmen, wird Berlin weiterhin die Hauptbürde tragen. Europa könnte schlechter fahren.